Predigt zum österlichen Seelengedenktag / Radonitsa (11.05.2021)

Liebe Brüder und Schwestern, wenn es einen Tag im Kirchenjahr gibt, an dem das volkstümliche Brauchtum zu seinem Recht kommt, dann ist es wohl der heutige Tag des Gedenkens an die im Glauben Verstorbenen. Es ist ein Tag, der im Typikon gar nicht als Totengedenktag vorgesehen ist, sondern quasi auf Volksinitiative entstanden ist und seither kultiviert wird. Schon der heilige Bonifatius (+ 854) beschwerte sich über „heidnische“ Gebräuche der germanischen Christen seiner Zeit, weil sie über den Gräbern ihrer Verstorbenen „Festgelage“ abhielten. Dieser Brauch mag damals gegen die kirchlichen Vorschriften bzw. Konventionen verstoßen haben (vgl. Mt. 15:1-6; Mk. 7:1-5), doch er zeugte dafür von ungekünstelter Volksfrömmigkeit. Es war ein Bedürfnis unserer Vorfahren, die Freude der Auferstehung mit ihren entschlafenen Verwandten und Vorfahren zu teilen. Ist es nicht ein herzerfrischendes Zeugnis von Einmütigkeit durch Jahrhunderte getrennter orthodoxer Christen über Landesgrenzen und kulturelle Eigenartigkeiten hinweg, das uns besagte Parallelität offenbart?! Mir scheint, dass diese Einfalt des Herzens, die schon die ersten Christen der Jerusalemer Urgemeinde ausgezeichnet hatte (s. Apg. 2:46), auch ein Merkmal der Heiligen der ersten (vorsintflutlichen) Welt gewesen ist (s. Gen. 5:22,24; 6:8-9). Nachdem die Urahnen das einzige von Gott gegebene Gebot (s. Gen. 2:17) gebrochen hatten, lebten ihre Nachkommen bis zu dem Tag, als Gott dem Mose die Gesetzestafeln aushändigte, ohne ein geschriebenes Gesetz. Dieses in Stein gemeißelte Gesetz (s. 2 Kor. 3:7) war zwar göttlichen Ursprungs, diente aber nur als Hinleitung zur Annahme des Gesetzes des Geistes für ein Leben in Christus Jesus (s. Röm. 8:2). Die Vertreter der patriarchalen Gesellschaftsordnung aber kannten kein Gesetz, da sie noch mit Gott sprechen konnten, und doch machte die Sünde Kain zum Mörder (s. Gen. 4:7-8); ebenso wenig waren die fleischlich gesinnten Zeitgenossen Noahs schuldlos (s. Gen. 6:1-7,11-13). Selbst die Heiden zu Zeiten des Alten Bundes waren nicht orientierungslos, denn für alle Menschen zu allen Zeiten gab es ein Verantwortungsgefühl (s. Röm. 2:1-16), so dass niemand jemals eine Ausrede für seine Untaten vorbringen konnte. Vor den Aposteln Petrus (s. 1 Petr. 3:16,21) und Paulus (s. Apg. 23:1) wird jedoch das Wort „Gewissen“ nirgendwo in der Heiligen Schrift genannt. Das Idealziel ist ohnehin, durch ein vom Geist erfülltes Leben frei vom Gesetz zu sein (s. Gal. 5:23). So werden wir dem Tag, von dem an für unsere Seelenruhe gebetet wird, mit größter Zuversicht und Einfachheit entgegensehen können. Amen.
Jahr:
2021
Orignalsprache:
Deutsch