Predigt zum 6. Herrentag nach Pfingsten (Röm. 12:6-14; Mt. 9:1-8) (24.07.2022)
Liebe Brüder und Schwestern,
in den Evangelien gibt es Ereignisse, die gleich mehrfach, vornehmlich von den drei Synoptikern Matthäus, Markus und Lukas, in großer Übereinstimmung zueinander geschildert werden. Diese Berichte über die Wundertaten unseres Herrn werden dann auch zweimal im Jahr an den Herrentagen gelesen. Von der Aufrichtung des Gelähmten von Kafarnaum lesen wir z.B. jedes Jahr zum zweiten Herrentag der Großen Fastenzeit (Mk. 2:1-12). Jetzt also, kurz nach Pfingsten, wieder. Demnach muss die Botschaft, die uns mitgeteilt werden soll, eminent wichtig für unser Seelenheil sein. Und deshalb, denke ich, ist es nicht verkehrt, gemeinsam über die offensichtlichen und die verborgenen Lehren aus dieser Episode im Heilswirken des Herrn nachzudenken.
Die Botschaft der Heilung des Gelähmten ist klar: der Herr will uns immer wieder zeigen, dass das Heil der Seele unvergleichlich wichtiger und wertvoller ist, als die Gesundheit und das Wohlergehen des Leibes. Eine Selbstverständlichkeit für jeden Christen, sollte man meinen. Allerdings leben wir in einer Zeit, in der die, welche es mit dem Verstand wissen, oftmals nicht danach handeln, während viele es überhaupt gar nicht wissen wollen. Hinzu kommt, dass das Seelenheil zunehmend weniger im Mittelpunkt der eigentlich dafür bestimmten Predigten steht, in denen es jetzt mehr um soziale, politische oder materielle Belange geht. Deshalb darf die Kirche nicht damit aufhören, die Menschen daran zu erinnern, worum es ihnen wirklich gehen soll. Erst wenn die Menschen das begriffen und in die Tat umgesetzt haben, wird ihnen auch alles andere hinzugegeben werden (s. Mt. 6:33; vgl. Ps. 36:4,25; Röm. 14:17). Mit der richtigen Einstellung zu den zeitlichen Dingen werden wir auch immer mehr die ewigen Ratschlüsse Gottes erkennen können. Der heilige Bischof Ignatij (Briantchaninov, + 1867) schreibt: „Wenn Gott es genehm ist, eine Versuchung zuzulassen, so ist es unmöglich, sich gegen eine solche Versuchung zu wehren, es sei denn durch Geduld“ (aus dem Brief an den Abt des Valaam-Klosters Damaskin vom 26. Juli 1859). Aber woher soll unsereins diese Geduld nehmen?! Wir können uns weder mit unseren tagtäglichen persönlichen Nackenschlägen abfinden, noch mit den schier endlosen Missständen dieser Welt. Da braucht es ja einen ganzen Ozean an Geduld, um nicht zu verzagen.
Was aber lehrt uns die Kirche durch die uns überlieferten Schriften der heiligen Väter? Der heilige Antonios (+ 356), zum Beispiel, lebte in der Wüste. Und doch sah er in einer Vision die Fallstricke des Teufels in dieser Welt, die so hinterhältig und zahlreich waren, dass er, der Verzweiflung nahe, den Herrn fragend anrief, weshalb Er dies alles zulasse. Darauf hin hörte er eine Stimme, die zu ihm sprach: „Antonios, dir ist es nicht gegeben, all diese Dinge zu erkennen. Achte du auf dich selbst!“... Und jetzt kommen wir wieder zurück zu unserem Evangeliumsbericht über die Heilung des auf einer Tragbahre vor den Herrn gebrachten Kranken. Auch hier mag man sich die Frage stellen, weshalb diesem wahrscheinlich noch sehr jungen Mann solch ein Schicksal beschieden war. Denn auch heute klagen die Menschen Gott an, weshalb Er „nichts unternimmt“, wenn, wie es eigentlich immer irgendwo in der Welt der Fall ist, so zahlreiche unschuldige Menschen bei militärischen Auseinandersetzungen sterben. Es ist die immer wiederkehrende Problemfrage der Theodizee, die in dieser Welt nicht hinreichend beantwortet werden kann.
Aber ist es unsere Aufgabe, darüber zu befinden, was gerecht und was ungerecht ist? Der Mensch ist nie gerechtfertigt vor Gott; er ist vielmehr stets Sein Schuldiger: „An Dir allein sündigte ich, und das Böse vor Dir tat ich – damit Du gerechtfertigt würdest in Deinen Worten und siegtest in Deinem Richten“ (Ps. 50:6). Ohne Zweifel sind die heute Leidtragenden widriger Umstände nicht sündhafter als wir oder andere, denen es heute gut geht; doch schon morgen kann es ganz anders aussehen (vgl. Lk. 13:1-5). Was also will uns der Herr damit sagen, wenn Er dem Darniederliegenden zuerst die Sünden vergibt, und danach die körperliche Gesundheit schenkt? - Dass Er barmherzig und gut ist; dass Er unsere Umkehr erwartet. Wenn wir uns das Leiden des Gelähmten von Kafarnaum vorstellen, dann können wir zu unserem Seelenheil a) in dessen körperlichen Gebrechen ein Sinnbild unserer seelischen Krankheit erkennen, und b) alle Widrigkeiten des zeitlichen Lebens als völlig verdient und heilbringend für uns betrachten, weil sie uns noch vor dem furchtbaren Gericht des Weltenherrschers ereilen. Denn das, was uns danach erwartet, wenn wir uns nicht durch ein Leben in Christus und durch die Teilnahme an den Mysterien der Kirche darauf vorbereitet haben, kann mit Worten gar nicht ausgedrückt und mit Gedanken nicht erfasst werden. Selbst das schlimmste irdische Leid ist eine absolute Kleinigkeit im Vergleich dazu. Hier können wir uns in der Bedrängnis durch Geduld bewähren und so die Hoffnung nähren, welche die Liebe Gottes in unseren Herzen durch den Heiligen Geist wachsen lässt (s. Röm. 5:3-5); dort gibt es keine Möglichkeit mehr, durch den Glauben die Gnade zu erlangen (s. 5:2). Das ständige Gedenken an das unausweichliche Strafgericht Gottes hilft uns aber, allzeit bereit und wachsam zu sein, indem wir uns als völlig entkräftete und hilflose Sünder betrachten, die durch die Gebete der Kirche und durch den Glauben der uns Liebenden getragen die Vergebung unserer unzähligen Schulden geschenkt bekommen – und dadurch auch Erlösung von den völlig zurecht über uns gekommenen Notleiden erlangen (vgl. Mt. 9:2). Gott ist gerecht, denn für alle gibt es eine adäquate Vergeltung. Gott ist aber auch barmherzig, denn all dem können wir noch rechtzeitig entkommen, wenn wir Seinen Willen erfüllen (s. Ps. 83:12). Was also wollen wir denn noch?!.. Amen.
Details Eintrag
Jahr:
2022
Orignalsprache:
Deutsch