Predigt zum 24. Sonntag nach Pfingsten (Eph. 2: 14-22; Lk. 13: 10-17) (08.12.2013)

Liebe Brüder und Schwestern,                           

am heutigen Sonntag erzählt uns der Evangelist Lukas, wie der Herr am Sabbat eine Synagoge besucht und dort eine Frau heilt, die seit achtzehn Jahren einen gekrümmten Rücken hatte. Damit ruft der Herr den Unmut des Synagogenvorstehers hervor, der sich darüber empört, dass Jesus aus Nazareth in seinen Augen den Sabbat nicht achtet: „Sechs Tage sind zum Arbeiten da. Kommt also an diesen Tagen und lasst euch heilen, nicht am Sabbat“ (Lk. 13: 14). Ehrlich gesagt, ist aus menschlicher Perspektive nicht leicht zu verstehen, warum der Herr die Frau ausgerechnet am Sabbat heilt. Wenn ich mich mal, ganz ketzerisch, in die Lage des Herrn versetzen könnte, ich würde wohl aus Rücksicht auf die anwesenden Schriftgelehrten nicht von mir aus auf Konfrontationskurs gehen. Der von einem Dämon geplagten Frau würde ich sagen: „Komm morgen wieder, dann mache ich dich wieder gesund“, - und ich glaube, sie würde noch diesen einen Tag bereitwillig ausharren. So wäre allen geholfen und der gesellschaftliche Frieden bliebe gewahrt. Aber stattdessen provoziert der Herr den Unwillen des Synagogenvorstehers und wohl zahlreicher anderer Gleichgesinnter: „Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke?“ (13: 15).

 

Warum tut der Herr das? - Er hätte es Sich doch auch leichter machen können.

 

Es scheint offensichtlich, dass Ihm nicht viel an einschmeichelnder Diplomatie liegt, die ja immerzu bestrebt ist, es allen recht machen zu wollen. Dass dieses, aus humanistischer Sicht, nachvollziehbare Verlangen zumindest nicht immer dem Geiste des Evangeliums entspricht, zeigte auch der neuberufene Apostel Paulus, der seinerzeit den älteren und renommierteren Apostel Petrus in Antiochia vor der versammelten Gemeinde dafür bloßstellte, dass dieser zuerst mit den Heidenchristen gegessen hatte, dann aber, als die Leute aus dem Kreis um Jakobus (also Judenchristen) aus Jerusalem eingetroffen waren, sich von ersteren trennte, da er die Beschnittenen fürchtete (s. Gal. 2: 11-21).

 

Wie wir aus den vier Evangelien wissen, ist dem Herrn nichts so zuwider, wie Heuchelei. Aus diesem Grunde legt Er den Finger in die Wunde und gießt zusätzlich Öl ins Feuer, um die Heuchelei der Pharisäer und Schriftgelehrten allen erkenntlich zu machen. Und eben darum geht es in der heutigen Erzählung.

 

Über die Motivation Christi schreibt der Apostel Paulus in der heutigen Apostellesung: „(Christus) ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) und riss durch Sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder. Er hob das Gesetz samt seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in Seiner Person zu dem einen neuen Menschen zu machen“ (Eph. 2: 14-15). Der Konflikt mit den heuchlerischen Pharisäern war also Teil einer Gesamtstrategie, deren Endziel der Friede zwischen Juden und Heiden war. „Heiden“ mussten demnach nicht erst „Juden“ werden, denn das Heil bestand für sie im „Sterben Christi“, das die trennende Wand niedergerissen hatte.

 

Christus „hob das Gesetz auf“...  An anderer Stelle sagt der Herr jedoch von Sich selbst: „Denkt nicht, Ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage Ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist“ (Mt. 5: 17-18).

 

Hat der Herr Jesus Christus das Gesetz des Alten Bundes nun aufgehoben oder nicht?

 

Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs liegt eben gerade in dem erwähnten Umstand, dass Christus das Gesetz nicht aufhob, sondern es erfüllte. Damit hat das Gesetz (und vor allem der Buchstabe des Gesetzes) ausgedient. Das Gesetz und die Propheten, die zu Zeiten des Alten Testaments ihre Funktion hatten, haben mit der Ankunft des von ihnen verheißenen Messias ihre Schuldigkeit getan: „So hat uns das Gesetz in Zucht gehalten bis zum Kommen Christi, damit wir durch den Glauben gerecht gemacht werden. Nachdem aber der Glaube gekommen ist, stehen wir nicht mehr unter dieser Zucht“ (Gal. 3: 24-25). Von nun an stehen wir „nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade“ (Röm. 6: 14).

 

Wie wirkt aber diese Gnade Gottes, unter der wir uns nun befinden?

Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Frage nach der (Un-?) Auflösbarkeit des Gesetzes. „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat. Deshalb ist der Menschensohn Herr über den Sabbat“ (Mk. 2: 27-28).

 

Kaum irgendwo wird deutlicher, als in dem heutigen Beispiel der Heilung am Sabbat, worum es uns bei der Befolgung der „in Stein gemeißelten Gebote“ gehen sollte: Christus „hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstaben, sondern des Geistes“ (2 Kor. 3: 6, 7)

 

Ebenso deutlich sehen wir das am Beispiel der Frau, die beim Ehebruch auf frischer Tat erwischt wurde (s. Jh. 8: 3-11). Nach dem Gesetz sollte sie sterben, (wie übrigens auch der Mann, mit dem sie Ehebruch begangen hatte, - s. Dtn. 22: 22-14, - der offenbar im vorliegenden Fall aber von niemandem angeklagt wurde).

Hier war der Herr, anders als in der Synagoge am Sabbat, wo Er sich bewusst in die Konfliktsituation hinein manövriert hatte, ohne eigenes Dazutun in einer Zwickmühle: Hätte Er auf die beharrlichen provokativen Fragen der Pharisäer, was nun mit der Frau geschehen solle, geantwortet: „Gesetzt ist Gesetz, also muss Sie sterben“ - hätten sie alle gesagt: „Da haben wir es: Er predigt überall die Liebe zu den Feinden und die Vergebung der Sünden, hier aber willigt Er ein, dass diese Frau gesteinigt wird!“ …  Hätte Er hingegen gesagt: „Das Gesetz Mose interessiert Mich nicht, das war gestern“ - hätten sie Ihn als Gesetzesübertreter und Verächter der Propheten hingestellt.

So aber erwiderte der Herr, ohne das Gesetz (formal) außer Kraft zu setzen (denn ohne Regeln und Normen kann im Diesseits nichts funktionieren): „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“ (Joh. 8: 7). Damit erfüllte Er das Gesetz – und zwar zum Wohle des Menschen, nicht zu seinem Verderben, denn das  Heil des Menschen ist das größte Anliegen Gottes, nicht die Erfüllung der „Frömmigkeitsnorm“ durch Eiferer des Gesetzes.

 

Was ist aber, wenn versucht wird, mithilfe des Gesetzes Böses zu tun oder gar Unrecht zu rechtfertigen? Hat nicht die Schlange im Garten Eden schon von dieser Arglist Gebrauch gemacht, als sie das Wort Gottes zum Nachteil des Menschen auslegte (s. Gen 3: 1-6)?!

 

Und welche Bewandtnis hat die jahrhundertealte Anti-Heuchelei-Kampagne, mit der die Kirche uns durch die Sonntagslesungen aus der Heiligen Schrift konfrontiert, für unser heutiges kirchliches Leben? Jeder wird mir nämlich beipflichten, dass das Potential für individuelles Pharisäertum bei uns allen auch heutzutage enorm ist. Aber das muss jeder mit sich selbst vor Gott ausmachen. Mein Anliegen wird heute sein, die Heuchelei als Kollektiverscheinung zu kennzeichnen, und zwar bei uns – nicht bei anderen. Unser Ziel sollte dabei aber letztendlich immer sein, das Gute und Richtige zu erkennen, und nicht bloß das, was bei uns im Argen liegt, zu brandmarken.

 

Die Eiferer in der orthodoxen Kirche, - und zwar nicht nur Schismatiker, sondern auch solche, die sich formal unter dem Omophorion der kanonischen Kirche befinden, - predigen nicht Feindliebe und Vergebung, wie Christus es uns allen geboten hat, sondern Hass gegenüber der jeweiligen kanonischen Mehrheitskirche, deren Ist-Zustand, in der Tat, viel Angriffsfläche bietet. All ihre Energie verwenden die „Gesetzestreuen“ stattdessen darauf, ein Haar in der Suppe der „offiziellen“ Kirche zu finden. Dabei hat die Kirche nur die zwei Möglichkeiten: sich „breit“ aufzustellen, um auch (und vor allem!) Sündern eine Heimat zu bieten, oder in der sektiererischen Engstirnigkeit alles und jeden außer sich selbst und ihresgleichen zu verdammen und zu verfluchen. Letzteres aber führt unweigerlich zur Heuchelei.

 

Wohl in Kenntnis dieser Tatsache sagte Mutter Gavrilia (Papayanni, 1897-1992) einmal: „Manchmal muss man un-orthodox sein, um orthodox zu sein“.

 

Wie das denn?!

 

In einigen Ländern Europas (also nicht Indien, Mauretanien oder Bolivien) werden Mädchen in ländlichen Gegenden mit kaum fünfzehn Jahren verheiratet, „damit sie rein das Sakrament der Ehe empfangen können“. Mit zwanzig haben sie dann drei Kinder, aber oft keinen Mann mehr (Männer sind bisweilen eben freiheitsliebend). Da frage ich mich doch, ob es nicht besser wäre, den jungen Leuten soviel Freiheit einzuräumen, vielleicht auch Fehler begehen zu dürfen, aber sich dann, wenn sie psychisch und physisch gereift sind, bewusst für das ganze Leben mit dem Segen der Kirche binden? Wäre das nicht das geringere Übel? So aber bewirkt die „Gesetzestreue“ (die in Wahrheit nur die Sorge um die eigene Reputation bzw. die „Familienehre“ ist), dass Mädchen, die mit dem Druck nicht fertig werden, sich von Familie, Kirche und Gesellschaft alleingelassen fühlen und oft keinen anderen Ausweg sehen, als heimlich abzutreiben oder sich sogar das Leben zu nehmen.

Wer das als echte Orthodoxie und wahre christliche Tradition begreift, sollte lieber gleich einen Pakt mit den Taliban schließen...

Es versteht sich aber, nebenbei gesagt, von selbst, dass Kinder aus (wirklich) christlichen Familien auch heute noch ganz selbstverständlich mit, sagen wir mal, 24 Jahren rein in die Ehe gehen können.

Ich glaube, ich kann Ihnen heute nicht noch mehr solcher ketzerischer Gedanken zumuten. Da ich selbst ein Sünder bin, kann ich abschließend nur sagen, dass ich mich in der Gesellschaft von Sündern sehr wohl fühle, wenn sie sich auf dieser Grundlage mit mir identifizieren können. Dann fällt es mir auch überhaupt nicht schwer, sie als meine Brüder und Schwestern zu lieben. Amen. 

Jahr:
2013
Orignalsprache:
Deutsch