Predigt zum 11. Herrentag nach Pfingsten (1. Kor. 9: 2-12; Mt. 18: 23-35) (16.08.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger ist so einleuchtend, schlicht und erhaben, dass es eigentlich Herz und Verstand eines jeden ansprechen müsste. Der Herr lässt durch diese Parabel unzweideutig erkennen, dass wir alle unermesslich in Gottes Schuld stehen und trotzdem auf Seine Milde hoffen dürfen –  aber nur, wenn wir unseren Mitmenschen von ganzem Herzen (Mt. 18: 35) verzeihen. Was uns die Mühe zur Erlangung jener Herzensgüte erleichtern kann, ist die Einsicht, dass die Verfehlungen unserer Mitmenschen im Vergleich zu unserer Schuld vor Gott in Wirklichkeit bloß „Peanuts“ sind. Nur so ließe sich wohl ein halbherziges Verzeihen nach dem bekannten Muster vermeiden: „Ich habe ihnen verziehen, möchte aber nichts mehr mit ihnen zu tun haben!“ - So ein „Verzeihen“ bedeutet nach den Worten Vater Alexander Schmemanns, dass ich denjenigen de facto aus meinem Leben streiche, dass er für mich nur noch „Luft“ ist. Und so ist es tatsächlich bei uns Christen: wir bringen uns gegenseitig nicht um, tun auch offenkundig nichts Böses, wollen aber mit Herrn X. oder Frau Y. nach Möglichkeit nichts zu tun haben! Er oder sie interessieren uns nicht mehr. Das ist aus irdischer Perspektive vielleicht nachvollziehbar, aber aus himmlischer?! - Wenn ich den Betreffenden aus meinem irdischen Notizblock gestrichen habe – wie werde ich ihm dann im künftigen Leben in die Augen schauen können?.. Wie wollen wir im Reich der Liebe miteinander auskommen, wenn wir es hier nicht vermögen?! - Nein, die vollständige Versöhnung muss jetzt stattfinden, denn danach wird es zu spät hierfür sein. 

Das wirklich Bemerkenswerte an dieser Parabel ist doch, dass es uns alle betrifft, wirklich alle. Um gegen unseren Hochmut und unsere Hartherzigkeit ankämpfen zu können, bedarf es einer ausgiebigen Betrachtung unseres eigenen Seelenzustandes. Man wird uns entgegnen: „Wir alle sind zwar Sünder, aber nur im Kleinformat. Jedenfalls sind wir keine Mörder, Diebe oder Ehebrecher“...

Wollen wir nicht um den heißen Brei reden: ich behaupte, dass jeder von uns, ohne die uns behütende Gnade Gottes, zu einem Lenin, Hitler oder Mao werden könnte. Was wir im Kleinformat (sic!) an Intrigen, Eitelkeiten, Treulosigkeit und Eifersucht zuwege bringen, reicht schon sehr nah an die ersten Gehversuche jener großen „Vorbilder“ heran, nur hat (Gott sei Dank!) nicht jeder von uns das Charisma und das Format, eine Massenbewegung zu gründen und zum Staatsoberhaupt einer Großmacht zu werden. Aber maßstäblich betrachtet unterscheiden sich unsere täglichen Gemeinheiten im Grunde in gar nichts von den Untaten der Granden unter den irdischen Despoten. Ferner besteht für mich umgekehrt kein Zweifel daran, dass wenn besagte historische Personen durch irgendeine Fügung des Schicksals nicht zu dem geworden wären, was sie dann tatsächlich wurden, sie sich weitestgehend so verhalten hätten, wie wir es in unserem täglichen Leben tun. 

Unsere eingangs in der Parabel umschriebene immense Schuld vor Gott wird vor allem dann erkennbar, wenn wir die Maßstäbe des Evangeliums anlegen (und nur die sind in Gottes Augen maßgeblich, nicht die Urteile der Menschen). Nach den Worten unseres Erlösers, Der ja das Maß aller Dinge für uns ist, ist derjenige bereits ein Mörder, der seinen Bruder als „Dummkopf“ oder „Narr“ bezeichnet (s. Mt. 5: 22), und Ehebruch begeht man auch schon mit den Augen und im Herzen (s. Mt. 5: 28). Wenn wir uns also diese Kriterien zum Maßstab nehmen, dann stellen wir fest, dass wir allesamt in den Augen des Herrn bestenfalls unfruchtbare Feigenbäume sind, die der Verfluchung anheimfallen sollen (s. Mt. 21: 18-22), es sei denn, wir üben Nachsicht mit denen, die sich uns gegenüber etwas haben zu Schulden kommen lassen. 

Das heute behandelte Gleichnis erinnert nicht von ungefähr in sehr starkem Maße an das jüngste Gericht. Noch können wir uns Illusionen über unseren tatsächlichen Seelenzustand hingeben, uns weiter vormachen, dass es mit uns zum Besten steht. Aber vor dem Gericht Gottes wird alles knallhart aufgedeckt, alles! Wir schätzen uns deshalb glücklich, dass wir schon jetzt den Ernstfall proben dürfen – in der Beichte. Allerdings verdient diese bei uns oftmals ihren Namen nicht, da wir weder vor Gott, noch vor dem Priester, ja noch vor uns selbst in der Lage sind, die Wahrheit über uns selbst an den Tag zu legen. Immer sind andere Menschen oder äußere Umstände Schuld daran, dass unser Leben nicht so verläuft, wie wir es uns wünschen würden! Über andere Menschen könnten wir ganze Enzyklopädien verfassen, aber zu uns selbst schweigen wir uns vornehm aus! Und so bleibt die Wahrheit auf der Strecke.

Aus zahlreichen amerikanischen Krimiserien meiner Jugend blieb mir die Vereidigung von Zeugen vor Gericht bis heute im Gedächtnis haften: „Schwören sie, nur die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit!“ - „Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe!“ - Nun, eigentlich ist das 1:1 übertragbar auf unsere Beichte. Wenn vor weltlicher Gerichtsbarkeit von allen Beteiligten „nur die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ zwingend erforderlich ist und jegliches Abweichen von derselben einen Straftatbestand darstellt, dann umso mehr vor der göttlichen Gerichtsbarkeit! Wenn aber vor einem weltlichen Richter ein Augenblinzeln hinter der Puderdose, vorgetäuschte Weinkrämpfe oder anwaltliche Tricksereien das Strafmaß vermindern können, dann doch niemals vor dem unbestechlichen Richterstuhl Christi! Jede Beichte kann unsere Generalprobe zum Gericht Gottes sein, Der uns ständig ermahnt, solange noch Zeit ist, ohne Zögern Frieden mit unserem Gewissen zu schließen (s. Mt. 5: 25). Nutzen wir die Gelegenheit dazu in der jetzigen Fastenzeit! Amen.

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch