Predigt zum 19. Herrentag nach Pfingsten (2. Kor. 11: 31 - 12: 9; Lk. 6: 31-36) (15.10.2017)

Liebe Brüder und Schwestern, im eher systematisch denn chronologisch gegliederten Lukas-Evangelium umfasst die stark verkürzte Version der Bergpredigt (vgl. Mt. Kap. 5-7) gerade ein halbes Kapitel. Schwerpunkte der bei Lukas als "Feldrede" bezeichneten Predigt bilden die Seligpreisungen in Kurzform (Lk. 6: 20- 26) sowie das Wort von der Feindesliebe (Lk. 6: 27-36). Ist also bei beiden Evangelisten von zwei Ereignissen die Rede? Bei Matthäus stieg der Herr auf einen Berg (s. Mt. 5: 1), bei Lukas stieg Er den Berg hinab und sprach in der Ebene zu den Menschen (s. Lk. 6: 17). Ein Widerspruch? Haben wir es hier mit zwei verschiedenen Predigten zu tun? - Eher nicht. Der Evangelist Lukas erzählt davon, wie der Herr zunächst auf einen Berg stieg, dort die ganze Nacht im Gebet verbrachte und dann bei Tagesanbruch aus der Schar der Jünger zwölf auswählte, die Er dann Aposteln nannte (s. Lk. 6: 12-13). Die anschließende Rede an das Volk wurde (aus akustischen Gründen?) wahrscheinlich auf einem Hochplateau des Galiläischen Berglandes gehalten, so dass auch hier der Begriff "Bergpredigt" zutreffend ist. Das Herzstück der komprimierten Bergpredigt lautet: "Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen" (Lk. 6: 31). Diese "Goldene Regel" hat auch in anderen Religionen und Weltanschauungen in der einen oder anderen Form Gültigkeit. Auf den ersten Blick stellt sie ja einen Aufruf zum Handeln nach rein menschlicher Gerechtigkeit dar. Auch von Heiden und Ungläubigen kann man gewiss fordern, dass sie sich allgemein gültigen moralischen Regeln unterordnen und keine doppelten Standards zulassen. Doch der Herr verpackt die Botschaft von der Gleichbehandlung ohne Ansehen der Person in die Rede von der Liebe zu den Feinden (s. Lk. 6: 27-30)! Durch sie ergibt die ganze Botschaft erst richtig Sinn. Denn: "Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür?" (Lk. 6: 32). Durch diese rhetorische Frage hebt der Herr Sein Anforderungsprofil an uns auf eine völlig neuartige Ebene - vom rein moralischen Denken, das sich auf korrektes äußeres Tun beschränkt, auf die spirituelle Ebene, - auf das, was den Zustand der eigenen Seele vor Gott angeht. Und da tun sich zwischen beiden Wertekategorien Welten auf! Denn wer sich bloß nach menschlichen Verhaltensnormen orientiert, lebt weiter in der Illusion, er sei eigentlich ein ganz guter Mensch und sogar kein schlechter Christ; wer sich jedoch spirituell dem Angesicht Gottes nähert, kann nicht anders als Tränen der Buße ob seiner absoluten Unwürdigkeit vor Gott zu vergießen (s. Jes. 6: 5). Der Bergpredigt zufolge reicht "nett sein" Gott nicht aus. Seine Freunde und Angehörige liebt jeder, das ist die natürlichste Sache der Welt; auch nicht aggressiv auftretende Fremdlinge oder friedfertige Außenstehende nach Gesichtspunkten menschlicher Ethik zu behandeln ist ja durchaus noch im Bereich des Vorstellbaren, aber jemanden zu lieben, der mich hasst - das ist gegen die Natur des Menschen. Das ist aus der Perspektive menschlichen Denkens und Fühlens eigentlich unvorstellbar. Doch gerade das fordert der Herr von uns! Mit anderen Worten: wir sollen uns nicht nach unserer (wohlgemerkt: gefallenen) Natur richten, sondern diese überwinden! So wie mit allen Dingen im Leben, ist es jeder Sache zuträglich, wenn sie von frühester Kindheit gelernt wird. Eine Sprache, ein Musikinstrument oder eine Sportart perfekt zu beherrschen ist für einen, der von Kindesbeinen damit anfängt, um ein Vielfaches leichter als für einen im Alter fortgeschrittenen Neuanfänger. Deshalb sollten wir alle unser besonderes Augenmerk auf das richten, wie Kinder sich gegnüber ihren Eltern verhalten. Wir leben ja in Zeiten antiautoritärer Erziehung, in denen dem Nachwuchs schon im Kindergarten eingebläut wird, Kinder hätten nur Rechte und Eltern nur Pflichten. Wohlmeinende Eltern erfüllen in ihrer Naivität ihren Kindern alle Wünsche und merken nicht, wie sie egoistische Nichtsnutze aufziehen, die von anderen immer nur fordern, aber selbst nichts geben wollen. Das eindeutige und unwiderrufliche Gebot: "Ehre deinen Vater und deine Mutter" (Ex. 20: 12a) lässt sich dabei vorzüglich in Verbindung mit der "Goldenen Regel" bringen. Egal was die Kinder in der Kita oder in der Grundschule hören, eines ist gewiss: wie sie jetzt mit ihren Eltern umgehen, so werden später ihre Kinder mit ihnen verfahren. Da sie Respekt und Fürsorge ihres künftigen Nachwuchses jetzt aber noch nicht für sich selbst wollen können, müssen es die Eltern jetzt für sie wollen. Letztere können sich besagter Gesetzmäßigkeit natürlich entziehen, indem sie sich von vornherein gleichgültig in Bezug auf die Entwicklung ihrer Kinder zeigen, aber dann werden sie im Alter zu Opfern ihrer unterlassenen Erziehung. Resultat: abgebrochene Beziehungen, kontinuierlicher Übergang von einer Pflegestufe zur nächsten, Vorfriedhofsruhe. Prüfungen stehen ohnehin, unabhängig vom individuellen geistlich-moralischen Profil, gleichermaßen allen Menschen bevor (s. Offb. 2: 23; 3: 10). Es kommt nur darauf an, wie man sich auf Unvermeidliches vorbereitet. Wer nach dem Geiste des Evangeliums lebt, wird auch dann, wenn er durch große Not geprüft wird, seine übergroße Freude und sogar seine tiefe Armut in den Reichtum selbstlosen Gebens verwandeln (s. 2. Kor. 8: 2). Also brauchen wir uns davor nicht zu fürchten, auch Undankbaren gegenüber mit guten Taten in Vorleistung zu treten, denn das macht die selbstlose Liebe erst aus (s. Lk. 6: 34). Und wenn dereinst auf dem Nachttisch im Altersheim vielleicht eine Bibel liegt, werden wir unter Lk. 6: 31 nachblättern können, wie es von vornherein hätte sein können: "Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen". Um im Alter nicht in Windeln gewickelt zu sein, sollten wir jetzt das tun, was Gott von uns erwartet. Amen.
Jahr:
2017
Orignalsprache:
Deutsch