Predigt zum Herrentag vom Zöllner und Pharisäer (2 Tim. 3:10-15; Lk. 18:10-14) (28.01.2018)

"Darum bist du unentschuldbar - wer du auch bist, Mensch -, wenn du richtest. Denn worin du den anderen richtest, darin verurteilst du dich selber" (Röm. 2:1).

 

Liebe Brüder und Schwestern,

 

nach der Begegnung vorige Woche mit Zachäus, dem ersten Vorboten der Großen Fastenzeit, stellen wir ab dem heutigen Tage liturgisch bereits richtig auf Fastenmodus um. Erstmals im Jahr liegt das Fastentriodion aufgeschlagen auf dem Kliros, werden Gesänge und Lesungen nachdenklicher, fast schon trübsinniger. Und es gibt keinen unter uns, der nicht eine Kurskorrektur vorzunehmen bräuchte. - Von wem handelt denn dieses Gleichnis? Wer ist dieser Pharisäer im übertragenen Sinn? Auf wen würden seine Vorgehensweise, seine Ansichten und seine Geisteshaltung heute am ehesten passen?.. Machen wir gemeinsam den Faktencheck: der Pharisäer ist gläubig, engagiert und rechtschaffen. Ferner ist er kein Häretiker, Schismatiker oder Sektierer, sondern - umgemünzt auf unsere Zeit - ein vorbildlicher orthodoxer Christ. Mehr noch, er gehört zur Kategorie der Frommsten der Frommen, also zu denen, die in Fragen der äußeren Frömmigkeit alle anderen übertreffen - und keinen darin auch nur annähernd Ebenbürtigen neben sich dulden würden.

/Hier machen wir eine kurze Zäsur. - Der "Pharisäer" (nomen singular masculinum) ist heute zum Inbegriff für Heuchelei, Bigotterie und Selbstgerechtigkeit geworden. Allerdings gab es zumindest in der jüngeren russischen Kirchengeschichte eine Zeit, als - ausgenommen im Altarraum - praktisch nur (ältere) Frauen in den Kirchen zu sehen waren. Das hat sich, Gott sei gelobt dafür! - inzwischen grundlegend geändert. Doch eines hat sich seit damals nicht geändert: Während Männer - damals wie heute - ihre Probleme untereinander auf dem Gang oder Hinterhof klären und dann mit blutiger Nase, blauem Auge und Wackelzahn bei einer Flasche "Stolichnaya" einen versöhnlichen Schlussstrich ziehen, gehen Frauen - damals wie heute - in die Kirche, um sich gegenseitig die Augen auskratzen zu können - ohne einen Schlussstrich!.. Fühlt sich hier jemand angesprochen?.. - Ende der Zäsur./

Also sind die Pharisäer von heute (geschlechtsübergreifend) Menschen, die von sich meinen, vollkommen orthodox zu sein und darüber hinaus überzeugt sind, durch ihren Lebenswandel Gott mehr als andere zu dienen. Wer aber sind dann die Zöllner von heute?.. - So wie damals: gläubige Menschen (jawohl!), die von ersterer Kategorie verachtet werden, weil sie z.B. außereheliche Kinder haben, schon mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, dem falschen politischen Spektrum angehören, anderer sexueller Orientierung sind oder sonst zu irgendeiner Randgruppe gehören - oder auch nur solche, die nicht ganz firm in apostolischen Traditionen sind (= Kopftuchtragen, dem richtigen Heiligen die benötigte Anzahl von Kerzen aufstellen, sich zum festgelegten Zeitpunkt bekreuzigen bzw. verbeugen und in körperlicher Unreinheit büßend auf Knien vor dem Kirchenportal bei Schnee und Eis dem Gottesdienst beiwohnen).

Ich will nicht verhehlen, dass die Gefahr besteht, dass auch die Zöllner zu Pharisäern werden können, wenn sie nicht dem Vorbild ihres "Patrons" aus dem Gleichnis folgen (s. Lk. 18:13). Beide Gruppen sind gleichermaßen angesprochen: die "Pharisäer" unter uns sollten sich auf das besinnen, was unsere Kirche von ihrem Wesen her verkörpert, nämlich Milde und Güte gegenüber dem Gefallenen und in Anfechtung Geratenen (s. Mt. 9:9-13 u. Mk. 2:13-17; Gal. 6:1-5), und die "Zöllner" dürfen nicht der teuflischen Versuchung verfallen, sich frustriert und verbittert vom Weg des Heils abzuwenden ("Ach, das sind doch alles bloß Heuchler! So eine Kirche brauche ich nicht"). Im Grunde brauchen beide einander, denn solcherart Prüfungen sind für unser Heil notwendig (s. Jak. 1:2-9). Enthalten sich Erstere von Verurteilungen und Letztere von Verbitterung, ist allen gedient und der Teufel geschmäht.

Das Fasten hat folglich nicht zum Ziel, dass alle Regeln und Vorschriften penibelst eingehalten werden, sondern dass wir alle miteinander in der Liebe zu Gott und zum Mitmenschen wachsen. Unvermeidliche Hindernisse auf diesem Weg wie z.B. Kränkungen, Enttäuschungen etc. sind beileibe keine unvorhersehbaren Naturkatastrophen, sondern von Gott gesandte Prüfungen, die wir auf dem Weg der geistlichen Vervollkommnung bestehen sollen. Und in diesem Sinne sind sie dann durchaus auf "höhere Gewalt" zurückzuführen.

Zu guter Letzt sollten wir, moderne Pharisäer, daran denken, dass Gott den Menschen schon im Alten Bund zu verstehen gab, dass Er sich vor ihren rituellen Darbringungen  ekelt (s. Jes. 1:11-17). Der Apostel Paulus verwendet etliche Passagen zweier seiner Briefe darauf, um klar zu machen, dass äußerliche Gesetztestreue allein nicht das Seelenheil bewirken kann (s. Röm. 7:6; Gal. 5:4). Schließlich fand unser Herr Jesus Christus jederzeit Zugang zu den Herzen aller Menschen, darunter der größten Sünder; nur mit einer Sorte gab es für den liebenden Gott in menschlicher Gestalt keine gemeinsame Basis: mit denen, die von sich selbst überzeugt waren, vor Gott gerecht zu sein. Solche selbsternannten Gesetzeshüter begreifen bis heute nicht, worauf es dem Herrn ankommt: "Bleibt niemand etwas schuldig; nur die Liebe schuldet ihr einander immer. Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: ´Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren!` und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefasst: ´Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes" (Röm. 13:8-10; vgl. Gal. 5:14). Und ohne Liebe ist alles nichts. Amen.

Jahr:
2018