Gedanken über die erlösende Kraft der Leiden Jesu

Metropolit Antonij Chrapovickij

Gedanken über die erlösende Kraft der Leiden Jesu                                                 


Ein jeder ist ergriffen beim Hören der neutestamentlichen Berichte oder der Kirchengesänge über die freiwilligen Leiden unseres Herrn, die Gedanken eines jeden werden auf das Höchste gelenkt. Die aufrüttelnde Kraft zeigt sich in den Augen der Zuhörenden; die Karwoche läßt in jedem Jahr das Gewissen der Gemeinschaft des Volkes deutlicher sprechen, sie stützt den Glauben, hält die Sünde nieder. Aber unzweifelhaft ist auch die Tatsache, daß diese Kraft durch das Gefühl auf unseren Willen einwirkt, und nur wenige Christen, selbst die theologisch gebildeten, sind sich klar bewußt darüber, wie die Leiden Jesu  mit dem Sterben der eigenen Leidenschaften zusammenhängen. Unsere theologische Wissenschaft ist bemüht, diesen Zusammenhang deutlich zu machen, sie beleuchtet aber nicht genügend einige wichtige Seiten der göttlichen Offenbarung, die zu klären wir hier versuchen wollen.
Unsere Rettung ist laut Lehre des Wortes Gottes nicht allein Belohnung des Gerechten nach seinem Tod, sondern auch das neue glückselige Leben auf Erden, da jeder, der um Christi Willen sich selbst verleugnet "...hundertfältig empfange jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mitten unter Verfolgungen..." (Mk. 10, 30).Diese Äcker und Gaben der Gnade bestehen aus "Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist (Röm. 14, 17), welche der Herr den Aposteln versprach, als Er sagte: "... eure Freude soll niemand von euch nehmen" (Jo.16, 22). Sie ist die innere Befriedigung, die uns durch Christus in der Liebe zuteil wird, welche uns zu Kindern Gottes macht (1. Jo. 4, 7). Das Paradies beginnt bereits hier für die, die Gott lieben, denn die Liebe ist das Vorgefühl der paradiesischen Seligkeit, wie uns die ersten ägyptischen Asketen, die Heiligen Antonius und  Makarios und danach der Heilige Johann von Damaskus lehren. Johann von Damaskus bezeichnete die irdische Herrschaft Christi als höchste spirituelle Seligkeit: "...kommet, laßt uns an die Geburt des neuen Weines, an der göttlichen Fröhlichkeit am nämlichen Tag der Aufrichtung der Herrschaft Christi teilnehmen".
Jedoch ist dieses gnadenvolle Leben auf Erden nur unter drei Bedingungen möglich: erstens bei angeborener Fähigkeit des Menschen dazu (denn Tiere, welchen ein Gewissen nicht innewohnt, sind dazu nicht fähig), zweitens durch den rettenden Glauben, der uns von unserem Allheiligen Himmlischen Vater, Der uns als Seine Kinder liebt, offenbart wird und drittens, wenn wir den Sieg über die Lebensführung des alten Menschen in uns erringen, welcher wir zu dem Zeitpunkt sind, wo uns das Wort des Evangeliums trifft. Die erste Bedingung ist uns durch die Gottähnlichkeit unserer Natur gegeben, die zweite durch die Offenbarung, die Gott Adam, Abraham, Moses und den übrigen Verkündern der beiden Testamente machte; zur Erfüllung der dritten Bedingung, damit "der Fürst dieser Welt ausgestoßen werde" (Joh. 12, 31), mußte unser Herr erscheinen und die Leiden auf Sich nehmen, "um die Sünde im Fleisch zu verdammen" (Röm.8, 3) und unsere "Feindschaft mit Gott am Kreuz zu töten" (Eph.2, 16).

Wenn wir das Leben der Welt und das Leben Christi betrachten, werden wir sehen, auf welchem Wege allein das eine in das andere übergehen kann. Der Herr kommt in diese Welt und erweckt ein neues Leben, ein neues Reich, um dessen Kommen wir immer bitten. Dieses Reich sollte nicht allein daraus bestehen, daß wir auf die gleiche Weise über Gott denken und uns auf gleiche Art bekreuzigen; nein, unsere Verbundenheit ist viel tiefer und fester. Der Herr verbindet Sich mit Seiner geistigen Bruderschaft durch die Fesseln einer so ausnehmenden, alles umfangenden Liebe, wie es die Liebe der Braut zum Bräutigam ist, die im Hohenlied und in der Apokalypse beschrieben wird. Er verlangt unsere innere Angleichung an Seinen Verstand, Sein Leben, Seine Lehre, daß wir Ihm gleichen, so wie die organische Beschaffenheit der Rebe der Beschaffenheit ihres Weinstockes gleicht (Jo.15, 1 ff.). Er wünscht, daß sich unser Leben ebenso wenig von Seinem Leben trennen kann, wie sich das Leben des Leibes nicht vom Kopf trennen kann (1. Kor.12), denn getrennt muß der Leib sterben. Zum Begreifen dieser Angleichung des eigenen Lebens an Christus verbinden wir uns sogar körperlich mit Ihm in der Kommunion, um sich so der geistigen Verbundenheit mit Ihm tiefer bewußt zu werden (Joh. 6, 56). Er fordert uns zu der gleichen vollkommenen Verschmelzung aller unserer Absichten, Handlungen und Gefühle mit Seinem Allheiligen Wesen auf, in welcher sich Seine göttliche Person mit dem göttlichen Vater des Lichts befindet (Jo.17, 21). Es ist klar, daß eine solche Vereinigung mit dem Ursprung des Lebens und der Wahrheit von guten Geschöpfen, die ebenso von Gott geschaffen sind, als höchste Freude empfunden werden muß; mit welchem Gefühl aber begegnen solche dem neuen Leben, die sich freiwillig von Gott abgewandt haben, die, wie der Urvater Adam, selbst wie Götter sein wollten (1. Buch Mose, 3, 5), sich selbst als Ziel und Ursprung ihrer Absichten und Handlungen sahen und dann durch die Sünde ganz erdrosselt worden sind - die lebenden Leichname? Für das Leben in der Wahrheit sind sie gestorben, sie leben das Leben der Sünde. Man läßt sie davon leben, was ihnen den Tod brachte, und sie werden gezwungen, das in sich zu töten, was ihr Leben bedeutet. So betrachtet, bedeutet die Umkehr zu Christus für den alten Adam im Menschen den Tod und danach das Leben - Tod und Auferstehung. Daher ist die Vereinigung mit Christus im Sakrament der Taufe ein Sterben für die Welt und ein Leben für Christus (Röm. 6, 3-11).

Was aber ist der Tod? Es ist die Vernichtung des Lebens. Und was ist Tod der Sünde? Vernichtung des sündigen Lebens. Welche Empfindung weckt diese Vernichtung im Bewußtsein des Sterbenden? Er leidet. Leiden ist das Wort, das uns dem Verstehen  des Opfers von Golgatha näherbringt. Der erste Schmerz, den die Seele bei ihrer gnadenvollen Wiedergeburt empfindet, ist Reue. Mit der Buße muß das Leben im Reich Gottes beginnen, wie Johannes der Täufer, Christus selbst und die Apostel uns lehrten (Mt. 3, 2; Mk. 1, 15; Apg. 2, 38 und 17, 30). Die zweite Qual ist der Kampf mit den Trieben der alten Natur, welche bei der Taufe nur in der Absicht und im Glauben getötet werden, deren Bekämpfung, Tötung aber das ganze Leben dauert (Röm. 7, 14-25). Das dritte Leid kommt von der Welt, von Freunden und Feinden, welche einstimmig den Weg zu Gott hassen (Jo. 15, 18), der für die Juden ein Ärgernis und für die Griechen eine Torheit ist (1.Kor. 1, 23). Derart sind für den Sünder die Eigenschaften des gnadenvollen Lebens in Christus. Seine Leiden hier gehen dem künftigen Sieg voraus; Trauer, Demütigung und Entbehrungen muß er erdulden, um die geistige Freude der Verbindung mit Gott zu erlangen. Eben um ein solches Leben hier auf Erden zu gründen, erschien der Herr zur Zeit des Kaisers Augustus, nachdem  Er den "Glauben, der da sollte offenbart werden" (Gal.3, 23) durch die Geschichte und die Propheten hatte ankündigen lassen.
Auf welche Weise aber konnte der Heiland uns ein solches übernatürliches Leben lehren, in welchem der Mensch jeden Schritt seiner Vervollkommnung durch Leiden zu gehen hat und auf alle Vorzüge dieser Welt verzichtet, ja sogar sein Leben hingibt um einer erhofften und nur zu einem Teil erreichbaren spirituellen Freude willen? Der Herr brachte uns Seine Lehre von einem solchen erhabenen Leben, und das uns verbliebene, wenn auch getrübte Licht unseres Gewissens bejahte diese Lehre. Aber um ihr zu folgen, um sich zu entschließen, ihretwegen dem Fleisch, der Welt und dem Satan abzuschwören - dafür braucht es nicht nur der Worte; Größeres mußte dafür geschehen. Um die Menschen zu einem Leben des Geistes und zum Töten der Sünde zu führen, mußte der Herr selbst ein solches Leben durchmachen; nicht nur, um uns ein Beispiel zu geben, wie es in dem leise zu sprechenden Gebet des Priesters bei der Liturgie des Hl.Basilios heißt, sondern auch deshalb, weil Leben nur durch Lebendes geboren wird, nur durch Gleiches das Gleiche hervorgerufen werden kann. Um die Notwendigkeit dessen zu verstehen, daß Christus, Der uns Menschen gleich wurde außer der Sünde, dennoch alle qualvollen Folgen der Sünde selbst erduldete und als Erfüller des Eides der Sünde starb (Röm. 6, 10), wollen wir sehen, wie auch heute vor unseren Augen die Gerechten die Sünder zu einem rechtschaffenen Leben führen. Geschieht das nur durch Reden? Ist es möglich, einen Menschen durch Worte oder selbst durch Beispiele umzuwandeln? Nein. Der Lehrer muß vollkommen in die innere Welt des zu Wandelnden eindringen, er muß sein ganzes Absinken mitfühlen, muß es qualvoll miterleben, sein Geist muß in die Finsternis hinabsinken, in welcher der Sünder unterging und dort muß er den Gesunkenen liebgewinnen, aus der Tiefe heraus muß er ihm den Weg zur Bekehrung zeigen. Die Reue, den Schmerz über sein tiefes Sinken, also den Tod der Sünde, aus welchem eben Bekehrung besteht, dies alles muß von dem Menschen erlebt werden, der seinen Bruder aus der Finsternis zum Licht zurückführen will. Das aber, was wir für einander nur zu einem Teil tun können, gestützt von der Gnade Christi, Der uns die Kraft der Liebe gibt, das vollbrachte der Herr im ganzen für die ganze Menschheit. Schon auf Erden nahm Er als liebender Lehrer und erbarmender Helfer unsere Gebrechen auf Sich und trug unsere Krankheiten (Mt. 8, 17). Er barg in Seiner Seele das ganze Leid, das die Menschheit wegen ihrer Sünden trug und weinte über Jerusalem, da Er seine Verbissenheit sah (Lk. 19, 41). Dann kam die Nacht der Sühne; der Herr begann zu weinen, zu klagen und zu bangen (Mt. 26, 37) wegen aller Sünden der Welt. Weinte Er aus Furcht vor Seiner Hinrichtung? Oh, nein! Wie könnte Er darüber klagen, da Er Seinen Jüngern befohlen hatte, sich zu  freuen, zu frohlocken, wenn sie verfolgt werden (Mt. 5, 12). Nicht um Sich weinte Er, sondern um unsere Söhne und Töchter (Lk. 23, 28), um das Menschengeschlecht, das in Sünden versank, um das Menschengeschlecht, das Er von der Sünde fort und zur Wahrheit führen will. Alle die Qualen des Gewissens, die ganze Trauer um den Abgrund des begangenen Unrechts, die die Menschheit bei ihrer Bekehrung durchzumachen hätte, alles dies hat der Herr, Der in unser Wesen eingegangen war, aus Liebe zu uns erlebt. Aber wie jeder, der eine Wandlung durchmacht, nicht nur von den inneren Vorwürfen seines Gewissens gequält wird, sondern auch gezwungen ist, sich mit der Welt, deren organischer Teil er ist, und mit seinem Fleisch, das sich dem Bösen unterwirft, auseinanderzusetzen, so hatte auch der Herr nicht nur die inneren Qualen in Gethsemane zu ertragen, sondern auch den Haß der Menschen und die körperlichen Qualen auf Golgatha. Der Dulder Christus ist unser Urheber des Märtyrertums. Er selbst erfüllte alles das, was von jedem erduldet werden muß, der sich zu Seinem Leben bekehrt. Deswegen sagt Apostel Paulus: "Ich möchte... Gemeinschaft Seiner Leiden und so Seinem Tode gleichgestellt werden." (Phil.3, 10) Wenn also, wie es im 11.Kapitel des Briefes an die Hebräer erklärt ist, unser Glaube und der Glaube unserer Väter darin besteht, daß wir ständig der Welt sterben und den alten Menschen in uns töten (2. Kor. 4, 16), so ist es klar, daß das Haupt und der Erfüller unseres Glaubens (Hebr. 12, 2) den Beginn und die Darstellung dieses Lebens durch "Leiden vollenden" mußte (Hebr.2, 10). Es ist klar, daß Sein Sterben der Welt und der Sünde, das mit der Liebe zu uns verbunden ist und aus Liebe zu uns freiwillig geschah  (Jo. 10, 18), für uns schon der Beginn des neuen, gnadenreichen Lebens ist, dem sich jeder, den Er liebt, d.h. jeder, der es will, anschließen kann, so daß der Gestorbene Vater eines neuen Geschlechts wurde. So wie in jedem Menschen die neue, gnadenreiche Kraft dann zu wirken beginnt, wenn das Alte vergeht, wie auch im Volk Israel der Todesschrei der Sünde gleichzeitig immer die Wiedergeburt des Lebens in Gott war, so wurde auch der Erlöser,  Der sich für uns mit einem lauten Schrei vom irdischen Leben löste, der Vater für alle, die der Welt und ihrem Ich sterben und für die Wahrheit, für Gott leben (2. Kor. 5, 4).
Welche Empfindungen lösen die Leiden des Herrn in dem Bewußtsein eines Menschen aus, der sich zum christlichen Leben bekehrt? Vor allem können nur die Leiden Jesu uns mit den eigenen Leiden und Beschimpfungen versöhnen, die wir bei der Bekehrung erleben (Hebr. 12, 3). Der Gedanke, daß Wahrheit und Wohlergeben zusammenhängen, hat sich in den Köpfen der Menschen so festgesetzt, daß ohne ihn nicht einmal Kants autonome Philosophie ausgekommen ist. Das Leben zeigt aber, daß Tugend, die mit Reue und Ablegung des alten Menschen in uns beginnt, Leiden und Schande mit sich bringt (1. Kor.4, 9). Womit kann ich nun dieses Erdulden vor mir selbst rechtfertigen? Wie kann ich dessen gewiß sein, daß diese Schande eine Ehre ist, wenn nicht, indem ich daran denke, daß die wirklich höchste Wahrheit, die ewige Vernunft uns gerade im rettenden Leiden offenkundig wurde?
Woraus schöpft der Mensch das sichere Wissen davon, daß das qualvolle Abschwören der Welt nicht ein bloßes Hirngespinst ist, wenn nicht durch die Erkenntnis, daß das neue ewige Leben der Auferstehung aus dem Grab zu uns kam, daß der Tod des Guten, der die alte Welt gefangen hält, durch den Tod besiegt ist? Unser Leben muß in Gott sein, das begreifen wir gut, aber dieses Leben bedeutet Gram, Leiden und Tod. Also kann niemand anderer als Gott, in Dem wir leben werden (Röm. 6, 11), diese Leiden und den Tod in Sich schließen. Nur Gott konnte uns durch Leiden erlösen und in Sein Leben aufnehmen, und nur ein Mensch wie wir konnte die Frucht seiner Leiden in uns hineinlegen und sein Leben für uns hingeben. Darum kann nur der Gottmensch, der Dulder, der Gestorbene und Auferstandene unser Retter sein. Und da unsere Reue, unsere asketischen und aus dem Bekenntnis erwachsenen Leiden durch Ihn die höchste Weihe bekommen haben, haben sie damit zur Hälfte aufgehört, Leiden für uns zu sein und sind zu Freuden geworden. Darum heißt es, daß der Herr nicht nur für uns, sondern auch an unserer Stelle gelitten hat. Darum hat Sein furchtbarer Tod den Tod Seiner Apostel zu einem Fest der Freude gemacht. Darum sind wir heiter beim Leiden (1. Kor. 4, 12) und fühlen unsere Leiden beinahe gar nicht, denn wir wissen, daß sie nur äußerlich sind und ihre Frucht "Gerech-tigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist" ist, so daß sie selbst eine Freude für uns sind (Hebr. 12, 5-13). Das, was die Welt den Tod nennt, ist für uns das Leben geworden; das, was die Welt eine Schande nennt, ist für uns Ehre geworden. Diese ganze Wandlung hat Gott vollbracht, Der ein Ärgernis den Juden ist und eine Torheit den Griechen, den Berufenen aber göttliche Kraft und göttliche Weisheit (1. Kor.1, 23-24).