Neomärtyrer und Bekenner Rußlands Hl. Neomärtyrer Veniamin, Metropolit von Petrograd

Bote 1990-4
Neomärtyrer und Bekenner Rußlands
Hl. Neomärtyrer Veniamin, Metropolit von Petrograd

VI.
Ehe wir uns an eine kurze Darstellung des eigentlichen Prozesses machen, halten wir es für angebracht, seine Hauptfiguren zu beschreiben. Eine Charakteristik des Metropoliten haben wir bereits gegeben. So wie er sich auf der Kathedra des Hierarchen verhielt, saß er auch auf der verhängnisvollen Anklagebank des bolschewistischen Gerichtes - einfach, ruhig, ehrwürdig. Es versteht sich von alleine, daß er der Mittelpunkt des ganzen ungeheueren Prozesses war. Auf ihn konzentrierte sich die ganze Aufmerksamkeit der Feinde wie auch der ihn vergötternden Massen der Gläubigen, die soweit sie zugelassen waren, den Sitzungssaal füllten, wie auch des einfachen Publikums, das entweder ganz ungläubig oder andersgläubig war, jedoch im allgemeinen während des ganzen Prozesses aus-serordentliche Sympathie für den Metropoliten, als ein klares und im voraus gekennzeichnetes Opfer der Bolschewiken, zeigte. (Aus dieser Aufzählung schließen wir jene "Besucher" aus - Rotarmisten, Vertreter der Fabrik-Komitees und kommunistischer Parteizellen -, die sich vorsichtshalber auf Anordnung der Machthaber in großer Anzahl nur dazu ins Tribunal begeben hatten, um eine den Absichten der Staatsmacht entsprechende Stimmung zu schaffen).
Eine weitere bemerkenswerte Persönlichkeit in diesem Prozeß, die nach dem Metropoliten beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich zog, war Archimandrit Sergij (im weltlichen Stand V.P.Schein, ein früherer Angehöriger der Staatsduma = Parlament). Große Gemeinsamkeit und gleichzeitig ein scharfer Kontrast mit dem Metropoliten kennzeichneten ihn. Gemeinsamkeit im tiefen Glauben und in der Bereitschaft zum Leiden - Verschiedenheit im Charakter und im Temperament. Der Metropolit fürchtete den Tod nicht, suchte ihn jedoch auch nicht; ruhig ging er dem ihn erwartenden Schicksal entgegen, indem er sich dem Willen Gottes anheimstellte. Vater Sergij schien bewußt "für den Glauben leiden" zu wollen. Daher seine flammenden, begeisterten Reden im Gericht, die sich von den ruhigen und knappen Ausführungen und Antworten von Vladyka unterschieden. Man fühlte noch den alten politischen Kämpfer in Vater Sergij. Etwas weit über die Politik Hinausgehendes durchdrang die ganze Persönlichkeit des Metropoliten. Der eine, ein Märtyrer der ersten Jahrhunderte des Christentums, welcher in seinen Qualen freudig über die verblüfften Henker triumphierte - der andere, ein ehrwürdiger, ruhiger, der Welt entrückter, ganz in Kontemplation und Gebet versunkener heiliger Einsiedler jener Epoche: Vater Sergij und der Metropolit erschienen wie eine Verkörperung der zwei Prototypen jener alten Zeiten.
Der Vorsitzende der Vereinigung Petersburger Gemeinden namens J.L. Novizkij, Professor der Petersburger Universität, ein ruhiger, klarer Mann,  fest in seinen Aussagen, und der frühere Rechtsanwalt I.M. Kov‚agov, der sich von vornherein in sein Los geschickt hatte, seinen "Richtern" kühn ins Gesicht blickte und nicht mit sarkastischen Ausfällen kargte - solcher Art waren die anderen zwei Opfer von jenen vier, die zum  größeren Triumph der sowjetischen Macht und zur Stärkung der im Entstehen begriffenen "Lebendigen Kirche" zum Tode verurteilt wurden ...
Außer dem Metropoliten wurden zur Verantwortung gezogen: Bischof Venedikt, die Vorsteher fast aller Petersburger Kathedralkirchen, die Professoren der Geistlichen Akademie, Studenten des Theologischen Instituts und der Universität usw. Der übrige, größere Teil der Angeklagten bestand aus Leuten "verschiedenen Standes und Ranges", die mehr oder weniger zufällig bei Straßenunruhen während der Konfiszierung der Miliz in die Netze geraten waren. Darunter befanden sich Frauen, Greise und Halbwüchsige: da war irgendein Zwerg mit einer schrillen Stimme, der den tragischen Ereignissen des Prozesses eine komische Note verlieh; da war eine Arzthelferin, die "konterrevolutionärer" Hysterie bezichtigt wurde, in die sie beim Eindringen der sowjetischen Kommission in die Kirche verfallen sei; da war sogar irgendein Perser, ein Schuhputzer und Mohammedaner, der, wie sich herausstellte überhaupt kein Russisch verstand, und dennoch wegen "Widerstand bei der Beschlagnahme der kirchlichen Wertgegenstände" belangt wurde; usw... Mit einem Wort, dieser Teil der Angeklagten stellte eben ein gewöhnliches, der Zusammensetzung nach äußerst zufälliges Bruchstück der buntfarbigen Straßenmenge dar... Es war offensichtlich, daß niemand überhaupt daran gedacht hatte, eine sorgfältige Auswahl der Angeklagten zu treffen. Dazu war gar keine Zeit...
Der Sitzungssaal war riesengroß; er faßte, nach den Emporen zu schließen, etwa 2500-3000 Menschen. Und nichtsdestoweniger war er während des Prozesses ständig überfüllt. Man kann sagen, daß während der Wochen der Verhandlung ein beachtlicher Teil der Petersburger Bevölkerung durch diesen Saal ging. Nichts bremste den Zustrom des Publikums: weder die mitunter ermüdende Eintönigkeit der Strafverhandlung, noch die Treibjagd, die am zweiten Prozeßtag vor dem Gebäude der Philharmonie veranstaltet wurde und bei der einige Hundert (von dem Publikum, das die Eröffnung der Sitzung erwartete) erwischt wurden, die bis zur Beendigung des Prozesses eingesperrt blieben, noch schließlich das Risiko und die Gefahr, welche dem Publikum im eigentlichen Gerichtssaal drohten.
Hier fanden wiederholt Verhaftungen statt - von Personen, die angeblich zugunsten der Angeklagten demonstrierten (Demonstrationen zugunsten der Anklage wurden natürlich sehr wohlwollend aufgenommen). Die Herren im Saale aber waren eigens "abkommandierte" Besucher. Ihrer gab es immer sehr viele. Das übrige Publikum saß gewöhnlicherweise schweigsam, demütig da -  nur mit wehmütigen Gesichtern und nicht immer zurückgehaltenen Tränen, wodurch es seine tiefe, heimliche Erregung kundtat.
"Führt die Angeklagten herein" - ordnete der Vorsitzende an. Es herrschte Todesstille, als aus der entferntesten Ecke des Saales die Prozession auftauchte. Zuvorderst schritt der Metropolit in geistlicher Kleidung und mit seinem Hirtenstab in der Hand. Hinter ihm kam Bischof Venedikt, und dann folgten die einfachen Geistlichen und hinter ihnen die übrigen Angeklagten. Beim Anblick des Metropoliten stand das Publikum auf. Er segnete die Anwesenden und setzte sich dann.
Nun begann die unendlich ermüdende, formelle Vernehmung der Angeklagten (Vornamen, Familiennamen, Alter, Vorbestrafung u.ä.), die den ganzen Tag dauerte. Zur Verlesung der Anklageakten schritt man erst am Montag, den 12. Juni. Auf welche Weise erhoben die Bolschewiken ihre Anklage gegen den Metropoliten und die übrigen Angeklagten? Ganz einfach. In ihren Akten gab es Dutzende von Einzeldelikten, die sich anläßlich einzelner Vorfälle bei der Beschlagnahmung der Wertgegenstände in verschiedenen Petersburger Kirchen und zu verschiedenen Zeitpunkten ergeben hatten. Wenn es die Schaffung des Straffalles erforderte, wurden alle diese Delikte zu einem ganzen "zusammengeheftet" (im buchbinderischen Sinn), und alle darin dargelegten Ereignisse wurden als Resultat der böswilligen Aufwiegelung seitens der "verbrecherischen Gesellschaft" gebrandmarkt, die aus dem Metropoliten und anderen Personen, hauptsächlich den Mitgliedern der Verwaltung der Vereinigung Petersburger Orthodoxer Gemeinden, bestand. In der Anklageformulierung wurde dem Metropoliten angelastet: a) daß er mit der Sowjetmacht in Petersburg mit dem Ziel in Verhandlungen trat, die Aufhebung oder die Milderung der Dekrete über die Konfiszierung der Kirchengüter zu erreichen, b) daß er und seine Komplizen dabei im Einvernehmen mit der internationalen Bourgeoisie stünden, und c) daß die genannten Angeklagten zur Aufwiegelung der Gläubigen gegen die sowjetische Macht als Mittel gewählt hätten... die Verbreitung  von Kopien der (oben erwähnten) Erklärungen des Metropoliten an die "Pomgol" Kommission unter der Bevölkerung.
Diese Formulierung spricht für sich selbst. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß allein die Tatsache der Gesprächsaufnahme mit der sowjetischen Macht als ein Verbrechen dargestellt wird: Verhandlungen, die darüber hinaus auf deren Initiative entstanden waren und mit einer Übereinkunft abgeschlossen wurden.
Nach der Verkündigung der Anklageschrift schritt das Gericht zum Verhör der Beschuldigten in Sachen der gegen sie erhobenen Anklagen. Als erster wurde der Metropolit verhört.
Einige Stunden lang (am 12. und 13. Juni) überschütteten ihn die Kläger und die Richter mit Fragen, auf die er, ohne sich im geringsten aufzuregen und ohne sich einen Augenblick lang zu vergessen mit seiner klaren, ruhigen Stimme kurze, kategorische, erschöpfende und völlig eindeutige Antworten gab.
Das Verhör des Metropoliten wurde hauptsächlich in dreifacher Perspektive geführt: a) was die Haltung des Metropoliten zu den Resolutionen der Karlowitzer Synode anbetrifft (über diese Beschlüsse wurde übrigens in dem Prozeß sehr viel gesprochen, fast noch mehr als über die Konfiszierung selber), b) hinsichtlich des Verhaltens des Metropoliten zu den Dekreten über die Beschlagnahmung der Wertgegenstände, und c) hinsichtlich der oben erwähnten zwei Erklärungen des Metropoliten an die "Pomgol".
Auf die erste Frage antwortete der Metropolit, daß ihm die Beschlüsse der Karlowitzer Synode nicht bekannt seien - weder offiziell noch privat. Auf die zweite Frage erklärte der Metropolit, daß er es für unerläßlich hielt und immer noch hält, alle kirchlichen Wertgegenstände für die Rettung der Hungernden abzuliefern. Aber er konnte und kann keine Methode der Konfiszierung von Wertgegenständen segnen, die von der Sicht eines jeden Christen aus eine deutliche  Lästerung darstellt.
Der Schwerpunkt jedoch liegt - was die persönliche Verantwortung des Metropoliten anbetrifft - in der dritten Frage enthalten. Man wollte ständig Angaben aus ihm herauspressen - und zwar mittels vielfältigster und heimtückischster Fragen -, wer in Wirklichkeit der Inspirator und Autor der an die "Pomgol" abgegebenen Erklärungen war. Völlig durchsichtig wurde ihm klargemacht, daß er, falls er die "Autoren" nennen, oder sich sogar von dem Inhalt seiner Erklärungen lossagen würde, gerettet sein würde.
Wir neigen zu der Annahme, daß diese verfüh-rerischen Suggestionen in gewissem Grade aufrichtig waren. Die Bolschewiken bezweckten durchaus nicht, den Metropoliten um jeden Preis umzubringen. Sie hätten es wahrscheinlich vorgezogen, ihn moralisch zu vernichten. Wenn der Metropolit wegen der Standhaftigkeit seiner Überzeugungen erschossen wird, dann könnte das eine heikle Sache werden. Wenn der Metropolit dagegen bereut, sich unterwirft, erniedrigt wird, moralisch entthront und "gnädig" verschont wird, dann wäre so ein Resultat viel verlockender für die sowjetischen Machthaber, und noch mehr für die in dieser Sache hinter ihr stehende "Lebendige Kirche". Das war so klar, daß die an dem Prozeß Beteiligten und sogar das Publikum jedesmal, wenn dem Metropoliten diesbezügliche Fragen gestellt wurden, besonders die Ohren spitzten. Daß die Sowjetmacht hier ein "Spiel" auf Leben und Tod trieb, klang sowohl im Ton als auch in der Abfassung der Fragen durch. Aber leider fand sich in diesem Spiel kein Partner für die sowjetische Macht. Der Metropolit schien die ihm entgegengestreckten "Rettungsringe" gar nicht zu bemerken und, indem er dem Tribunal gerade ins Gesicht schaute, antwortete er fest und unabänderlich: "Ich alleine habe meine Erklärung gänzlich unabhängig konzipiert, geschrieben und abgesandt. Übrigens würde ich auch keine Einmischung in die Entscheidung solcher Fragen dulden, die ausschließlich meiner bischöflichen Zuständigkeit obliegen". Bei dieser Antwort lag in der Stimme des Metropoliten sogar ein etwas gebieterischer Ton, der ihm sonst überhaupt nicht eigen ist. Danach war für ihn persönlich alles beendet. Das ihm bestimmte Schicksal war nun endgültig. Allen Anwesenden war die seelische Größe dieses Menschen klar, der seine Freunde in der Not mit seinem Mönchsgewand, ja mit seinem eigenen Körper, vor den Bolschewiken abdeckte.
Dem Metropoliten wurde erklärt, daß sein Verhör beendet sei. Mit derselben unerschütterlichen Ruhe, mit einem klaren Lächeln auf den Lippen, begab er  sich unter den Seufzern und dem verhaltenem Schluchzen des Publikums auf seinen Platz zurück.
 Man muß festhalten, daß nur ein Kläger, namens Smirnov (zu Beginn der Vernehmung) versuchte, den Metropoliten mit dem ihm eigenen spöttischen Ton zu behandeln. Seitens des Verteidigers Guroviç erfolgte sofort ein scharfer Protest diesbezüglich. Er erklärte sowohl Smirnov als auch dem Tribunal, daß - was immer auch ihr persönlicher Glauben und ihre Überzeugung sein möge - niemand das Recht habe, mit einem Menschen, den die ganze Petersburger Bevölkerung in ehrfürchtiger Hochachtung hält, derartig umzugehen. "Wir wissen, daß Sie den Metropoliten hinrichten können, - sagte der Verteidiger - aber Sie haben kein Recht, ihn zu beleidigen oder derartige Kränkungen zuzulassen, und jedesmal, wenn so etwas passiert, wird die Verteidigung gewiß protestieren".
Der Protest der Verteidigung wurde vom Applaus des Publikums unterstützt. Der Vorsitzende des Gerichts gebot dem Publikum groben Einhalt, aber offensichtlich wurden doch hinter den Kulissen von jemandem, der Autorität besaß, gewisse ermahnende Maßnahmen hinsichtlich Smirnovs ergriffen. Zumindest verhielt dieser sich im weiteren Verlauf der Vernehmung des Metropoliten - was die Form anbetrifft - verhältnismäßig schicklich.
Einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ auch das Verhör des Archimandriten Sergij. Mit klangvoller, entschlossener Stimme antwortete er auf die sich wie aus dem Füllhorn  über ihn ergießenden Fragen. Er gestattete den Verhörern nicht, seine Situation zu mißbrauchen. Das Verhörsystem im sowjetischen Gericht besteht u.a. darin, daß zu ein und demselben Thema unendlich viele, sich in nur geringer Variante stets wiederholende Fragen gestellt werden. Eine grobe Methode, die darauf abgestellt ist, den Verhörten besser aus dem Konzept zu bringen. Vater Sergij schnitt diese Versuche sofort ab, indem er fest und bestimmt erklärte: "Auf diese Frage habe ich bereits geantwortet und ich möchte meine Antworten nicht wiederholen".  Er duldete seitens des Tribunals und der Kläger nicht den üblichen spöttischen Ton dem zu Vernehmenden gegenüber. So wandte sich Smirnov, der anfangs Vater Sergij eine Reihe von Fragen über seine Herkunft, Ausbildung und vergangene Tätigkeit gestellt hatte, zum Schluß mit der Frage an ihn: "Sind Sie denn aus Überzeugung unter die Mönche geraten?" Vater Sergij richtete sich in seiner ganzen Größe auf, musterte Smirnov von Fuß bis Kopf mit einem vernichteten Blick und schleuderte ihm als Antwort entgegen: "Hören Sie mal, merken Sie gar nicht, wie kränkend Ihre Frage ist. Ich werde Ihnen  darauf keine Antwort geben". Archimandrit Sergij mußte sich vor Gericht verantworten in seiner Eigenschaft als einer der Vorsitzenden der unglückseligen Vereinigung Petersburger Orthodoxer Gemeinden. Er wies die Behauptung (was völlig den Tatsachen entsprach), diese Verwaltung der Gemeinden würde sich angeblich mit Politik befassen, zurück. Persönlich jedoch erklärte er seine völlige Solidarität mit dem Metropoliten.
Der Vorsitzende eben dieser Verwaltung, Prof. J.P.Novitzkij, legte in seinen Erklärungen ausführlich ihre Tätigkeit dar und bewies anhand einer Reihe unwiderlegbarer Tatsachen, daß diese Aktivität sich ausschließlich im Kreis kirchlicher, die Gemeinde betreffender Fragen bewegte.
Der ehemalige juristische Berater der Lavra, I.M. Kov‚arov, der von den ersten Minuten des Prozesses an klar dessen unumgängliches Finale voraussah, gab auf die ihm gestellten Fragen kaltblütige, dem Sinn nach treffsichere und der Form nach oft bissige Antworten.
Aber wollen wir eingehend über das Verhalten der übrigen Angeklagten  (man kann vermuten, daß sie bis jetzt wohlauf sind in Sowjetrußland) während ihrer Vernehmung sprechen. Es genügt festzustellen, daß die Geistlichkeit und im großen und ganzen der gebildete Teil der Angeklagten sich zumeist ruhig verhielten ohne jene panische Schmeichelei, die einem oft bei den Angeklagten in sowjetischen Gerichten auffällt. Es gab keine Fälle von Verleumdungen oder Unterstellungen in bezug auf andere Personen mit dem Ziel die Verantwortung abzuschieben. Viele verhielten sich sehr würdevoll, einige sogar heroisch, indem sie offen ihre Solidarität mit dem Standpunkt des Metropoliten bekundeten.

VII.
Das Verhör der Angeklagten, das fast zwei Wochen gedauert hatte, war zu Ende. Das Tribunal ging zur Vernehmung der Zeugen über.
Der wichtigste und interessanteste von ihnen, Vvedenskij, konnte durch Schicksalsfügung nicht vernommen werden. Am zweiten Prozeßtag, als die Leute aus dem Sitzungssaal auf die Straße herauskamen, schleuderte irgendeine ältere Frau einen Stein auf Vvedenskij, wodurch er eine Kopfverletzung davontrug. War diese Verletzung nun tatsächlich so schwer oder benutzte Vvedenskij den Vorfall, um einer Zeugenaussage im Tribunal zu entgehen - das ist schwer zu entscheiden. Auf jeden Fall erschien Vvedenskij "aus Krankheitsgründen" nicht mehr bei Gericht. Die Staatsanwaltschaft ersetzte ihn durch einen anderen, "gleichwertigen" Zeugen namens Krasnitzkij.
Als erstes wurde ein Mitglied der "Pomgol" verhört, der "Rektor der Universität Zinovjev" namens Kanatçikov, Dieser "Gelehrte" erklärte völlig unerwartet, in Widerlegung von allem, was sogar in der Anklageschrift anerkannt wurde, daß die "Pomgol" niemals auf irgendwelche Verhandlungen und Kompromisse eingegangen sei, und daß die vom Metropoliten in seinen Erklärungen formulierten Vorschläge von Anfang an abgelehnt worden seien. Als der Verteidiger Guroviç ihm seine eigene vorhergehende Aussage entgegenhielt (die inhaltlich dem, was der Zeuge eben behauptet hatte, genau zuwiderlief), erklärte Kanatçikov ohne jegliche Verlegenheit, daß er ein seltsam gebautes Gedächtnis habe, er - ein Zeuge - sei eben ein Mensch von schematischer Veranlagung, an einzelne Fakten würde er sich nie so genau erinnern. Diese originelle Erklärung wurde auf Verlangen des Verteidigers vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommen.
Darauf wurde der Zeuge Krasnitzkij in den Saal geführt: ein noch nicht besonders alter Mann von etwa 40-45 Jahren, groß, hager, kahlköpfig, mit bleichem Gesicht und dünnen, blutleeren Lippen, im Priesterrock. Mit resoluten Schritten und frecher Miene begab er sich an seinen Platz und begann seine "Aussage". Und mit jedem Wort, mit jedem Ton dieser gemessenen und ruhigen, schneidend metallischen Stimme, senkte sich immer mehr tödliches Dunkel auf die Häupter der Angeklagten. Die Rolle des Zeugen war klar. Er war offensichtlich ein "Justizmörder", dessen Aufgabe darin bestand, durch böswillige Insinuationen und durch bewußt falsche Verallgemeinerungen jene Leere auszufüllen, die in diesem Verfahren anstelle von Beweisen gähnte. Und man muß sagen, daß der Zeuge seine Rolle äußerst sorgfältig spielte. Die Worte, die von seinen schlangenartigen Lippen fielen, waren richtige Schlingen, welche dieser Mensch im Priestergewand und mit Brustkreuz, der Reihe nach jedem der Angeklagten um den Hals warf. Lüge und Klatsch, die verantwortungslose und giftige Bezichtigung konterrevolutionärer Ideen: all diese Mittel wurden von dem Pfeiler der "Lebendigen Kirche" in Gang gesetzt.
Die Mitglieder des Tribunals und die Ankläger selber traten zeitweise vor Krasnitzkij in den Hintergrund. Er übertraf sie sogar noch in seinem Bestreben, die Angeklagten zu vernichten. Er glich einer Verkörperung Judas'... irgendwie wurde es unheimlich und drückend im Saal... alle, sogar das Tribunal und die Kläger mit eingeschlossen - ließen die Köpfe hängen. Allen war es unbehaglich.
Schließlich endete auch diese Folter besonderer Art. Krasnitzkij hatte alles gesagt, was er für nötig hielt. Weder das Gericht, noch die Staatsanwälte - ein seltener Fall - stellten ihm eine einzige Frage. Alle wollten so schnell wie möglich die Gegenwart dieser schrecklichen Person loswerden, sie wollten frei atmen können.
Da erschallte die Stimme des Verteidigers Guroviç: "Ich möchte dem Zeugen Krasnitzkij einige Fragen stellen". Mit einem Stapel Zeitungen in der Hand, der sich als die "Diözesan-Nachrichten" der Jahre 1917 und 1918 herausstellte, fragte der Verteidiger Krasnitzkij, ob er der Verfasser der vielen damals in den "Diö-zesan-Nachrichten" mit der Unterschrift Krasnitzkij erschienen Artikel sei, in denen zum Widerstand gegen die Bolschewiken, ja sogar zu ihrer Vernichtung aufgerufen wird.
Krasnitzkij bekannte sich als Autor dieser Artikel und schickte sich schon an, gewisse Erklärungen anläßlich seiner politischen "Metamorphose" abzugeben, aber da wurdeer vom Vorsitzenden unterbrochen, der (allerdings etwas spät) meinte, daß "all dies nicht zur Sache gehöre". Dennoch gelang es der Verteidigung, von dieser Seite her die Persönlichkeit von Krasnitzkij noch einmal zu beleuchten. Den Umstand nutzend, daß dieser sich ziemlich über die "konterrevolutionäre Kadettenpartei" ausgebreitet hatte und dabei beinahe den ganzen Petersburger Klerus des "Kadettismus" (konstitutioneller Demokratismus) beschuldigt hatte, stellte die Verteidigung dem Zeugen eine Frage, worin seiner Meinung nach denn der Kern des politischen Programmes der Kadetten bestünde. "Sie kennen sich doch in politischen Programmen aus. Sie gehörten doch selber einer Partei an. Es scheint, Sie waren früher Mitglied der Russischen Nationalversammlung. - Ja. - Hielten Sie nicht im Dezember 1913 in dieser Versammlung einen Vortrag 'Über die Verwendung des Blutes der Christen durch die Juden'?" "Ja", - konnte der in Verwirrung geratene Krasnitzkij gerade noch hervorbringen. Der Vorsitzende eilte ihm wieder zu Hilfe, indem er verbot, weitere Fragen in dieser Richtung zu stellen. Aber das Ziel war schon erreicht. Die Figur des politischen Renegaten und Verräters war endgültig gezeichnet. J.S.Guroviç forderte die Aufnahme all dieser Vernehmungseinzelheiten ins Protokoll. Im Publikum - Erregung und entrüstete Blicke. Triumphierend, mit einem Lächeln auf den blutleeren Lippen, begibt sich Krasnitzkij zum Ausgang. Danach zeigte er sich nicht mehr im Gerichtssaal.
Als nächster wurde der Priester Bojarskij verhört, einer der Unterzeichner der oben genannten Erklärung in der "Pravda" vom 24. März, welcher sich später (nach dem Prozeß) der "Lebendigen Kirche" anschloß.
Dieser Zeuge täuschte die Erwartungen der Kläger und des Gerichtes. Von ihm erwartete man nämlich Aussagen von der Art wie die von Krasnitzkij; stattdessen lieferte er dem Tribunal eine heiße Apologie des Metropoliten, die umso mehr Eindruck hervorrief, als der Zeuge ein erfahrener Redner und populärer Prediger war. Das Tribunal und die Staatsanwälte, die eine solche Überraschung nicht erwartet hatten, scheuten sich nicht, auf verschiedene Weise ihre Unzufriedenheit mit dem Zeugen auszudrücken; sie stellten ihm zusätzliche Fragen, Bojarskij jedoch blieb stur auf seiner Position. Der Unmut verwandelte sich in offene Wut, als der nächste Zeuge Egorov, Professor der Technischen Hochschule, noch mehr den von den vorhergehenden Zeugen hervorgerufenen Eindruck verstärkte, indem er in allen Einzelheiten die Geschichte der Verhandlungen des Metropoliten mit der "Pomgol" darlegte (Evgorov war einer der Vertreter des Metropoliten) und schließlich durch seine wahrheitsgetreue Erzählung alle in der Anklageakte enthaltenen Schlußfolgerungen zu dieser Sache  zunichte machte.
Die Verbitterung der Kläger und des Gerichtes war so groß, daß der Vorsitzende den Zeugen noch vor Beendigung seiner Aussage  scharf unterbrach und völlig unerwartet eine Pause für einige Minuten verkündete.
In die Geheimnisse der sowjetischen Justiz eingeweihte Personen prophezeiten, daß eine solche Pause "nichts Gutes" bedeute und daß etwas "bevorstünde". Diese Vorsage bewahrheitete sich. Das Gericht kehrte nach etwa 10 Minuten zurück und gab das Wort an den Staatsanwalt Smirnov, der folgendes erklärte: Da aus der Aussage Egorovs klar hervorgehe, daß dieser einer Meinung mit dem Metropoliten und sein Komplize sei, erhebe er, Smirnov, gegen den Zeugen eine entsprechende Klage und beantrage die Hinzufügung von Egorov zu den  in diesem Verfahren Angeklagten und seine unverzügliche Verhaftung. Wenn man auch "irgendetwas" erwartet hatte, so übertraf dieses Ereignis doch alle Vorahnungen. Im Publikum herrschten Bestürzung und Zeichen von Empörung. J.S.Guroviç bittet um das Wort und indem er zum Verteidiger von Egorov wird, sagt er in seiner Rede, daß im vorliegenden Fall der unzweifelhafte Versuch seitens der Anklage vorliege, die ihr unbequemen Zeugen zu terrorisieren, daß es in all dem, was Egorov aussagte, keinerlei Fakten gäbe, die gegen ihn sprechen würden (der Staatsanwalt selber hätte ja gar keine derartigen Angaben gemacht, so sehr sei er offensichtlich schon im voraus vom Erfolg seines Antrages überzeugt gewesen) und daß die Zustimmung des Gerichtes zu dem Antrag des Staatsanwaltes im wesentlichen einer Vernichtung des elementaren Rechtes der Angeklagten auf eine Verteidigung durch die Aussage von Zeugen gleichkäme.
Das Tribunal zog sich "zur Beratung" zurück und als es nach einigen Minuten zurückkehrte, verkündete es eine Resolution über die Gewährung des Antrages des Staatsanwaltes und daß gegen Egorov ein besonderes Verfahren eingeleitet werden muß. Egorov wurde auf der Stelle festgenommen. Solcher Art war die Stellung des Zeugen in der sowjetischen Justiz.
Man kann sich leicht vorstellen, was die restlichen Zeugen dieser Gruppe, besonders diejenigen, die auf Initiative der Verteidigung aufgestellt worden waren, fühlten und ahnten, als sie von diesem Vorfall erfuhren. Zu ihrem Glück "kürzte" das Tribunal die Liste der Zeugen und verschonte diese Personen von einem Verhör. Statt ihrer zogen in einer nicht endenden Reihe einige Tage lang Milizionäre, Agenten der ÇEKA  und ähnliche Leute auf, die  über die Umstände, unter denen dieser oder jener der Angeklagten (hauptsächlich aus der Anzahl der Straßenrebellen) festgenommen wurde, Zeugnis ablegten.