Hl. Neomärtyrer Veniamin, Metropolit von Petrograd

Bote 1990-5
Hl. Neomärtyrer Veniamin,  Metropolit von Petrograd*

VIII .
Gewöhnlicherweise wird in komplizierten viele Tage dauernden Prozessen  nach Abschluß der gerichtlichen Untersuchungen eine Pause für ein oder zwei Tage angesetzt, um beiden Seiten die Möglichkeit zu geben, sich vor der Debatte in dem von ihnen zusammengetragenen Material zu orientieren und "sich mit Argumenten einzudecken". Im vorliegenden Falle war die Pause um so unvermeidlicher, als die Verteidigung zum erstenmal erst in den Gerichtssitzungen mit der Sache vertraut geworden war. Im voraus die Untersuchungsmaterialen zu studieren, die eine Reihe von wuchtigen Bänden ausmachten, war weder die Möglichkeit, noch die Zeit vorhanden. Die Beendigung der vorläufigen Untersuchungen, die Übergabe an das Gericht und die Ansetzung der Sache zur Besprechung erfolgten mit solch blitzartiger Geschwindigkeit, daß die Verteidiger praktisch jeglicher Möglichkeit zur rechtzeitigen Einsichtnahme in die Sache beraubt waren. Es versteht sich natürlich von selber, daß all dies nur "Vorurteile der Bourgeoisie" waren! Das Tribunal erklärte ungeachtet der Proteste der Verteidigung, daß man nach zwei Stunden zur Debatte übergehen würde. Das Wort wurde den Staatsanwälten übergeben. Der Kernpunkt des Zweikampfes zwischen der Anklage und der Verteidigung lag in der Frage, ob man im vorliegenden Fall vom Vorhandensein einer "konterrevolutionären Vereinigung" reden könne. Bei einer positiven Antwort auf diese Frage war das Todesurteil für die Hauptangeklagten unvermeidlich (§ 62 des sowjetischen Strafkodex); bei einer negativen Antwort würden die Strafen auf eine langfristige Gefängnishaft hinauslaufen. Bei einer solchen Aussage denken wir sozusagen an ein akademisches Wortgefecht; im Grunde genommen war das Urteil - wie üblich in derartigen Fällen - schon lange vorher entschieden, was allen sehr wohl bekannt war. "Sie fragen, wo wir die kriminelle Organisation sehen" - rief Krasnikov -, "aber sie steht doch direkt vor Ihnen; diese Organisation ist die Orthodoxe Kirche selber mit ihrer streng gegliederten Hierarchie, ihrem Prinzip der Unterordnung der niederen klerikalen Ränge unter die höheren und mit ihren unverhüllten konterrevolutionären Intentionen". Fast drei Stunden lang stieß Smirnov wutentbrannt und fast hysterisch einzelne Worte und zusammenhanglose Satzfetzen, die jeglicher Grammatik entbehrten, hervor. Das einzige, das man verstehen konnte war, daß er "16 Jahre" fordert. Als er zuerst diese Forderung in den Saal schrie, stimmte dieser durch Applaus zu. Es applaudierte natürlich das "abkommandierte" Publikum, das für diesen Zweck noch durch einige Hundert Rotarmisten verstärkt wurde, die mit ihrem Kommandostab erschienen waren und die Emporen besetzten. Bedauerlich waren die unglückseligen Stenografinnen, die gezwungen waren, diesen "blutigen Unsinn" niederzuschreiben.
Nach der Rede des letzten Klägers begann das Plädoyer der Verteidiger. Als erster der Verteidiger sprach Professor A.A. Œiœilenko, der in seiner Rede eine genaue Analyse des Begriffes "kriminelle Vereinigung" gab und bewies, daß diese Qualifizierung im vorliegenden Falle völlig fehl am Platze war. Dann ging das Wort an den Verteidiger des Metropoliten, an J.S Guroviç.
Zu Beginn seines Plädoyers zeigte Guroviç, daß die Anklage versuchte,  im vorliegenden Verfahren den Schwerpunkt auf das Gebiet mannigfacher historischer, politischer und anderer Exkurse, die mit dem Prozeß überhaupt nichts zu tun haben, zu verlagern. Derartige Angriffe sind charakterlos, unverantwortlich - sie verschleiern nur die absolute Hohlheit der Anklage hinsichtlich einer konkreten Haftung der auf der Anklagebank sitzenden Personen. Wenn der Verteidiger kurz bei diesen "Exkursen" verweilt, dann nur deshalb, weil auch in ihnen so zahlreiche schreiende historische Widersprüche und Unwahrheiten enthalten sind, so viele eindeutige Erfindungen, daß man sie einfach nicht übersehen kann.
Der Verteidiger gab dann eine kurze Analyse der von den Klägern erwähnten "historisch-politischen Ermittlungen" über die frühere Rolle und die Bedeutung des russisch-orthodoxen Klerus und zeigte, daß diese im besten Falle durch eine Tendenz zur Übertreibung und im übrigen durch eine klare Entstellung der Wahrheit zu kennzeichnen sind.
Als klares Beispiel des skrupellosen Umgangs der Kläger mit der Geschichte (und zudem der jüngsten Vergangenheit), nannte Guroviç den Hinweis der Staatsanwaltschaft auf den Bejlis Prozeß, bei der dessen Durchführung Krasnikov beschlossen hatte, die Schuld.... auf den russisch orthodoxen Klerus zu schieben. Ein größeres Hirngespinst kann man sich kaum vorstellen. Allen ist bekannt, daß der russische Klerus nicht nur unbeteiligt an der Anzettelung des unheilvollen Falls Bejlis war, sondern daß sogar umgekehrt, seine besten und gelehrtesten Vertreter gegen die blutige Verleumdung der Juden kämpften. Die damalige Justiz rannte lange in der erfolglosen Suche nach einem "günstigen" Experten innerhalb des orthodoxen Klerus umher. Keiner von ihnen ging auf diese Rolle ein. Man mußte mit dem berüchtigten katholischen Priester Pranaitis vorlieb nehmen, den man irgendwo in Sibirien aufgegabelt hatte und der keine Unterstützung von seinen Glaubensgenossen hatte.
Nicht nur das, der orthodoxe Klerus hatte offen gegen die antisemitische Demagogie in der Sache Beilis gekämpft. Gerade aus der Petersburger Geistlichen Akademie, deren Zöglinge und Professoren jetzt auf der Anklagebank sitzen, war zum Kiever Prozeß einer der namhaftesten  Gelehrten, nämlich Professor Troizkij, erschienen. Er unternahm eine lange, uneigennützige und eigenverantwortliche Arbeit in der Aufdeckung jener jahrhundertelangen blutigen Legende, auf welche der Prozeß Beilis gründete. Es ist weitgehend seinem mannhaften Eintreten für die Wahrheit zu verdanken, daß Rußland nicht durch einen Schuldspruch in der Sache Beilis geschändet wurde. Und nach all dem erlaubt sich die Anklage noch, den russisch orthodoxen Klerus mit der Anzettelung des Beilis Prozesses zu bezichtigen.
"Ich bin glücklich" - sagte der Verteidiger -, "daß ich, als ein Jude, in diesem historischen, für die russische Geistlichkeit sehr traurigen Moment, vor der ganzen Welt dieses Gefühl aufrichtiger Dankbarkeit bezeugen kann, welches - und davon bin ich überzeugt - das ganze jüdische Volk dem russisch orthodoxen Klerus wegen seines damaligen Verhaltens in der Sache Bejlis gegenüber hegt".
Heftige Erregung unter den Angeklagten. Die zu dem Verfahren herangezogenen Professoren der Geistlichen Akademie und viele von den angeklagten Geistlichen können die Tränen nicht zurückhalten. Nach einer kurzen Pause setzte der Verteidiger sein Plädoyer fort. Er erklärte, daß die Verteidigung sich von nun an streng innerhalb der Grenzen des Verfahrens bewege, um der Anklage keine Möglichkeit zu geben, durch künstliche Handgriffe die von der faktischen Seite her totale Bodenlosigkeit des vorliegenden Prozesses zu vertuschen.
Indem Guroviç die eigentliche "Technik" bei der Schaffung dieses Verfahrens entlarvte, nämlich die rein mechanische Aneinanderreihung einzelner Delikte und Protokolle, die weder inhaltlich noch zeitlich zusammenhingen und nichts Gemeinsames hatten, legte er mit allen Einzelheiten die Entstehungsgeschichte des Straffalles dar. Er skizzierte die ganze Vergangenheit des Metropoliten, wobei er auf die Züge seines Charakters und seiner Aktivität hinwies, die den Lesern schon bekannt sind. "Eine der örtlichen Zeitungen - sagte er unter anderem - schrieb über den Metropoliten (offensichtlich wollte sie ihn verletzen), daß er den Eindruck eines 'gewöhnlichen Dorfpfaffen' hervorriefe. An diesen Worten ist etwas Wahres. Der Metropolit ist durchaus nicht der prächtige 'Kirchenfürst', als den ihn die Anklage mit Gewalt hinstellen möchte. Er ist ein demütiger, schlichter, sanfter Hirte der Gläubigen, und gerade in dieser seiner Einfachheit und Demut liegt seine ungeheuere moralische Stärke, sein unwiderstehlicher Reiz. Vor der sittlichen Schönheit dieser lichten Seele müssen sogar seine Feinde sich verneigen. Sein Verhör durch das Tribunal ist allen in Erinnerung. Es ist niemand ein Geheimnis, daß in den schweren Stunden dieses Verhörs, sein weiteres Schicksal im Grunde genommen von ihm selber abhing. Er hätte nur ein wenig der Verlockung nachgeben müssen, nur ein bißchen von dem zugeben brauchen, was die Anklage so begierig war, zu konstatieren, und er  wäre gerettet gewesen. Er ging jedoch nicht darauf ein.  Ruhig, ohne Aufforderung, ohne Geziertheit lehnte er solch eine Rettung ab. Wären viele der hier Anwesenden - ich meine natürlich die über ihn herfallenden Leute - zu solch einem Heldentum fähig? Sie können den Metropoliten vernichten, aber Sie können nicht seine Tapferkeit und den großen Edelmut seines Denkens und Handelns leugnen".
Weiterhin umriß Guroviç die Aktivität der Petersburger Vereinigung Orthodoxer Gemeinden, die Lage der örtlichen Geistlichkeit, die Stimmung der gläubigen Massen... Besonders lange hielt der Verteidiger sich bei den Rädelsführern der "Lebendigen Kirche" auf, in denen er die wahren Schuldigen und Urheber dieses Strafprozesses sah. Er sagte voraus, daß die Sowjetmacht früher oder später von diesen jetzt besonders große Gunst genießenden Leuten enttäuscht sein würde. Die von ihnen geschaffene "Sekte" wird keinen Erfolg haben - das kann man ganz sicher sagen. Ihre Schwäche liegt nicht nur im Fehlen jeglicher Verwurzelung in der gläubigen Bevölkerung und nicht in der Nichtannehmbarkeit dieser oder jener Thesen. In der Geschichte gab es Beispiele, daß auch im Grunde genommen sinnlose Ideen und Sekten Erfolg hatten, zuweilen sogar einen anhaltenden. Aber dazu war eine Voraussetzung notwendig. Die Sekte stellt am Anfang ihres Aufkommens immer eine Opposition, eine Minderheit dar, und dann das Verfolgungsobjekt der Mehrheit. Der heroische Widerstand gegen die Mehrheit, die Macht, die Gewalt, zieht oftmals die Masse auf die Seite der sektiererischen "Aufrührer". Im vorliegenden Fall ist es bei weitem nicht so. Hinter der "Lebendigen Kirche" steht, allen sichtbar, die zivile Sowjetmacht mit allen ihr zur Verfügung stehenden "Skorpionen" und Zwangsapparaturen. Durch Zwang jedoch wird keine Überzeugung geschaffen oder vernichtet. Die mit Erlaubnis und Gutheißung der atheistischen "Anführer" eingeleitete "kirchliche Revolution" kann echte Christen - sogar von den Sympathisierenden - nicht anziehen. Das Volk kann wohl dem reichen und mächtigen Saulus glauben, nachdem er, in einen Paulus verwandelt, aus eigenem Antrieb Reichtum und Stellung für das Hemd des Armen, Gefängnis und Verfolgungsqualen eingetauscht hat. Wandlungen in umgekehrter Richtung schaffen nicht nur keine Popularität, sondern werden auf entsprechende Weise noch angeprangert. Leute, die vom Lager der dem Untergang Geweihten ins Lager der Frohlockenden überwechseln und ihren früheren Brüdern zudem noch Fesseln und den Verderb bereiten - wer von den wahrhaft Gläubigen würde ihnen folgen?
Nein, die Hoffnungen, welche die Sowjetmacht auf den neuen "Bundesgenossen" gesetzt hat, werden sich nicht erfüllen. In Bezug auf die Erstellung der Anklage selber meinte der Verteidiger, daß diese keine ernsthafte Kritik verdiene. Die Formulierung der Anklage wäre schlechthin anekdotisch gewesen, wenn sich nicht tragische Perspektiven hinter ihr abgezeichnet hätten. Dem Metropoliten wird die Tatsache angelastet, daß er mit der Sowjetmacht Gespräche über das Thema der "Änderung oder Milderung der Dekrete über die Konfiszierung der kirchlichen Wertgegenstände" führte. Aber wenn dies ein Verbrechen ist, welche Rolle würden sie dann - so sollen die Kläger einmal nachdenken - dem Petersburger Sowjet zuschreiben, auf Veranlassung dessen diese Verhandlungen ja begonnen wurden, auf dessen Wunsch sie fortgesetzt wurden und zu dessen Zufriedenheit sie endeten.
Wie steht es um die Beweise? Es wäre natürlich völlig absurd, über den Beweiswert jener kompakten Phantastik in den Anklageakten und den Stellungnahmen der Staatsanwälte zu sprechen in Bezug auf die "internationalen Komplotts", an denen der Metropolit und die anderen Angeklagten beteiligt gewesen seien. Übrigens liegt auch nicht mehr Beweiskraft in dem anderen, wenigstens um Konkretheit bemühten Teil der Anklage, der sich auf die angebliche Aufwiegelung  der gläubigen Bevölkerung gegen die Sowjetmacht durch den Metropoliten bezieht.
Worin sieht man die Beweiskraft dieser Handlung? Allein darin, daß der Metropolit auf einer Schreibmaschine erstellte Kopien seiner Erklärung an die "Pomgol" durch ihm nahestehende Personen angeblich im Volk verteilt habe.
Die Verteidigung streitet die Tatsache einer ähnlichen Verbreitung ganz ab. Es erübrigt sich festzustellen, daß die genannten Erklärungen weder nach der Form noch dem Inhalt überhaupt nicht der Vorstellung eines Aufrufes eines geistlichen Hirten an seine Herde entsprechen. Aber ganz abgesehen davon spricht gegen diese Beschuldigung die harte Wirklichkeit und die Logik der Ereignisse. Die Verteidigung legte eine Reihe von Nummern sowjetischer Zeitungen vor, aus denen klar hervorgeht, daß noch bis zur Beschlagnahmung und sogar noch während dieser die Erklärungen des Metropoliten an die "Pomgol" mehrmals von der sowjetischen Presse veröffentlicht wurden. Folglich sorgte die sowjetische Presse selber dafür, daß Zehntausende von Exemplaren der Erklärungen des Metropoliten unters Volk kamen. Was für eine Bedeutung und was für ein Ziel könnten - verglichen mit solch einer Massenverteilung - die wenigen, auf einer Schreibmaschine angefertigten Dutzende von Kopien haben (allerhöchstens 100-150 Kopien, nach Mutmaßung der Anklage)?  Den Metropoliten unter den gegebenen Umständen eines derartigen Vergehens zu bezichtigen - kommt es nicht der Beschuldigung von jemand gleich, der die Ausbreitung eines Feuers, das schon von allen Seiten ein riesiges Gebäude erfaßt hat, dadurch begünstigen wollte, daß er ein brennendes Streichholz in die Flammen warf? ...oder von jemand, der mit der üblen Intention, das Hochwasser noch zu vermehren, sich auf die ihm entgegenstürmenden Wellen warf und... ein Glas Wasser auf sie goß?
Alle derartigen, von den Klägern vorgebrachten "Fakten" bezeugen eigentlich nur eines: daß die Anklage überhaupt keinen Boden unter den Füßen hat. Das ist allen klar. Aber der ganze Schrecken der Lage besteht darin, daß diesem Bewußtsein die Gewißheit der Rechtfertigung, wie sie hätte ausfallen sollen, bei weitem nicht entspricht. Im Gegenteil, immer mehr wächst das unbezwingbare Vorgefühl, daß ungeachtet des faktischen Zusammenbruchs der Anklage einige Angeklagte - unter ihnen auch der Metropolit - dem Untergang geweiht sind. In der Dunkelheit, welche die verborgene Seite der Sache verhüllt, ist deutlich ein weit geöffneter Abgrund sichtbar, in den die Angeklagten unerbittlich "von irgend jemand" gestoßen werden... Diese Vision herrscht finster und mächtig über den äußerlichen juristischen Formen des  Prozesses, und keiner kann von diesen Formen getäuscht werden.
Zum Abschluß sagte J.S. Guroviç etwa folgendes: "Worin endet dieses Verfahren? Was wird die unvoreingenommene Geschichte einmal darüber aussagen? Die Geschichte wird feststellen, daß im Frühjahr 1922 in Petersburg die Beschlagnahmung der kirchlichen Wertgegenstände durchgeführt wurde, daß sie in Übereinstimmung mit den Berichten der verantwortlichen Vertreter der sowjetischen Verwaltung im großen und ganzen 'glänzend' und ohne irgendwelche ernste Zusammenstöße mit den gläubigen Massen verlief.
Was sagt der Historiker weiter, der diese unbestreitbare Tatsache feststellt. Sagt er, daß ungeachtet dessen und zur Empörung der ganzen zivilisierten Welt die Sowjetmacht es für unerläßlich hielt, Venjamin, den Petersburger Metropoliten und einige weitere Personen zu erschießen? Das hängt von Ihrem Urteilsspruch ab.
Sie sagen mir, daß Ihnen die Meinungen der Zeitgenossen und das Verdikt der Geschichte egal seien. Das kann man leicht sagen, - aber tatsächlich in dieser Beziehung innerlich gleichmütig zu sein, ist unmöglich. Und ich möchte auf diese Unmöglichkeit hoffen.
Ich bitte und ersuche Sie um nichts. Ich weiß, daß alle Bitten, alles Flehen, alle Tränen für Sie bedeutungslos sind, - ich weiß auch, daß in diesem Prozeß für Sie an erster Stelle die politische Frage steht, und daß das Prinzip der Objektivität bei ihren Urteilen keine Anwendung findet. Der Vorteil oder der Nachteil ist für die Sowjetmacht. Von dieser Alternative werden Ihre Urteile bestimmt. Wenn es um des größeren Triumphes der Sowjetmacht willen notwendig ist, den Angeklagten "zu entfernen", dann ist er dem Untergang geweiht, ungeachtet der objektiven Bewertung der ihm angelasteten Beschuldigung. Ja, ich weiß, solcher Art ist die Losung. Aber werden Sie beschließen, sie in diesem Verfahren von so ungeheuerer Bedeutung in die Tat umzusetzen? Sind Sie entschlossen, dadurch vor dem Gesicht der ganzen Welt anzuerkennen, daß dieser sogenannte 'Gerichtsprozeß' nur irgendeine gräßliche Heuchelei ist? Wir werden  es sehen...
Sie müssen natürlich bestrebt sein, in diesem Prozeß einen Gewinn für die Sowjetmacht zu erzielen. Passen Sie jedenfalls auf, daß Sie keinen Fehler machen... Wenn der Metropolit für seinen Glauben stirbt, um seiner grenzenlosen Hingabe an die gläubigen Massen wegen - dann wird er gefährlicher als jetzt für die Sowjetmacht... Ein unverbrüchliches Gesetz der Geschichte warnt Sie, daß der Glaube auf dem Blut der Märtyrer wächst, erstarkt und gedeiht... Halten Sie sich daran, denken Sie nach und... schaffen Sie keine Märtyrer..."
Es versteht sich von alleine, daß wir nur einen ganz kurzen Auszug aus dem Plädoyer des Verteidigers angeführt haben.
Im Zusammenhang mit der Rede von J.S. Guroviç darf man einen Umstand nicht vergessen, der höchst charakteristisch ist für die nicht nur unter den Gläubigen, sondern auch unter den Kommunisten (natürlich verhältnismäßig niedriger Ränge) durch den Prozeß geschaffenen Atmosphäre.
Angesichts der Applause, welche die blutigen "Refrains" von Smirnov begleiteten, befürchtete die Verteidigung Manifestationen seitens des tatsächlichen, "freien" Publikums... Daher versuchten die Verteidiger noch vor ihrer Rede das Publikum zu überzeugen, auf jegliche äußere Kundgebung ihrer Gefühle zu verzichten und zwar sowohl im Interesse der Angeklagten als auch des Publikums selber, das allerlei Repressalien unterworfen werden könnte. J.S. Guroviç hielt es sogar für sehr wichtig, in seiner Rede das Publikum noch einmal darauf hinzuweisen; er sagte u.a., er bitte und  hoffe, daß alle - sowohl Feinde als auch Freunde - ihn mit Aufmerksamkeit und vor allem mit der notwendigen Ruhe anhören werden. "Vergessen Sie nicht - fügte er hinzu - daß ich im Namen eines Mannes spreche, der zum Tode verurteilt werden kann; den Worten eines Sterbenden muß man in ehrfürchtiger Stille zuhören".
Aber so lange und gewaltsam die Stimmung des Publikums auch verhalten gewesen sein mag, sie brach nun doch hervor, und dieser Moment fiel mit dem Ende der Rede von J.S. Guroviç zusammen, die von den lange nicht verstummenden Applausen übertönt wurde. Das Tribunal erregte sich, es wollte "Maßnahmen ergreifen", aber es stellte sich heraus, daß an den Applausen die zahlreichen Kommunisten, die einen Teil des Saales besetzt hatten, den lebhafteren Anteil nahmen. Die so unerwartete Zusammensetzung der Applaudierenden erklärt sich dadurch, daß die gewöhnlichen "Massenkommunisten" von der Anzettelung dieses Prozesses gar nicht begeistert waren und, wie sich in der Folge zeigte, ziemlich offen ihre diesbezügliche Entrüstung zum Ausdruck brachten.
Das Verhalten des Tribunals zur Rede des Verteidigers ist auch nicht ohne Interesse. Man muß zugeben, daß sich das Publikum während der Rede äußerlich korrekt verhielt. J.S. Guroviç wurde kein einziges Mal unterbrochen (im ganzen nahmen seine Erklärungen zur Verteidigung des Metropoliten mehr als 6 Stunden in Anspruch). Man merkte auch, daß das Tribunal den Verteidiger mit voller Aufmerksamkeit anhörte. Womit kann man solch ein Verhalten des Tribunals erklären: durch die früher getroffene Entscheidung, dem Verteidiger volle Erklärungsfreiheit zu gewähren oder durch die Unerwartetheit des Aussprechens der bitteren Wahrheit, welche die sowjetischen Tribunale schwerlich oft zu hören bekommen - wir können es nicht beurteilen. Dem Publikum schien es sogar, daß das Tribunal während der Rede des Verteidigers zuweilen Zeichen von Mitgefühl und Erregung manifestierte. Das ist nicht unmöglich. Es ist immerhin sehr schwierig aus lebendigen Menschen vollkommene Marionetten zu machen, wie sehr sich die Bolschewiken auch bemühen mögen. Zu guter Letzt vollzogen die Mitglieder des Tribunals natürlich den Willen ihrer Vorgesetzten, aber vielleicht nicht ganz ohne eine gewisse innere Bitterkeit.
Fortsetzung und Ende folgt.