Die Kirche als Wiederherstellung des wahren Menschen

Anfang - s. Bote 6/92

Doch alle diese blieben persönliche Eigenschaften Jesu Christi, und sein allgütiger Wille mußte diese Eigenschaften ausbreiten: die Sündlosigkeit, die Sieghaftigkeit über die Sünde, die Ununterwerflichkeit unter den Tod, die Freudigkeit des vollkommenen Seins - auf das ganze Menschengeschlecht.
So schafft der Herr zur Verwirklichung dieses Zieles die Kirche, einen neuen, konziliaren Organismus, ähnlich dem, wie die Menschheit vor dem Sündenfall sein sollte, doch mehr mit Gott verbunden, denn Er Selbst, Christus, Gott und Mensch, wird zum Haupt dieses Organismus.
Die Sünde spaltete die menschliche Wesenseinheit, und der sündige Mensch kann nicht mit dem anderen Menschen wesensein werden, er fühlt nur einzelne Strahlen des Abglanzes der Wesenseinheit. Doch der sündlose Mensch kann wesensein mit anderen Menschen werden.
Und nun wird der sündlose Mensch, Jesus Christus, wesensein mit allen Menschen, die sich mit Ihm vereinen und dadurch sündlos werden, daß Er durch Sein Blut unsere Sünden abwusch.
Als der Herr seinen Jüngern schon alles gesagt hatte, was Er vom Vater empfangen hatte, hob er seine Augen zum Himmel und betete zum Vater um die Erfüllung des Werkes, um dessentwillen Er auf die Erde gekommen war. Dieses Gebet war für nichts anderes als für die Errichtung auf der Erde eines neuen einen Daseins - der Kirche - eines Daseins, das bisher der durch die Sünde getrennten Menschheit fremd war und nur durch die alttestamentliche Kirche vorgebildet war.
“Daß alle eins seien, wie du, Vater, in mir und ich in dir; daß auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast ....damit sie eins seien, so wie wir eins sind: ich in ihnen und du in mir, damit sie vollendet seien zur Einheit, auf daß die Welt erkennt, daß du mich gesandt hast und sie geliebt hast, wie du mich geliebt hast.” (Jh 17,21-23). So betete Christus, als Er die Kirche gründete. In diesen Worten Christi sehen wir deutlich die Grundzüge der Kirche als wiederhergestellten gottmenschlichen Organismus: sie - die Glieder der Kirche werden eins sein, nicht irgendwie anders, sondern so wie: “Du Vater in mir und ich in dir”, d.h. nach der Ähnlichkeit der heiligen Dreifaltigkeit und weiter: “Ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien”.
Dies ist schon etwas Neues, völlig Unerahntes. Die Menschheit war bis zum Sündenfall konziliar, d.h. wesensein miteinander, war dazu berufen, in Heiligkeit und Sündlosigkeit, in unendlichem, freudespendendem und Seligkeit gebendem Prozeß sich mit Gott zu vereinigen - doch eine wahre, bereits gegebene Vereinigung mit Gott hatte sie nicht. Aber hier, in der Kirche, wird eine solche Vereinigung gegeben, denn: “Ich - d.h. Christus, der Sohn Gottes - in ihnen”.
Im Lichte eines solchen Verständnisses der Kirche werden alle ihre Grundeigenschaften verständlich.
Heiligkeit - Unfehlbarkeit. Die Kirche ist heilig, nicht durch die Heiligkeit der Menschen, die zu ihr gehören, seien es auch Gerechte, sondern durch die Heiligkeit ihres Hauptes (nicht metaphorisch oder symbolisch, sondern wahrhaftig) Christi, mit dem sie einen Organismus darstellt.
Christus ist der Sünde fremd. Die Gottheit kann in sich keine Sünde haben und folglich kann die Kirche als gottmenschlicher Organismus, der am göttlichen Leben teilhat, in sich keine Sünde haben, wie darüber der Apostel Paulus schreibt (Eph 5,25-27): “Ihr Männer, liebet eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie dahingegeben hat, um durch das Wasserbad mit dem Worte sie zu heiligen und zu reinigen. Er ist es ja, der die Kirche herrlich gestalten will, ohne Flecken oder Runzeln und dergleichen, vielmehr soll sie heilig und ohne Makel sein.”
Die Heiligkeit aber der Menschen, die zur Kirche gehören, ist eben für sie nötig, weil nur durch die Heiligkeit die Menschen in die Kirche eingehen können, in der nichts Unreines sein kann, denn sie ist ein Leib mit Christus. Durch jegliche Sünde fällt der Mensch von der Kirche ab, durch die Buße aber wird er in ihr wiederhergestellt, bis er nach dem Tode vollkommen der Kirche teilhaftig wird, ohne von ihr abzufallen, zum Erben des Reiches Gottes, welches die Kirche ist; oder ein ihr völlig fremder Sohn des Verderbens wird.
Ohne Heiligkeit kann es keine Teilhabe an der Kirche geben. Nicht von Ausnahmen, sondern von allen Christen spricht der Apostel Petrus: 1 Petr 1,15: “Als gehorsame Kinder laßt eure Haltung nicht bestimmt sein von den bösen Leidenschaften eures früheren Lebens in der Unwissenheit, sondern nach dem Willen des Heiligen, der euch berufen hat, werdet auch selber heilig in eurem Wandel.” Uns alle ruft der Herr: “Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.” Und der Apostel Paulus erklärt: “Jetzt, wo ihr von der Sünde euch befreit habt und zu Sklaven Gottes wurdet, ist eure Frucht die Heiligkeit, und das Ende (als Folge) das ewige Leben”, d.h. das Leben in der Kirche (Röm 6,22).
Wenn wir sündigen, so können wir sogleich wieder durch die Buße aufstehen, wieder sündigen und wieder Buße tun, selbst siebenmal siebzig täglich, ohne aufzuhören, ohne nachzulassen in der Buße, weil sie die Tür zur Kirche ist. “Versöhne und vereinige ihn mit deiner heiligen Kirche”, sagt der Priester in dem Gebet bei dem Sakrament der Buße, in dem er den durch Sünden getrennten, doch durch die Reue in die Kirche zurückgekehrten Sünder losspricht. Nicht zu sündigen, ist die Eigenart der Engel; zu sündigen und Buße zu tun, die Eigenart der Menschen; zu sündigen und nicht zu bereuen die Eigenart der Dämonen - so lehren uns die heiligen Väter.
Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum es so wichtig ist, orthodox zu sein, d.h. vollkommen auf dem Standpunkt der Kirche zu stehen: das als böse zu empfinden, was sie für böse hält und für gut all das zu halten, was sie gut nennt, d.h. richtig zu verstehen, was wirklich gut und was wirklich böse ist. Wenn der Mensch nicht von dieser kirchlichen Grundlage abweicht, so kann er, selbst wenn er tief in Sünde verfallen ist, stets leicht den Weg zur Reue finden, zur Wiederherstellung der Einheit mit der Kirche.
Im Gegensatz dazu, wehe dem Menschen, welcher nicht mit der Kirche übereinstimmt in ihrem Verständnis von böse und gut, d.h. nicht die richtige Vorstellung über gut und böse besitzt. Er sündigt schon nicht mehr nur aus seiner Schwäche oder Nachlässigkeit, sondern aus Überzeugung, und ein solcher Mensch findet keinen Weg zur Buße, kann seine Einheit mit der Kirche nicht wiederherstellen, solange er nicht seinen Eigenwillen und seine Überheblichkeit abwirft und sie nicht dem kirchlichen Verstand unterwirft.
So ist unsere Kirche heilig, wenn zu ihr auch hier auf der Erde sündige Menschen gehören. Doch sie gehören zu ihr nur in den heiligen Momenten ihres Lebens, nur mit den heiligen Seiten ihrer Seelen und je mehr sie in ihr Wurzeln schlagen, in ihr gnadenerfülltes Leben eindringen, umso heiliger werden sie, denn die Heiligkeit der heiligen Menschen ist nicht von ihnen selbst, sondern von der Kirche, die Heiligkeit aber der Kirche nicht von den Menschen, die zu ihr gehören, sondern von Christus, dem Herrn, der unverbrüchlich mit ihr verbunden ist, wie das Haupt mit dem Körper. Und es gibt keine andere Heiligkeit außer der kirchlichen. Alles Gute, alle Heiligkeit, die es in der Welt gibt, wo auch immer sie sich befinden mögen, gehört unverbrüchlich der Kirche.
Im Lichte dieser gleichen Vorstellung von der Kirche wie vom konziliaren Leibe Christi wird auch die Einheit und Einzigartigkeit der Kirche deutlich.
Die Kirche ist einheitlich, nicht zertrennt, untrennbar, weil sie ein Organismus mit einem Leben ist, das sie ganz durchdringt. Alles, was sich von ihr trennt, hört auf, sie zu sein, wie abgetrennte Teile des Körpers eines lebendigen Menschen aufhören, sein Körper zu sein.
Folglich kann man, streng genommen, nicht z.B. von der Teilung der Kirche sprechen, sondern man kann nur von dem Abfall von ihr sprechen, welcher Art es alle möglichen Häresien und Schismen gab.
Als Trennungen sind jedoch nicht die Unterteilungen der Kirche anzusehen, wie z.B. die Ortskirchen: die russische, griechische, serbische, bulgarische, rumänische.
Alle diese Ortskirchen stellen die eine orthodoxe Kirche dar. Sie sind sogar nicht einmal Teile der Kirche, denn die Kirche ist nicht in Stücke teilbar, sondern nur örtliche, durch den Charakter des Volkes und des Staates bedingte, eigene Erscheinungsformen ein und derselben Kirche. Die Besonderheit jeder Landeskirche kann sehr groß sein, doch die Einheit wird unverbrüchlich bleiben, sogar unangetastet, wenn die kirchliche Wahrheit nicht verletzt ist, nicht angerührt.
Auch wird die Kirche nicht durch die in der theologischen Wissenschaft eingeführte Unterteilung in die sichtbare und unsichtbare - irdische und himmlische - Kirche, getrennt.
Diese Unterteilung besteht nur in Hinsicht auf den Menschen, nicht aber dem Wesen nach. Ihrem Wesen nach ist die unsichtbare Kirche - sie, deren unsichtbares Haupt Christus ist und zu der die Engel und alle geretteten Menschen gehören, - und die sichtbare Kirche, die aus den auf der Erde lebenden orthodoxen Menschen besteht, ein und dieselbe. Wenn eine Ameise von der Erde auf den Menschen schaut, und nur einen Fußzehen sieht, aber der ganze übrige Mensch: Kopf, Hände, Beine und Körper in der Höhe vor dem Ameisenblick verschwinden, so wird der von der Ameise beobachtete Mensch in einen sichtbaren Teil (dem nächsten, dem Fußzehen) und einen unsichtbaren (alles übrige) getrennt. Dem Wesen nach aber gibt es eine solche Trennung im Menschen nicht. So teilt sich auch die Kirche, die dem Wesen nach vollkommen eine ist, in den für unseren Blick zugänglichen und denjenigen Teil, der unserem Blick nicht zugänglich ist. In vollem Maße aber besteht eine solche Teilung nur solange, wie wir ähnlich der Ameise, die den Menschen betrachtet, die Kirche von außen betrachten, als Außenstehende. Wenn wir aber in diese Eingang finden, als Teile ihres Leibes, so verschwindet für uns diese Trennung und wir fühlen klar, wenn auch unaussprechlich ihre Fülle, die ganze Unteilbarkeit ihres Lebens.
Mit der Frage nach der Einheit der Kirche ist auch die Frage ihrer Konziliarität verbunden, wovon wir schon genügend gesprochen haben, wozu wir jedoch noch einige Erklärungen hinzufügen müssen.
Wir können eine konkrete Frage stellen: Warum fühlen wir als Glieder der Kirche nicht real die in ihr wiederhergestellte wesenseine Konziliarität sowie ihre vollkommene Einheit und Untrennbarkeit?
Weil wir nur teilweise, nur durch die heiligen und sündlosen Seiten unseres Lebens und nur in den äußerst heiligen Minuten unseres Lebens in der Kirche stehen, und uns unzureichend ihr anheimgeben. Weil in unserer Seele immer zu viel eigenwillige, nicht verkirchlichte Zweige bleiben. Denn sogar theoretisch wagen wir es oft, unkirchliche und antikirchliche Gedanken zu vertreten. Und für die wirkliche Verkirchlichung ist es nicht nur notwendig, vollkommen mit der Kirche in Gedanken eins zu sein, sondern auch diese kirchlichen Ideen im Leben zu verwirklichen, in der ganzen Tiefe des Lebens der Seele.
Unsere heiligen Asketen, die ihre Seele bis zum Grund gereinigt haben und sie völlig verkirchlicht haben, d.h. sie völlig an Gott teilhaftig haben werden lassen, fühlten diese Einheit, die kirchliche Konziliarität in höchstem Maße.

 

Übrigens ist auch uns gewöhnlichen und unwürdigen Kindern der Kirche das Bewußtsein und die Empfindung ihrer Einheit und konziliaren Einwesentlichkeit nicht vollkommen unzugänglich. Wenn wir die Heiligenleben lesen, fühlen wir zuweilen trotz all unserer Unwürdigkeit ganz deutlich und real unsere Verwandtschaft mit ihnen; wir empfinden die Wesentlichkeit, Nähe, die Lebenswichtigkeit der Interessen, Erlebnisse und Worte bei Kirchenvätern und Kirchenlehrern, von denen uns eine Zeitspanne von über tausend Jahren trennt.
Die Kirche bemüht sich, dieses konziliare Empfinden in uns zu entwickeln, indem sie uns beispielsweise die Möglichkeit gibt, bei den festlichen Gottesdiensten dieselben Gefühle zu erleben, welche diejenigen, die ursprünglich an dem jeweils begangenen kirchlichen Ereignis beteiligt waren, erfuhren und uns so konziliar mit ihnen, die jetzt unzertrennlich der triumphierenden, himmlischen Kirche angehören, zu vereinigen.
Ganze Abschnitte des Gottesdienstes widmet die Kirche sogar dem Nacherleben der alttestamentlichen Epoche und gibt uns, ihren hilflosen Kindern, so die Mittel zur Realisierung der konziliaren Einheit auch mit den Kindern jener entfernten Epoche, die zu ihren Lebzeiten die Kirche wohl erahnten und erhofften, jedoch erst nach ihrem Tod durch Christus, den Erlöser, in der Stunde seines Sieges über die Hölle, mit ihr vereint wurden.
Und dank dieser Gemeinschaft untereinander kann jeder von uns orthodoxen Christen bei der Begegnung mit irgendwelchen, manchmal ganz unbekannten, aber doch tief orthodox gläubigen Menschen diese Einheit erfahren. Sie erscheinen uns sozusagen sofort wie Verwandte und Nahestehende, näher und vertrauter als uns zuweilen sogar unsere eigenen Verwandten sind, die weniger eins im Denken und im Glauben mit uns stehen und mit denen uns nur die körperliche Verwandtschaft verbindet – es ist dies ein Abglanz der ursprünglichen, nach dem Sündenfall verloren gegangenen Einwesentlichkeit.
Dies empfanden wir einige Male sehr deutlich und klar bei der Begegnung oder dem Briefwechsel mit gläubigen Menschen aus der UdSSR, die nun schon 25 Jahre lang von uns getrennt sind, die ein ganz anderes Leben führen und die uns nichtsdestoweniger durch die kirchliche Konziliarität als so vollkommen nahe erscheinen.
Eine ähnliche, sehr bedeutsame Erfahrung machte ich 1938 in England auf der Studenten-Konferenz in Hayley. Unter den orthodoxen Teilnehmern waren Russen, Griechen, Serben, Bulgaren, Rumänen, Syrer – Menschen verschiedener Völker, Rassen, Kulturen und verschiedenen kulturellen Niveaus, die, was das außerkirchliche Leben anbetrifft, überhaupt nichts Gemeinsames miteinander hatten. Aber in Sachen des Glaubens, sofern sie auf dem Boden der Kirche blieben, waren sie vollkommen einmütig – und gerade diese Tatsache machte einen großen Eindruck auf die andersgläubigen Teilnehmer der Konferenz.
Leider blieben einige der offiziellen orthodoxen Konferenzteilnehmer nicht auf kirchlichem Boden und brachten deshalb Unstimmigkeit in unsere Mitte und schwächten den missionarisch so wichtigen Eindruck der vollen konziliaren Einheit unter den Orthodoxen. Um richtig über diese Einheit und über vieles andere zu urteilen, muß man immer bedenken, daß schließlich nicht die offizielle Zugehörigkeit zu der Kirche einen Menschen orthodox macht, sondern die Kirchlichkeit seines Denkens und Wollens.
Dabei gab es andere Konferenzteilnehmer, nämlich die Anglikaner, die ein und demselben Volk, ein und demselben kulturellen Milieu angehören und in ihren Neigungen und Gewohnheiten eine völlige Einheit darstellen; in Glaubenssachen waren sie jedoch tief gespalten, obwohl sie offiziell zu ein und derselben Kirche gehören.
Dabei wird die Einheit in der Orthodoxen Kirche nicht durch äußere Autorität, etwa ähnlich der päpstlichen Autorität in der römischen Kirche, sondern ausschließlich durch die innere Einheit des Lebens sichergestellt. Eben diese Einheit des Lebens macht die Konziliarität aus.
In den ersten Jahrhunderten des Christentums, als das kirchliche Leben sich der größten Konzentriertheit erfreute, als die Christen völlig und gänzlich in der Kirche lebten und sie außerhalb der Kirche keinerlei Interessen hatten, trat diese Konziliarität mit besonderer Kraft zu Tage. In den verschiedenen Randgebieten der damaligen christlichen Welt, in Spanien und Mesopotamien, in Mauretanien und Gallien, führten Christen, die sich nicht untereinander abgesprochen hatten, ein innerlich so vollkommen identisches Leben, daß Christen die aus Damaskus nach Massilia übersiedelten, sich in der kirchlichen Gemeinschaft des fremden Landes völlig zuhause fühlten.
Und alles, was sich ohne offizielle Versammlungen, ohne besondere Beschlüsse damals an äußerlich bunten, aber innerlich vollkommen einmütigen, verschiedenartigen christlichen Gesellschaften entwickelte, war der Ausdruck des Willens und des Lebens des in der Kirche wirkenden Heiligen Geistes.
In der Folge, als sich die Möglichkeit dazu auftat, manifestierte sich dieser Geist der Konziliarität, eine Funktion des Heiligen Geistes, auf der Versammlung der Bischöfe, welche die feierliche Bezeichnung “Ökumenische Konzilien” erhielten, und die kühn und im vollen Bewußtsein ihrer Berufung, verkündeten: “Es gefiel dem heiligen Geist und uns.”
Die Konziliarität ist keine allgemeine Unterordnung unter eine heutige oder frühchristliche Autorität, sie ist keine sklavische Unterwerfung unter Anordnungen darüber, was man zu glauben oder zu denken habe, sie ist keine detaillierte Erörterung von Fragen, wie man über dieses oder jenes im Altertum dachte. Der orthodoxe Christ glaubt und bekennt nicht so, wie es ihm dieser oder jener Patriarch oder Hierarch befiehlt, nicht so, wie es ihm dieser oder jener frühe Kirchenlehrer vorschreibt, sondern so wie es ihm sein Gewissen eingibt, sein in der Kirche lebendes Bewußtsein; aber dieses sein Gewissen, dieses sein Bewußtsein prüft er ständig an der Stimme der Orthodoxen Konzilien, der heiligen Väter und jener seiner Zeitgenossen, von denen er weiß, daß sie wirklich und echt in der Kirche leben. Und wenn er in seinem Gewissen und in seinem Bewußtsein eine Divergenz mit ihnen feststellt, dann beharrt er nicht hartnäckig auf seinem im Widerspruch zur Kirche stehenden Standpunkt wie ein Protestant, er ordnet sich aber auch nicht in sklavischer Weise nur äußerlich der autoritativen Stimme der Kirche des Konzils oder des Hierarchen unter, sondern er ist sich bewußt, daß, wenn sein Verständnis in Widerspruch zu der kirchlichen Lehrmeinung gerät, dies ein Zeichen dafür ist, daß in seinem Bewußtsein irgendein wesentlicher Fehler steckt, und nicht nur einfache Unterordnung nötig ist, sondern eine Besserung seiner gesamten geistlichen Haltung durch Reue und demütiges Gebet, solange bis er wieder die innerliche Einheit mit der Kirche erlangt. In der Konziliarität zu stehen, ist nicht einfach. Das fordert eine ständige Anspannung und großen Einsatz. Dazu, sowie in bezug auf das gesamte Leben in der Kirche, sagt Christus: “Das Himmelreich (d.h. die Kirche) wird mit Gewalt bestürmt und Gewaltsame (auf kirchenslavisch: die sich dazu Nötigenden) reißen es an sich” (Mt 11,12).
Aber die Kirche ist nicht nur eine, sondern sie ist die einzige, weil sie ein Haupt hat, Christus. Alles, was mit Ihm in Gemeinschaft steht, ist eins mit ihr, und wird folglich zu dem ihrigen.
Außerdem ist die in der Kirche verkörperte Wahrheit eine einzige. Wahrheiten kann es keine zwei oder mehrere geben. Wenn in wichtigen und präzisen Glaubensfragen zwei oder mehrere verschiedene Meinungen zum Ausdruck gebracht werden, dann kann die richtige nur eine sein, während alle anderen falsch sind. Und das bedeutet, daß die wahre Kirche nur eine sein kann.
Damit man uns nicht der Willkürlichkeit in der Lehre über die Kirche als des Leibes Christi und über die konziliare Einheit ihrer Glieder bezichtige, führen wir die Belehrung des Apostels Paulus zu diesem Thema an.
Der Apostel schreibt: “Gott hat unseren Herrn Jesus Christus zum Haupt über alles der Gemeinde gegeben, die sein Leib ist... Und euch, die ihr tot wart durch eure Übertretungen und Sünden, in denen ihr einst nach dem Gesetz dieser Welt gewandelt seid – unter dem Einfluß jenes Fürsten, der mächtig ist im unsichtbaren Bereiche, jenes Geistes, der jetzt noch in den Glaubenslosen wirksam ist... Und wir waren von Natur aus Kinder des Zornes wie alle übrigen... Gott aber, reich an Erbarmen, wie Er ist, hat in seiner großen Liebe, die er uns erwiesen... uns, die wir durch unsere Vergehen tot waren, mit Christus lebendig gemacht... Jetzt aber seid ihr, die einstmals Fernen, in Christus Jesus nahegekommen durch Christi Blut. Denn er ist unser Friede, Er hat die beiden Teile eins gemacht und die trennende Scheidewand, die Feindschaft, beseitigt: in seinem irdischen Leibe hat Er das Gesetz mit seinen fordernden Geboten außer Kraft gesetzt, um als Friedensstifter die beiden Teile in seiner Person zu dem einen neuen Menschen umzuschaffen und beide mit Gott in seinem einen Leibe zu versöhnen... Ja durch ihn haben wir Zutritt zum Vater, in einem Geiste. So seid ihr denn nicht mehr Fremde und Beisassen, sondern seid Vollbürger mit den Heiligen und seid Hausgenossen Gottes” (Eph 1,23 – 2,19).
“Und so gab Er die einen als Apostel, andere als Verkünder aus dem Antrieb des Geistes, wieder andere als Evangelisten, als Hirten und Lehrer, um die Heiligen für das Werk des Dienstes zu bereiten: zum Aufbau des Leibes Christi... bis wir alle durch wahre Liebe zu dem zurückkehren, der das Haupt ist, Christus... aus dem der ganze Leib zusammengefügt und zu fester Einheit verbunden durch jedes Glied, das dem Ganzen dient, gemäß der Kraft, die jedem einzelnen Teile zugemessen ist; und so wirkt Er das Wachstum des Leibes zu seinem Aufbau in der Liebe” (Eph 4, 11-16).
“Christus ist das Haupt seines Leibes, der Kirche” (Kol 1,18).
“Wie Christus das Haupt der Kirche ist” (Eph 5,23).
“Jetzt ergänze ich in meinem irdischen Leben, was an den Leiden Christi noch aussteht, zugunsten seines Leibes, der Kirche” (Kol 1,24).
“Denn wie wir an einem Leibe viele Glieder haben, doch nicht alle Glieder den gleichen Dienst versehen, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, und im Verhältnis zueinander Glieder” (Röm 12,4-5).
“Denn wie der Leib eine Einheit ist und doch viele Glieder hat, und wie alle Glieder des Leibes, obwohl eine Vielheit, den einen Leib bilden, so ist es auch mit Christus. Sind wir doch alle in einem Geiste zu einem Leib getauft, ob Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und alle sind wir mit einem Geiste getränkt. Auch der Leib besteht nicht aus einem Gliede, sondern aus vielen... und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied ausgezeichnet ist, so haben alle an seinem Wohlsein teil” (1 Kor 12,12-26).
Gerade ein solches Verständnis der Kirche bildete stets den Reichtum der gesamten orthodoxen Welt...
So ist die Kirche etwas vollkommen Neues, Besonderes und die einzige Vereinigung auf Erden, die sich einer präzisen Definition mit aus dem weltlichen Leben genommenen Begriffen entzieht.
Die Bezeichnung der Kirche als “Gesellschaft” ist sehr ungenau, weil eine irdische Gesellschaft aus Personen besteht, die fast gänzlich selbstbezogen sind, wie die Individuen unserer gefallenen Welt es eben im allgemeinen sind; sie unterliegt juristischen Gesetzen, die diese Selbstbezogenheit implizieren und durch sie bedingt sind, und die sich sogar noch über jene Reste von Konziliarität hinwegsetzen, die der Mehrheit der Menschen angeboren sind. Wir können uns einfach keine Gesellschaftsform vorstellen, die nicht auf einem Kodex von Rechten und Pflichten der Mitglieder beruht, sondern auf gegenseitigem Mitleiden und Mitgefühl oder auf der gegenseitigen Anteilnahme am Leben des anderen wie des eigenen.
Die Kirche ist aber durch und durch konziliar, und jeder Ersatz der konziliaren Beziehungen ihrer Glieder durch juristische führt zu Fall und Verlogenheit.
Man könnte die Kirche mit der Familie vergleichen, der einzigen Art von Gemeinschaft, die sich nicht auf juristischen, sondern auf natürlichen, wenn auch unvollständigen, konziliaren Grundlagen aufbaut. (Es wird davon ausgegangen, daß der Mann die Frau wie sich selber liebt, und ihr Leben als das seinige lebt sowie umgekehrt, und daß dieser Art auch die Beziehungen der Eltern zu den Kindern sind). Aber die Familie ist doch etwas zu spezifisch und begrenzt, obwohl sich die Heilige Schrift zur Klärung des Begriffes Kirche auch der Analogie mit der Familie bedient: kraft unseres Status als Kinder der Kirche rufen wir Gott mit “Unser Vater im Himmel” an; die Vereinigung des Christen mit Christus in Einwesentlichkeit ist wie eine Ehe der Seele mit dem Himmlischen Bräutigam; die Ehe des Lammes, u.ä.
Die beste Analogie vermittelt der vom Apostel Paulus angeführte Vergleich mit dem Leib. Aber der Gedanke des Apostels, der auf den Zweck des Leibes, d.h. der Kirche, nämlich “sein Zunehmen an Liebe” hinweist, verletzt schon das Bild des Leibes, der ja gar keine Liebe kennt. Dadurch wird wieder deutlich, daß der Begriff von der Kirche ein ausschließlicher, in irdischer Sprache nicht auszudrückender ist.
Aus allem oben Ausgeführten sehen wir, daß die Kirche das Ebenbild des Dreieinigen Seins ist, ein Idealbild, in dem viele Personen zu einer einzigen Existenz werden.
Warum ist uns ein solches Dasein, wie das der Trinität so unverständlich und so schwer in Worte zu fassen?
Weil in unserem natürlichen Bewußtsein die Persönlichkeit ein egozentrisches, jeglicher anderen Person völlig entgegengesetztes Wesen ist, und dies in einem solchen Maße, daß die Erörterung des grundlegenden Gegensatzes von “ich” und “nicht ich” zu dem Eckstein der europäischen Philosophie wurde (Descartes).
Dagegen schließt die sich in der Kirche entwickelnde Persönlichkeit die gesamte Konziliarität ein: Selbstentsagung und wahre Nächstenliebe, verbunden mit einem hohen Grad der Entwicklung des personalen Selbstbewußtseins. Als typischer Vertreter der Aneignung einer solchen konziliaren Haltung gilt der Typus der Heiligen in der Kirche – wir denken dabei an die Märtyrer, die Asketen, die heiligen Bischöfe... In allen diesen drei Typen, die den äußeren Gegebenheiten des Lebens nach in höchstem Grade voneinander verschieden waren, finden wir ein und dieselbe Harmonie zweier Prinzipien, die sonst mit der natürlichen, gefallenen Vernunft nicht vereinbar erscheinen.
All diese drei Typen sind Giganten des Willens mit einem sehr intensiven Bewußtsein ihrer eigenen Verantwortung, und gleichzeitig ist ihnen nicht nur jeder grobe, alltägliche Egoismus, sondern auch jegliche feine Überheblichkeit, jeglicher Anspruch auf persönliche Rechte völlig fremd.
Die christliche Wahrheit über die Kirche, als über eine konziliare Daseinsform ähnlich der der göttlichen Dreieinigkeit – nicht nur in der Idee, sondern auch in der Praxis – befreit den Menschen von dem natürlichen Widerspruch zwischen selbstbewußter Persönlichkeit und selbstverleugnender Liebe als Lebensprinzip. Eben deshalb ist das Dogma der Trinität ein grundlegendes Dogma des christlichen Glaubens, und die Eigenschaft der Konziliarität eine grundlegende Kategorie der Kirche.
Die Schaffung der Kirche als eines gottmenschlichen Organismus war die größte Tat der göttlichen Liebe, der Sieg Christi über den Teufel.
Die Listen des Fürsten der Finsternis wurden durch das Werk des größten göttlichen Erbarmens zerstört, was der Teufel in seinem Hochmut nicht erwartet hatte. Er, der stolze, mächtige Geist, die Morgenröte, der Erstling der Schöpfung, verachtete die Menschen, die geistigkörperlichen, hilflosen Geschöpfe; er konnte überhaupt nicht ahnen, daß der Sohn Gottes, der Schöpfer und Herr, mitherrschend mit dem Vater und dem Heiligen Geist, selbst einer der Menschen werden würde.
Doch das Reich der Finsternis wurde dadurch zerstört, die Hölle zerschlagen. Die Tore des Himmelreiches öffneten sich wieder weit für die Menschen, noch weiter als zuvor, und in breitem Strom strömten die Geretteten in das Reich der Freude, das ihnen “seit Anbeginn der Welt bereitet war” (Mt 25,34).
Aber der Feind Gottes und der Menschen wollte die Waffen nicht strecken. Da er sich beschämt sah durch die Schaffung der Kirche, konzentrierte er nun seinen ganzen Haß auf sie und bemühte sich zuerst, die Kirche physisch zu zerstören durch den direkten Angriff auf sie zu Zeiten der Christenverfolgungen, und als er sich von der Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen überzeugt sah, versuchte er sie von innen her, durch das Aufkommen von Häresien zu sprengen.
Aber die ersten Häresien erreichten ihr Ziel nicht. Bei der hohen Anspannung des kirchlichen Lebens, mit der fortschreitenden Entwicklung der Konziliarität und der ungeteilten Konzentration der frühen Christen in der Kirche wurden diese falschen Lehren von den Christen leicht als andersartige, fremde Elemente erkannt, die nicht allgemein gültig, d.h. nicht konziliar waren, und ihre Träger wurden daher aus der Kirche Christi ausgestoßen. So wurden die Gnostiker, Sabellianer, Doketisten ziemlich leicht entlarvt und widerlegt.
Aber mit dem Wachstum der Kirche in die Breite, mit dem Einströmen von immer neuen und neuen Menschenmassen erschlaffte die Fülle des Lebens in der Kirche und christlichen Gesellschaft, die Wachsamkeit ließ nach, die Feinfühligkeit stumpfte ab, und wir sehen, wie die Häresien des Arius, des Nestorius und der Monophysiten viele Millionen von Christen an sich ziehen.
Nichtsdestoweniger brachten auch diese Häresien dem Christentum noch keinen einschneidenden Schaden. Von irgendeinem Menschen oder einer Gruppe von Menschen, deren Auffassung über dieses oder jenes religiöse Problem mit dem konziliaren, katholischen Verständnis konfrontierte, ausgeklügelt, zogen diese Häresien eine größere oder kleinere Zahl von Anhängern mit sich – zuweilen auch, wie es beim Arianismus der Fall war, abgesehen von einigen geistigen Helden, fast die ganze offizielle christliche Welt. Aber die Menschen folgten den Neuerern nicht aus innerer Übereinstimmung, sondern entweder aus Furcht vor dem Zwang der weltlichen Macht oder einfach aus Denkfaulheit, weil das Durchhalten in der Orthodoxie eben immer heldenmütige Anstrengung erfordert.
Dann begannen, nach dem ursprünglichen Erfolg, die Häresien zu erschlaffen, und zwar nicht so sehr äußerlich als innerlich durch das Abnehmen der Rechtschaffenheit, den Verlust des Gefühles der Katholizität, d.h. der Konziliarität. Und wenn die Nachfolger dieser Häresien auch noch an manchen Orten vorhanden waren, so spielten sie doch bald nur noch eine regionale Rolle.
Trotz der Erschütterung durch die Häresien, des Mangels an Kirchlichkeit, hervorgerufen durch ein Hereinfluten in die Kirche von Leuten, die noch gestern Heiden waren, trotz einer gewissen Erkaltung des religiösen Eifers im Vergleich zu der Zeit der Verfolgungen, bot die christliche Welt in der Periode vor dem Beginn der Teilung in West- und Ostkirche, d.h. im 5., 6. und 7. Jh., ein verhältnismäßig klares und lichtes geistiges Bild.
Die Heiligenviten, das Leimonarium (Pratum spirituale), die Historia Lausiaca und andere Werke des Altertums berichten uns, wie sich damals im ganzen geographisch Raum, den der Horizont des europäischen Menschen umfaßte, die heilige Kirche Christi in die Breite und in die Tiefe wuchs. Millionen von Menschen rissen sich aus der Macht der Sünde los und wurden zu Gliedern des Leibes Christi. Trotz der Verschiedenheit der in die Kirche gekommenen Völker war das kirchliche Leben von Spanien bis Mesopotamien eines; und in diesem ganzen Raum lebten nicht etwa nur einzelne, sondern Tausende von Gerechten, so daß in jeder Ecke der christlichen Welt, jeder Mensch, der gänzlich Christus dienen wollte, ein wahres, gutes Vorbild für sich finden konnte.
Im 9. Jh. zeichnet sich zuerst der unheilvolle Riß zwischen Christen des Orients und des Okzidents ab, jener Riß, der in der Folge das bedauerliche Schisma nach sich zog, das nun schon jahrhundertelang von der ganzen christlichen Welt so schmerzlich empfunden wird. Wie kam diese Spaltung zustande?
Die dunkle diabolische Kraft baut ihre Verführung stets auf diesen oder jenen, im Grunde genommen nicht sündigen menschlichen Schwächen auf. Das gilt auch in bezug auf das ganze Volk oder die Gesellschaft und die ganze Menschheit. Klären wir dies anhand eines Beispieles: Der Mensch ist hungrig, was an sich noch keine Sünde ist, aber durch das Gefühl des Hungers fängt der Teufel den Menschen und zwingt ihn, seinem Bauch zu dienen. Diese Bauchdienerei ist nun bereits schon Sünde. Erinnern wir uns z.B. an den Vorgang der Versuchung Christi, des Erlösers, durch die Brote in der Wüste.
Die Trennung zwischen der Westlichen und der Östlichen Kirche wird oft durch einen psychologischen Unterschied zwischen Ost und West erklärt. Dieses Argument ist jedoch nur teilweise zutreffend. Der Unterschied selbst ist noch keine Sünde und noch kein zwingender Grund zum Schisma. Er bestand nämlich schon von Anfang an, und nichtsdestoweniger lebte die Kirche Christi ein einziges Leben. Die segensreiche Einheit der Kirche war fähig, alle verschiedenen Formen menschlicher Mentalität zu überdecken, so wie ein wasserreicher Fluß über alle Sandbänke und im Flußbett liegenden Felsen hinwegfließt. Dagegen sorgt die psychologische Mannigfaltigkeit der verschiedenen der Kirche angehörenden Menschengruppen für Reichtum und Vielseitigkeit kirchlicher Kultur.
Dennoch gab es in der Reihe der Ursachen, die die psychologische Differenz zwischen Orient und Okzident bedingten, eine, die bis zum Zeitpunkt der Trennung vielleicht noch keine Sünde, doch zumindest ein Mangel des Okzidents im Vergleich zum Orient war.
Der Orient und der Okzident empfingen von der heidnischen Antike ein verschiedenes kulturelles Erbe. Der Orient übernahm die hellenistische Philosophie, der Okzident das römische juristische Staatsdenken.
Doch der Osten schmolz die von ihm übernommene hellenistische Philosophie in eine christliche um. Versuche, die Früchte heidnischer Philosophie unmittelbar in das christliche Bewußtsein einzupflanzen, wie sie von Gnostikern, Sabellianern, Arianern und anderen Häretikern unternommen wurden, wies die Kirche kategorisch zurück, und die Philosophie begann ihren Platz im kirchlichen Bewußtsein des Ostens erst dann einzunehmen, als sie durch das ganze kirchliche Prisma gelaufen war.
Eine solche Entwicklung sehen wir im Westen nicht. Dort wurden die juristischen und staatlichen Vorstellungen des heidnischen Roms nicht vom Christentum umgeschmolzen. Im Westen sehen wir weder den Kampf um die Schaffung einer christlichen Weltanschauung, noch die Arbeit um die Umformung der römischen heidnischen Psychologie.
Solange die Einheit mit dem Orient noch bestand, war diese innere Inaktivität des Westens noch nichts Schlimmes, da der rechtgläubige Westen seine grundlegende christliche Weltanschauung einfach aus dem orthodoxen Osten schöpfte.
Dagegen erwies sich in der stürmischen Periode des Aufkommens der Häresien und des Kampfes mit ihnen der ruhige, in der Rechtgläubigkeit nicht wankende Westen als eine wertvolle Stütze für den Osten.
Für den Westen jedoch barg gerade diese Gelassenheit eine große Gefahr in sich. “Es muß auch Spaltungen in eurer Mitte geben, damit die Bewährten in eurer Mitte offenbar werden” (1 Kor 11,19), schreibt der Apostel Paulus.
Der Osten hat sich daran gewöhnt, daß die Orthodoxie von vielen Stürmen umtost wird, daß man für sie kämpfen muß, daß alle Christen, vom Hierarchen bis zum Laien, für sie Verantwortung tragen, während der Westen sich an den Gedanken gewöhnt hat, daß die Rechtgläubigkeit ihm ein für allemal geschenkt ist, und er einfach deshalb rechtgläubig ist, weil er der Westen ist.

Bote 1993-3

Abgesehen von psychologischen Ursachen wird üblicherweise als Trennungsgrund auch die immer größer werdende Bedeutung des römischen Papsttums angeführt. Doch ist dieses Phänomen an und für sich noch nichts Sündhaftes.
Wir wissen, wie in der alten Kirche manche Bischofstühle immer wichtiger wurden, besonders die sogenannten apostolischen “kathedrai”, d.h. jene, die unmittelbar von den Aposteln gegründet wurden, und die diese über kürzere oder längere Zeit in ihrer Eigenschaft als “episkopoi” einnahmen. Solche Stühle gab es im Osten mehrere, im Westen jedoch nur einen einzigen, nämlich den römischen der heiligen Apostel Petrus und Paulus.
Unter diesen anfangs vollkommen gleichartigen, gleichberechtigten Bischöfen taten sich allmählich die Archiepiskopoi, die Metropoliten, die Patriarchen hervor. Diese schrittweise Zentralisierung der Kirche erwies sich für die bessere Organisierung des kirchlichen Lebens als notwendig. Theoretisch kann man sich leicht vorstellen, daß letzten Endes die Kirche hier den Schlußstrich hätte ziehen können und daß sie unter einem einzigen höchsten Patriarchen administrativ vereinigt gewesen wäre.
Zur Teilung kam es jedoch auch dann noch nicht, als im Okzident die falsche Meinung über das Ausgehen des Heiligen Geistes “auch vom Sohn” (filioque) entstand, gegen die anfangs sogar die römischen Päpste Leo III. und Adrian I. protestierten.
Die Spaltung trat erst dann ein, als der Westen auf seinem Irrtum beharrte und sich das Recht anmaßte, offiziell diese seine persönliche unrichtige Meinung als unumstrittene Wahrheit zu proklamieren, ohne zuvor den Osten gefragt zu haben, als der Westen, der eindeutigen Interdiktion des 3. und des 7. Ökumenischen Konzils zuwider, diese seine neue Lehre ins Glaubenssymbol einführte.
Durch diesen Schritt wurde vor allem die Katholizität, das Prinzip der Konziliarität und das Bewußtsein, daß der Herr die volle Wahrheit nicht einzelnen Personen oder gesonderten Teilen der Kirche, sondern nur der ganzen Kirche in ihrer ganzen Fülle, konziliaren Katholizität und Einheit schenkt, mit Füßen getreten.
Zum Bruch kam es dann, als der Westen diese seine eigenwillige Änderung des allgemeinen Symbolums dem Osten aufzwingen wollte, und dann, als die Christen des Okzidents in einem Überheblichkeitsdünkel über die Christen des Orients nicht als Brüder, sondern als Feinde zu ihnen kamen, und im sogenannten vierten Kreuzzug dem byzantinischen Kaiserreich schlimmer zusetzten, als dies später die Feinde des christlichen Glaubens taten. Hier ist im Grunde genommen die hauptsächliche und endgültige Grenze zu sehen, die den christlichen Westen vom christlichen Osten teilt.
Nach der erfolgten Trennung wurden alle charakteristischen Wesenszüge des christlichen Lebens im Westen, die in ihrer Vielfalt bisher zur Bereicherung der kirchlichen Kultur gereicht hatten, zu individuellen Trennungsfaktoren.
Das Papsttum, das sich an den Gedanken seiner fast unveränderlichen Rechtgläubigkeit gewöhnt hatte, und das sah, wie seine fromme Herde immer mehr wuchs, wie seine Position in der Kirche (deren Grenzen sich in seinem Bewußtsein mehr und mehr allein auf den Westen beschränkten) immer mächtiger wurde, übertrug schließlich als Höhepunkt alle grundlegenden Charakteristika der Kirche auf sich selber und verkündete am 10. Juli 1870, daß der römische Bischof “über dieselbe Unfehlbarkeit verfügt, welche der Kirche zu eigen ist”, und daß die “Glaubensentscheidungen des römischen Bischofs keiner Aufhebung an sich unterworfen sind, auch nicht durch kirchlichen Beschluß”.
Das römische Rechtsbewußtsein - die psychologische Grundlage für die Abspaltung des Westens vom theologischen Denken des Ostens - führte den Westen zum Vergessen der ursprünglichen Beziehungen des Menschen zu Gott, und zum Ersetzen dieser Beziehungen durch formelle, juristische Beziehungen, dem Prinzip des vertraglichen und des käuflichen Erwerbs des Seelenheils.
Die aus heidnischen Zeiten stammende, unverdaute Erinnerung an den römischen Pontifex Maximus, als an den Herrscher des Weltalls, führte zur Vermengung der geistlichen mit der weltlichen Gewalt, zum Anspruch auf die universale Großmachtstellung der römischen Päpste.
Eine weitere Folge der damals erfolgten Spaltung war einige Jahrhunderte später das Aufkommen des Protestantismus im Westen. Wenn eine einzelne regionale Kirche es sich erlauben konnte, selbständig eine neue Lehre zu verkünden und sie selbstherrlich, ohne Konsultation mit der Gesamtkirche ins Glaubensbekenntnis einzubringen, warum steht dann ein solches Recht nicht auch jedem einzelnen Menschen zu?
Und also wähnte sich Luther berechtigt, die Schwabacher Artikel (1929 von Luther verfaßtes Glaubensbekenntnis, wurde der erste Teil der Augsburger Confession) zu proklamieren, die mit den vielbedeutenden Worten enden: “Die Kirche ist nichts anderes als die Gesamtheit der Christus-Gläubigen, welche die oben aufgeführten Artikel für gut halten, sie glauben und sie verkünden”.
Aber dies heißt doch, daß jedermann ähnliche neue Artikel zusammenstellen und sie als Glaubensinhalt der Kirche ausgeben kann.
Die Anglikanische Kirche vertritt die Möglichkeit, wie dies aus der Bekenntnisschrift von 1922-38 hervorgeht, daß sich in ein und derselben Kirche Leute befinden können, die an die grundlegenden kirchlichen Wahrheiten glauben und solche die nicht an die Verkörperung Jesu Christi aus dem Heiligen Geist und die wirkliche Auferstehung glauben.
Von den zahlreichen Sekten ganz zu schweigen. Interessant und wichtig ist eine Einzelheit im Universalempfinden dieser neuen Sekten verglichen mit den alten. Bei den antiken Sekten handelte es sich um eine im wesentlichen unkatholische Erscheinung, die sich auf falsche, dem konziliaren Denken der Kirche widerstrebende Schlüsse gründete. Und trotzdem strebten sie die Konziliarität und die Katholizität an, versuchten sie, ihre Lehre auf der Grundlage der gesamten konziliaren Erfahrung der Kirche zu entwickeln und zu definieren, bemühten sie sich um den Beweis, daß ihre logischen Schlüsse nicht im Widerspruch zu dieser Tradition der Kirche stehen; sie rissen sich nicht von der kirchlichen Tradition los und vernachlässigten sie nicht. Daher forderten die antiken Sekten die Weiterentwicklung der Theologie heraus, eine Vertiefung in die religiösen Probleme. Die neuen Sekten streben im Gegensatz dazu überhaupt nicht nach Katholizität, weil nämlich die wahre Katholizität im Westen schon lange vergessen ist und sie ihnen völlig fremd ist. Sie schlagen in hochmütiger, verächtlicher Weise die ganze kirchliche Tradition und Erfahrung, ihre ganze katholische, konziliare Denkweise in den Wind, und führen daher zu keiner Entwicklung, sondern zu einem Verfall der Theologie; mit ihren materialistischen, faden, langweiligen Ausführungen über den Glauben fördern sie nur Gottlosigkeit, allgemeine Erkaltung im Glauben und Abfall des Interesses an ihren oberflächlichen religiösen Spekulationen.
So geriet also vom Zeitpunkt des Bruches mit dem Osten, des Zerbrechens der konziliaren Einheit und der stolzen Selbstbehauptung des Westens an die wahre Bedeutung der Kirche in der christlichen Welt in Vergessenheit. Die Kirche verstand sich von nun an als eine irdische, auf juristischen Prinzipien aufgebaute Gesellschaft mit einer juristischen Interdependenz ihrer Mitglieder und sogar mit rechtlichen, vertraglich festgelegten Beziehungen zu Gott.
Und die Vorstellung über Christus, als dem Haupt der Kirche, die zuvor eine organische, essentielle war, wurde nun zu einem bloßen metaphorischen Begriff: Christus wurde rein formal als Haupt der Kirche verstanden, so wie ein Staatsoberhaupt als Präsident oder König bezeichnet wird, das Haupt einer Gesellschaft oder Einrichtung als Vorsitzender, welcher nicht der lebenspendende Faktor der betreffenden Gesellschaft ist, sondern sie nur von außen, aber nicht von innen her verwaltet. Folglich änderte sich das Verhältnis zu Christus, und es entwickelte sich ein anderes Verständnis des Willen Gottes, also auch ein anderes Verständnis Gottes.
Angesichts eines solchen Kirchenbegriffes und im Vergessen der organischen Einheit der Kirche mit Christus benötigte der nun vom Leib der Kirche losgerissene christliche Westen natürlich ein weltliches Oberhaupt: Christus kann die Kirche natürlich nicht so verwalten wie ein Präsident einen Staat oder ein Vorsitzender eine Gesellschaft führt. In mancher Hinsicht erwies sich jedoch ein so reduziertes Verständnis und rein irdisches Gefüge der Kirche als praktisch.
Ist doch die Einhaltung einer orthodoxen, organischen Position in der Kirche durchaus nicht leicht und fordert ständige Anstrengung. Man muß sich klar werden, daß wir alle bei unserem orthodoxen Verständnis der Kirche als dem Leib Christi, der ein einziges Leben mit Christus lebt, in Dem nichts Sündiges ist und es nichts Sündiges geben kann, der Kirche nur insoweit, als wir sündlos sind, und solange wir sündlos sind, mit jenen Seiten unserer Seele und in jenen Augenblicken unseres Lebens angehören, in denen wir Christus nicht verraten und uns nicht von der Sünde unterjochen lassen. Jede Sünde verletzt unsere Einheit mit Christus, unsere Gemeinschaft mit Ihm, und folglich unsere Teilhabe an der Kirche, die wir nur durch Reue wiederherstellen können.
Wird die Kirche jedoch als eine irdischen Gesellschaft verstanden, an deren Spitze ein irdisches Haupt steht, so gibt es keinen solchen Prozeß des Abfalls und der Rückkehr eines Kirchengliedes. Der sündige Mensch, d.h. die Mehrzahl der Menschen, kann ungehindert ein Glied einer solchen Gemeinschaft sein. Seine schon im voraus einkalkulierte Sündhaftigkeit wird durch bestimmte Gesetze eingeschränkt und wird mit den im Laufe vieler Jahrhunderte entwickelten Methoden bekämpft - sie paßt in die Lebensnorm dieses irdischen Organsimus und tut ihm daher keinen Abbruch.
Unterdessen stellt die Sünde eines Gliedes der Kirche in unserer Auffassung stets eine Tragödie, eine Katastrophe dar, die das Leben der Kirche verletzt und die schmerzhaft von der ganzen Kirche empfunden wird und die durch die Worte des Apostels Paulus bereits angedeutet wurde: “Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit”.
Gerade deshalb wirkt sich jetzt, in einer Zeit des moralischen Niedergangs in der ganzen christlichen Welt dieser Fall so schmerzhaft, so katastrophal auf die ganze orthodoxe Welt aus, während er in der übrigen, heterodoxen Welt verhältnismäßig schmerzlos verläuft.
Natürlich betrifft dies heutzutage hauptsächlich die höchsten Vertreter der Kirche: die Bischöfe und Priester, und nicht die gewöhnlichen Mitglieder der Kirche, die bei dem allgemeinen Rückgang der Kirchlichkeit vergessen, daß sie schließlich auch Vertreter der Kirche sind.
Der moralische Sturz oder irgendein anderer Verrat an der Kirche seitens einer ihrer Bischöfe oder Priester wird bei uns immer als eine schmerzhafte Katastrophe empfunden, während er in der heterodoxen Welt nur als ein unerwünschter, aber leicht zu überwindender, schmerzloser Umstand gilt.
Diesen Unterschied verwenden unsere Gegner als ein Argument gegen uns. Vom irdischen Gesichtspunkt aus gesehen ist das richtig, aber von der wahren, kirchlichen Sicht aus zeugt umgekehrt gerade dieser Umstand von der Wahrheit unserer Kirche und ihrer Kompromißlosigkeit mit der Sünde.
Um dies richtig zu verstehen, wollen wir zuvor die Norm des pastoralen, kirchlichen Lebens, so wie es sein muß, betrachten.
Der Bischof oder der Priester geht gänzlich im kirchlichen Leben auf, all sein Streben ist auf Gott gerichtet: “An das, was oben ist, denket, nicht an das Irdische!” (Kol 3,2). Das heißt nicht, daß er sich nicht um die irdische Kirche kümmert, um seine geistlichen Kinder, sondern es bedeutet, daß er sowohl für sich selbst als auch für seine geistlichen Kinder vor allem das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit sucht, und alles übrige nur als Zugabe, gemäß den Worten Christi. Das Reich Gottes und die Gerechtigkeit Gottes werden von ihm nicht auf eigenen Wegen, nicht eigenmächtig, verstanden und gesucht, sondern konziliar, in Einmütigkeit mit der ganzen Kirche und mit allen, die gleich wie er glauben und bekennen.
Wie groß und reich bei einer solchen Gesinnung die Einheit der Kirchenglieder ist, sehen wir aus der Kirchengeschichte, aus einer ganzen Reihe von bedeutungsvollen, kirchlichen Entwicklungen, z.B. dem Aufkommen der diözesanen, und dann der Gemeindestruktur der Kirche, der Institution des sakramentevollziehenden Presbyters und anderer Maßnahmen, die, als sich die Notwendigkeit dazu ergab, im ganzen Raum der antik-christlichen Welt, von Spanien bis Mesopotamien, ohne jegliche Absprache und völlig einmütig von diesen, ganz im konziliaren, kirchlichen Leben stehenden Bischöfen und ihren Mitarbeitern eingeführt wurden.
Eine jede Frage, in welchem Bereich auch immer sie aufgekommen sein mag - im persönlichen, staatlichen, nationalen, gesellschaftlichen -, beantworteten die Vertreter der Kirche gleichartig, weil sie keine persönliche Meinung, keine persönliche Ansichten, kein persönliches Leben, sondern nur ein gemeinschaftliches, das kirchliche nämlich, kannten. Und dies ungeachtet dessen, daß sie als Persönlichkeiten in keiner Weise gemindert waren. Wir sehen sie, wie z.B. den hl. Ignatios den Gottesträger, Polykarpos von Smyrna, Irenaios von Lyon, und andere Geistesriesen als die hoch entwickelten Persönlichkeiten, als welche sie aus ihren Heiligenvitae und ihrem Schrifttum hervorgehen.
Bedurfte solch eine Einheit vielleicht irgendeiner äußeren Führung oder juristischer Formgebung, wenn sie unmittelbar unter dem einen Haupt der Kirche, Christus, ihr gemeinsames Leben mit Ihm lebte, und außer diesem Leben kein persönliches besaß?
So soll im Idealfall auch die Struktur der Kirche Christi sein. Ihre Einheit wird nur durch die Einheit all ihrer Glieder mit Christus garantiert, und jegliche Verletzung dieser Einheit durch die Sünde, durch Eigensinn oder aus Selbsthehauptung wird sogleich schmerzhaft empfunden, sowohl von dem Verletzenden selbst als auch von allen ihn umgebenden Gliedern dieser Einheit. Sie muß auch schmerzhaft empfunden werden, denn Sünde ist immer Schmerz und sie gebiert Schmerz.
Angenommen, irgendein Glied der Kirche verfällt in Sünde und bereut nicht, sondern beharrt in der Sünde. Die Sünde entreißt es der Einheit mit Christus, der Einheit mit der Kirche. Solange die Kirche dieses ihr früheres, von ihr abgefallenes Glied nicht vollständig von sich entfernt, oder es nicht von selbst Reue übt (Metania - Umkehr, grundlegende Änderung seiner selbst), muß sein Bruch auf die eine oder andere Weise in der Kirche in Erscheinung treten. Es fängt entweder an, etwas falsches zu lehren, indem es versucht seine Sündhaftigkeit durch Lüge zu rechtfertigen, oder es wird eine Versuchung für andere, und all dies wird von der ganzen Kirche als betrüblich und schändlich empfunden .
Wie wir schon sagten, reagieren wir in der heutigen Zeit mit ihrem außerordentlich niedrigen allgemeinkirchlichen Niveau überwiegend gerade so auf einen Verrat von Hierarchen und Geistlichen an der Kirche, dem Verrat gewöhnlicher Mitglieder der Kirche schenken wir jedoch zumeist keine Achtung, wir haben uns angesichts des de facto Massenabfalles von Kirchengliedern im Laufe der letzten Jahrhunderte einfach mit der Zeit an ihn gewöhnt. Bei einem etwas höheren kirchlichen Niveau müßte die Reaktion auf den Verrat eines beliebigen Gliedes der Kirche eine analoge sein.
Wir Orthodoxen leiden heute unter all diesen Formen des kirchlichen Verfalls als Folge einer sehr tiefen Disharmonie: Die Kirche blieb natürlich ihrem Wesen nach das, was sie schon immer war, und was sie auch nur sein kann - nämlich der Leib Christi, die Braut Christi, ohne Flecken und ohne Makel, aber die Menschen, die dazu berufen sind, ihre Glieder, ihre Vertreter zu sein, wozu auch die Priester und Bischöfe zählen, sind mit vielen Mängeln und Fehlern behaftet, die sie nicht durch die Reue abwaschen wollen; sie beharren eher noch in ihnen und wollen sich nicht bis zum Zustand der kirchlichen Lauterkeit reinigen, sondern sie versuchen die Kirche ihrem Niveau anzupassen. Dennoch bleibt die Kirche das, was sie schon immer war, ist und sein wird - aber sie, die Menschen, gehen von ihr weg, fallen von ihr ab, hören auf, sie zu sein. “Was hat das Stroh mit dem Weizen gemeinsam”, so spricht der Prophet Jeremias (Jer 32,28). Und dieser Prozeß des Abfalls von Gliedern von der Kirche ist qualvoll für ihren ganzen Körper.
Der orthodoxe Christ, der ihn bemerkt und ihn in sich selbst - innerlich und äußerlich - empfindet, insofern er sich als Kind der Kirche fühlt, kann diesem ganzen Prozeß gegenüber nicht gleichgültig bleiben. Zur Heilung seiner selbst und des ganzen Körpers der Kirche ersehnt er, daß das Haupt der Kirche, Christus der Erlöser, in ihr Leben eingreift und er betet das apostolische Gebet: “Herr Jesus, komme bald”. Er wendet sich in diesen für das Leben der Kirche schweren Augenblicken an Christus, weil er sonst keinen hat, an den er sich wenden könnte.
Völlig anders läuft dieser Prozeß in der römisch-katholischen Welt ab. Dort besteht eine abgeschlossene, streng zentralisierte irdische kirchliche Organisation, an deren Spitze ein irdisches Oberhaupt steht, dem die ganze Fülle der Macht obliegt. Alle Glieder dieser irdischen kirchlichen Organisation bedürfen zur Verwirklichung der geistigen Eintracht überhaupt keiner Konziliarität, die seelische Reinheit voraussetzen würde. Zur Wahrung der Eintracht genügt es ihnen, sich um Auskunft an die entsprechende kirchliche Stelle der höheren kirchlichen Verwaltung zu wenden. Die Sünden der einzelnen Kirchenmitglieder stellen keine Tragödie dar. Sie werden entweder unterbunden und bestraft, oder wenn sie überhand nehmen, wie z.B. die Nichteinhaltung der Fastenregeln, werden sie zur Norm erhoben.
Dadurch wird eine vielen beneidenswert erscheinende Reibungslosigkeit des kirchlichen Lebens erzielt, die jedoch um einen teuren Preis erkauft wurde: eine äußerlich nicht in Erscheinung tretende Sünde, die nicht schmerzhaft empfunden wird und die ungerügt vom kirchlichen Bewußtsein bleibt, dringt in die Kirche ein, ist schon keine persönliche Sünde dieses oder jenes Kirchengliedes mehr, sondern eine Sünde der Kirche selbst, die in ihr alle jene Abnormitäten des kirchlichen Lebens hervorrufen, die wir so deutlich bei den römischen Katholiken empfinden, wenn wir mit ihrem religiösen Leben in Berührung kommen.
Das Papsttum mit seiner Unfehlbarkeit, der Indulgenz (kirchlicher Ablaß), der mühsamen Anrechnung von guten Taten und Verdiensten, seinem Rechtsdenken im Verhältnis der Kirchenglieder untereinander und Gott gegenüber, seinem magischen Verständnis der heiligen Sakramente - all dies sind die Früchte und die Begleiterscheinungen des Sich-Losreißens des römisch-lateinischen Westens aus der kirchlichen Einheit und des Ersetzens des organischen Lebens der Kirche durch ein vertraglich geregeltes soziales Leben.
Unter Seelenheil versteht man dort eine äußere Belohnung für eine bestimmte Quantität an äußeren guten Taten oder bei den Protestanten für den unerschütterlichen, jenseits jeden Zweifels stehenden Glaubens an Jesus Christus. Dort wird vergessen, daß das Seelenheil, d.h. das In-der-Kirche-Sein, auf dem Weg der Loslösung von den Leidenschaften, der Apathia, der Befreiung von der Sünde, erlangt wird.
Es gibt dort auch Asketen, aber sie betrachten die Erfüllung von disziplinarischen Forderungen als ihre Pflicht, wofür ihnen die Verzeihung der Sünden und das zukünftige, ewige Leben verheißen wird. Aber daß dieses ewige Leben bereits erschienen ist, wie der Apostel Johannes sagt, daß diese selige Gemeinschaft mit Gott schon hier auf Erden verwirklicht wird oder auf jeden Fall die Fortsetzung eines schon hier begonnen Prozesses jenseits des Grabes ist, daß es nicht eine davon völlig entfernte Belohnung im Himmel ist - all dies hat der Okzident ganz vergessen.
Wir wollen uns dies alles recht gut einprägen, es gemäß unseren Kräften auch unseren westlichen Brüdern in Erinnerung rufen und, besonders wichtig, uns bemühen, unsere konziliare Wesentlichkeit mit Gott in der Kirche zu bewahren, sie zu vertiefen und zu vervollkommnen, um uns einst ihrer ganzen Fülle im Himmelreich der Wahrheit und der Liebe, das uns von Anbeginn der Welt an bereitet ist, zu erfreuen.