Was wissen wir über das Leben der menschlichen Seele nach dem Tode?

Bote 1993-5
Erzbischof Antonij von Genf und Westeuropa

Auftakt: Das nachtodliche Leben der Menschheit kann in zwei Perioden eingeteilt werden:
1. vom Tod der ersten Menschen – Adam und Eva – bis zur Herabkunft des Erlösers Christus auf diese Erde, und
2. von der Gründung der Kirche Christi bis zum Tag der allgemeinen Auferweckung des Menschengeschlechtes.
Der Mensch wurde unsterblich geschaffen, nicht nur der Seele, sondern auch dem Leibe nach. Der Körper des Erstlings der Schöpfung Adam kannte keine Krankheiten, kein Alter, keinen Tod. Dennoch warnte ihn der Herr: “nur von dem Baume der Erkenntnis des Guten und des Bösen, von dem darfst du nicht essen, denn sobald du davon issest, mußt du sterben” (Gen 2,17).
Das war der Beginn des Todes und der jenseitigen Existenz der Seele für das Menschengeschlecht. Daher ist der Tod als Folge der Sünde ein unnatürliches Phänomen, ein unnormales und daher zeitlich begrenztes, wie auch das Leben der menschlichen Seele außerhalb des Leibes.

Erste Periode

Verlust des Paradieses: “Denn Gott ist Liebe” (1. Jh 4,8) und daher schenkt uns nur unsere Erwiderung der Liebe zu Ihm Freude und die Fülle des Lebens in Ihm. Aber das gefallene Wesen empfand nun statt der früheren Liebe Schaudern, es begann den Schöpfer zu fürchten und sich vor Ihm zu verbergen und Ihn zu fliehen (Gen 3,8). Wenn Adam in solch einem Zustand im unsterblichen Paradies geblieben wäre, hätte er ohne Ausweg aus der bedrückenden Lage ungeheuer gelitten.
Er konnte nicht im Paradies bleiben, nachdem er selber und seine Nachkommen (durch die Vererbung) der unmittelbaren Liebesgemeinschaft mit dem Schöpfer verlustig gegangen waren, was auch spiritueller Tod des Menschen genannt wird. “So schickte ihn Gott der Herr fort aus dem Garten Eden” (Gen 3,23) zu seinem eigenen Wohl, damit die Mühen des Lebens außerhalb des Paradieses, seine Sorgen, Krankheiten und der Tod ihn demütigen und bewegen sollen, daß er neue Wege zur Rückkehr zu der Quelle des Lebens suche.
Die Tragödie der alttestamentlichen Menschheit liegt darin, daß sie den Liebenden Vater nicht nur im irdischen Leben, sondern auch im jenseitigen verlor. Sogar auf den Seelen der Gerechten lastete der spirituelle Tod, denn sie waren der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott beraubt.
Die alttestamentliche Gehenna: Bis zum Erscheinen Christi des Erlösers in der Welt wird der allgemeine jenseitige Zustand der menschlichen Seelen, die geistig und leiblich gestorben waren, in der Ausdrucksweise der Kirche “Hölle” genannt. Aber solch eine Bezeichnung ist bedingt, da die eigentliche Hölle, im vollen Sinn dieses Wortes sich erst nach der allgemeinen Auferstehung des Menschengeschlechtes und nach dem Endgericht auftun wird. In sie gehen keine körperlosen Seelen, sondern von Christus dem Erlöser auferweckte Menschen ein.
Im Katechismus des Metropoliten Filaret lesen wir darüber, “daß die volle Vergeltung der Taten dem vollen Menschen vorbehalten ist, nach der Auferweckung der Leiber bei Gottes Jüngstem Gericht.”
Aber in dieser alttestamentlichen Gehenna war der Zustand der Seelen nicht einheitlich für alle. Obwohl die Seelen der Gerechten litten, so wurden sie doch durch die Hoffnung auf den verheißenen Retter getröstet und erwarteten Sein Kommen. Die Sündigen jedoch litten Pein, denn sie hatten keinen Trost.
Christus - der Erlöser aller: Unser Herr Jesus Christus ist der Erlöser des ganzen Menschengeschlechtes, nicht nur seiner Zeitgenossen und ihrer Nachkommen, sondern auch vieler Millionen von Menschen, die vor Ihm lebten und starben. Wenn Er diese letzteren “in Finsternis und im Schatten des Todes” belassen hätte, dann wäre Er nicht der Gott der Wahrheit, des Lebens und der Liebe (Dogmatik von Archimandrit J. Popovi¡c).
“Der Herr stieg selbst in die Hölle hinab, um überall zu sein und überall alle zu retten”, sagte der hl. Isidor Pelusiotes. Der hl. Gregorios Palamas belehrt uns darüber, daß das Opfer des Heilandes nicht nur für seine Zeitgenossen und deren Nachkommen unerläßlich war, sondern für alle Menschen, die vor seiner Zeit lebten und deren Seelen sich im Hades befanden.
Die Orthodoxe Kirche bekennt, daß etwa ein halbes Jahr vor dem Herabsteigen Christi in den Hades, so wie auf der Erde auch dort Sein Vorläufer Johannes der Täufer war, der “auch denen im Hades Weilenden den im Fleisch erschienenen Gott verkündete, welcher die Sünden der Welt auf sich nimmt und uns große Gnade erweist” (Tropar des Vorläufers).
Dogma des Niedersteigens Christi des Erlösers in den Hades: Christus der Erlöser, als der Gottmensch gab den an Ihn Glaubenden den Liebenden Himmlischen Vater, den sie verloren hatten, zurück. Indem Er durch seine Auferstehung die Knoten des spirituellen Todes löste, erweckte Er sie zu neuem Leben und verkündete das Evangelium der Erlösung in der von Ihm gegründeten Kirche.
Um diese frohe Botschaft zu predigen und aus Liebe zu den Gefallenen begab Er sich mit der Seele, während Er seinen Allreinen Leib im Grabe hinterließ, hypostatisch mit Seiner Gottheit vereint, in den Hades zu den Seelen der Verstorbenen, um auch sie zum Himmlischen Vater zurückzubringen. “Der Leib Christi erlange das Grab, aber die Seele stieg in die Unterwelt hinab”, sagt der heilige Athanasios der Große. “Im Grabe dem Fleische nach, im Hades der Seele nach, als Gott...” bekennt die Kirche.
Der Apostel Petrus sagt von Christus, “...indem er getötet wurde nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht wurde nach dem Geist – in diesem ist Er auch hingegangen und hat den Geistern im Gefängnis (d.h. im Hades) gepredigt” (1 Petr 3,18-19). Und der Apostel führt weiter aus: nicht nur den Seelen der Gerechten, sondern auch den Sündern, d.h. allen Seelen als der Erretter aller. Sogar jenen, “die vorzeiten ungehorsam waren, als die Langmut Gottes in den Tagen Noahs zuwartete, während die Arche gebaut wurde, in der wenige... durchs Wasser hindurch gerettet wurden” (1 Petr 3,20). Auf diese Weise stieg der Herr in die Unterwelt hinab, um sogar die einst Ungehorsamen, die während der Sintflut untergegangen waren, d.h. die erste Menschheit, zu retten.
Warum erwähnt der Apostel gerade sie? Offensichtlich erstens, weil in der Vorstellung der Juden, welche die ersten Christen ausmachten, diese durch die Sintflut vernichtete Menschheit die allersündhafteste war, schlimmer noch als alle darauffolgenden sündigen Geschlechter; und zweitens, um das grenzenlose Erbarmen Gottes zu preisen, welcher durch den Schrecken der Sintflut, durch die unbeschreibliche Todesangst alles Lebendigen den Grundstein für die Korrektur dieser, zu jener Zeit reuelosen Sünder legte. Er bereitete sie auf diese Weise zur Begegnung mit ihrem sie liebenden und sie nicht vergessenden Heiland, der zu ihnen in die Unterwelt kommen würde, vor.
Dadurch möchte der Apostel sagen, daß der Herr kam, um sogar die Allersündigsten zu retten, die zwar einst ungehorsam, aber nicht endgültig verhärtet waren.
Die Verkündigung der frohen Botschaft im Hades: Wenn Christus den Seelen der Verstorbenen predigte, dann bedeutet dies, daß die Seelen fähig waren, Ihn zu hören, das Gesagte aufzunehmen, auf die Predigt zu reagieren, sie anzunehmen oder abzulehnen.
Die nach dem physischen Tod weiterexistierende Seele verfügt mit ihrem ganzen Wesen über ihre volle Persönlichkeit und ihr Selbstbewußtsein. Sie kann fühlen, erkennen, wahrnehmen, unterscheiden, was das Gleichnis des Herrn über “den reichen Mann und den armen Lazarus” (Lk 16,19-31) bestätigt. Der Reiche sieht Abraham und Lazarus in der jenseitigen Welt, leidet Pein, schreit um Hilfe, sieht, wie seine Brüder auf der Erde leben und ist beunruhigt über ihr Schicksal, denn offensichtlich liebt er sie. Patriarch Abraham lebt in Seligkeit und erklärt dem Reichen, daß es im Alten Testament unmöglich sei, das Schicksal der Seele nach dem Tode zu ändern, und so rechtfertigt er das Nebeneinanderbestehen von Seligkeit und Höllenqual, weist jedoch auf die Mittel zur Erlösung hin.
Beschränktheit der Seele: Wollen wir dennoch nicht übersehen, daß die Seele außerhalb des Körpers kein voller Mensch ist, weshalb nicht alles, was den Menschen möglich ist, auch ihre Seelen vermögen. Ungeachtet dessen, daß die Seelen nach dem Tod des Körpers über die Fülle der Persönlichkeit und alle psychischen Funktionen verfügen, sind ihre Möglichkeiten eingeschränkt. So kann zum Beispiel ein auf Erden lebender Mensch Reue üben und sein Leben mehr oder weniger bessern, sich also von der Sünde zu Gott bekehren.
Die Seele für sich allein jedoch kann sich nicht, selbst wenn sie dies wünschte, grundlegend ändern und ein neues Leben, das sich gänzlich von ihrem Leben auf Erden unterscheiden würde, beginnen und das erwerben, was sie auf Erden nicht hatte.
In diesem Sinne ist die Aussage zu verstehen, daß es jenseits des Grabes keine Reue gibt. Die Seele lebt dort und setzt ihre Entwicklung in der Richtung fort, die sie auf Erden einschlug, und zu ihrer Wandlung ist Hilfe von außen unerläßlich.
Das zurückgegebene Paradies: Christus der Heiland predigte das Evangelium der Erlösung auf der Erde drei Jahre lang und im Jenseits keine vollen drei Tage. Es ist offensichtlich, daß dies genügte, da die vom Körper und seinen Hilfsmitteln befreite Seele viel schneller zu fühlen, zu erkennen und zu reagieren fähig ist, als während ihres physischen Lebens (Dogmatik von Archimandrit J. Popovi¡¡c).
Sein Evangelium predigte der Herr im Reich des Todes offensichtlich mit demselben Ziel wie auf der Erde: daß es in Glauben angenommen werde und die Seelen Erlösung finden. Durch Seine göttliche Herrlichkeit und durch die Kraft Seiner Liebe zu den Gefallenen, die Ihn zum Grund des Hades hinabführte, erleuchtete der Heiland diejenigen, die Sein Evangelium empfingen, gebar sie von neuem, wandelte sie zum Besseren und erweckte sie in der triumphierenden Kirche, in Gemeinschaft mit dem Liebenden Himmlischen Vater zu neuem Leben. Die Erwiderung der Liebe zu Ihm vertrieb die Furcht und öffnete den Weg zu Gott. Es fielen die Fesseln des geistigen Todes und die in Christus Erlösten hörten Seine Worte: “Tretet wieder ins Paradies ein!”.
In der Nacht Seiner Auferstehung wurde von Christus – dem Überwinder des Todes – und den an Ihn Glaubenden der Abgrund zwischen Hades und Paradies, von dem in dem Gleichnis vom “reichen Mann und armen Lazarus” die Rede ist, überschritten. Ein neues Leben der Seele begann in der triumphierenden Kirche, die den Sieg über Sünde und Tod errungen und die Hölle niedergetreten hatte.
Aber dieses paradiesische Leben der Seelen in Erwartung der Auferstehung der Leiber ist noch nicht das endgültige Paradies der ewigen und vollkommenen Freude und Seligkeit, welches die Gerechten nach dem Letzten Göttlichen Gericht ererben werden.
Mit der Schaffung der Kirche ging die erste Periode des jenseitigen Lebens der Menschheit zu Ende und es begann die zweite.

Die zweite Periode

Neues Testament – Leben der Kirche: Auch nach der Auferstehung Christi leben und sterben die Menschen weiterhin und ihre Seelen gelangen ins Jenseits, vorläufig in einen paradiesischen oder höllischen Zustand.
Wir wollen hier nur von dem jenseitigen Schicksal der Kinder der Kirche Christi sprechen. Das Los der übrigen Menschheit, die nicht der Kirche angehört, stellt für uns ein endgültiges Geheimnis dar.
Wir nehmen an, daß, so wie die alttestamentliche Menschheit nicht voraussehen konnte, daß ihre Seelen durch die Menschwerdung des Erlösers und Seinen Abstieg in den Hades gerettet werden, auch wir jene Mittel und Wege nicht kennen oder voraussehen können, über die der Schöpfer zur Errettung Seiner Schöpfung – der nicht gehorsamen, doch nicht endgültig verhärteten – verfügt, zur Errettung jener Menschen, die Ihn nicht kennen, die verirrt sind, die Pseudoreligionen, Sekten und Häresien angehören, etc.
So stirbt der Christ, und seine Seele, die “ beim Austritt aus dem Körper wegen der Todesfurcht” bis zu einem gewissen Grade “gereinigt” wurde – wie der hl. Markos von Ephesos sagt –, verläßt den leblosen Leib. Sie ist lebendig, unsterblich, sie lebt genau jenes Leben weiter, das sie auf der Erde begonnen hat: mit all ihren Gedanken und Gefühlen, mit ihren Tugenden und Lastern. Das Leben der Seele nach dem Tode ist eine natürliche Fortsetzung und Folge ihres Lebens auf Erden. Wenn der Tod in radikaler Weise den Zustand der Seele verändern würde, dann wäre dies eine Verletzung der Integrität der menschlichen Freiheit und würde das vernichten, was wir die Persönlichkeit des Menschen nennen (Dogmatik von Arch. J. Popovi¡c).
Wenn der verstorbene Christ fromm war, zu Gott betete, auf Ihn hoffte, sich Seinem Willen unterordnete, Reue vor Ihm übte und sich bemühte, nach Seinen Geboten zu leben, dann fühlt seine Seele nach dem Tode mit Freude die göttliche Gegenwart und hat sofort in größerem oder kleinerem Maße Anteil an dem göttlichen Leben, das ihr in der triumphierenden Kirche aufgetan wurde.
Wenn der Verstorbene im irdischen Leben jedoch den liebenden himmlischen Vater verlor, Ihn nicht suchte, nicht zu Ihm betete, frevelte, der Sünde hörig war, dann findet seine Seele nach dem Tode Gott nicht, sie wird nicht fähig sein, Seine Liebe zu fühlen. Beraubt des göttlichen Lebens, um dessentwillen der gottähnliche Mensch geschaffen wurde, beginnt seine unbefriedigte Seele zu schmachten und sich mehr oder weniger zu quälen, ihr Zustand, ähnelt also demjenigen der Seelen der alttestamentlichen Menschheit vor dem Abstieg Christi in die Gehenna.
Die Erwartung der Auferweckung der Leiber und des Jüngsten Gerichtes vermehrt die Freude der Gottesfürchtigen ebenso wie den Schmerz der Unglückseligen.
Ist die Lehre über das persönliche Gericht orthodox? Die Hypothese von dem sogenannten “persönlichen Gericht”, d.h. darüber, daß die Seele nach ihrem Austritt aus dem Körper sofort von Gott gerichtet wird (persönlich, vorläufig bis zum jüngsten Gericht), wobei der Göttliche Richter ihr entweder Seligkeit schenkt oder sie zur Pein verurteilt, ist keine für die orthodoxen Gläubigen verbindliche Lehre der Kirche.
Diese Mutmaßung ist offensichtlich der Kiewer Theologie des 16. Jh entlehnt und stammt aus der römisch-katholischen Lehre. Im Kathechismus von Metropolit Filaret gibt es keine Erwähnung eines “persönlichen Gerichtes”.
Allgemein gründet sich die Hypothese über dieses Gericht auf die Worte des Apostels Paulus “und wie den Menschen bevorsteht, einmal zu sterben, darnach aber das Gericht” (Hebr 9,27). Aber der Apostel sagte doch nicht: und sogleich das Gericht. Daher kann man diese Worte doppelt verstehen: entweder spricht der Apostel hier von dem letzten und einzigen Gericht oder darüber, daß der Mensch sich selbst verurteilt, im Sinne des von Christus Gesagten: “Wer an Ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet” (Jh 3,18).
Die Lehre über die nachtodlichen Marterstationen (griech. telŽnia, russ. mytarstva) ist kein Dogma der Kirche. Die frommen Erörterungen über die sogenannten “mytarstva” stellen kein Dogma der Kirche noch ihre offizielle Lehre dar. Es ist selbstverständlich, daß die vom Körper getrennte Seele in größerem oder geringerem Maße von eben dem unreinen Geist, der sie bei Lebzeiten versuchte, gepeinigt wird. Sie wird in dieser für sie schrecklichen Stunde in der Person ihres Schutzengels einen Verteidiger und Helfer suchen: das ist alles, was man zu diesem Thema sagen kann.
Über diese Marterstationen, als eine gewisse Art von “Zollstationen”, durch welche die Seele der Verstorbenen passieren muß, um zu dem Thron Gottes emporzusteigen, und in denen die bösen Seelen aufgehalten und ihrer Sünden wegen angeklagt werden, spricht der hl. Kyrillos von Alexandria, und desgleichen wird von der Vision der seligen Theodora, über welche uns Gregor, ein Schüler des hl. Basilius des Neuen berichtet, anscheinend bestätigt.
Der Apostel Paulus bezeugt, “daß er in das Paradies entrückt wurde und unaussprechliche Worte hörte, die ein Mensch nicht sagen darf” (2 Kor 12,4). Die Schau der seligen Theodora in bezug auf die nachtodliche Welt ist in menschliche Worte gefaßt und gibt daher vielleicht nicht tatsächlich das wieder, was die Selige erlebte und fühlte.
Die Gebete der Kirche für die Verstorbenen. So kann die Seele des Verstorbenen in der anderen Welt sich nicht von alleine wandeln oder das erwerben, was sie im irdischen Leben nicht besaß. Sie braucht Hilfe von außen, welche sie durch den Heiland des Menschengeschlechtes bekommt, der einst in die Unterwelt hinabstieg und jetzt in der Kirche gegenwärtig ist. Er ist das Haupt der Kirche, sie ist Sein Leib. Im Leib der Kirche ist die von der Sünde verdorbene Einheit der menschlichen Natur wiederhergestellt, in der Einheit mit Gott, durch die Fleischwerdung des Sohnes Gottes. Darum betete unser Heiland folgendermaßen: “...daß sie alle (die an Mich Glaubenden, die Kinder Meiner Kirche) eins seien, wie Du, Vater, in Mir bist und Ich in Dir, daß auch sie eins seien in Uns (Jh 17,21).
In dieser kirchlichen Einheit, die ähnlich der Einheit der Personen der Heiligen Dreieinigkeit ist, vollendet sich das Geheimnis der Veredelung und der Erneuerung der verstorbenen Seele durch Christus den Erlöser, durch den spirituellen Reichtum der Kirche und ihre Heiligen.
Naiverweise meinen einige, daß die Gebete für die Verstorbenen das Ziel verfolgen, Gott barmherziger zu stimmen und Ihn zum Vergeben unserer Sünden geneigt zu machen, als ob wir den Herrn eigens darum bitten müßten, daß Er seine Schöpfung liebe. “Denn euer himmlischer Vater weiß, was ihr bedürft, ehe ihr Ihn bittet” (Mt 6,8), sprach Sein Göttlicher Sohn.
Wollen wir nicht vergessen, daß Gott unwandelbar ist, und daß Er seinem eigenlichen Wesen nach Liebe ist: grenzenlose, unendliche und allumfassende Liebe. Er liebt uns – sowohl die Guten also auch die Schlechten – mehr als wir uns selber lieben.
Die wiederbelebende Kraft des Gebetes: Unsere Gebete in der Kirche für die Entschlafenen machen Gott nicht barmherziger, aber sie bringen in den Seelen derer, für die wir beten, einen Wandel zum Besseren hervor. Sogar das persönliche Gebet, abhängig vom Glauben und der geistigen Kraft des Betenden und seiner Liebe zu dem Entschlafenen, hat zweifellos eine erneuernde Wirkung, und bringt seine Seele Gott näher. Die Seelen der Verstorbenen fühlen nach dem Tod die Kraft der für sie geleisteten Gebete, sagt der hl. Markos von Ephesos.
Außer Zweifel steht auch, daß das Gebet der Kirche (das gemeinsame, wenn die ganze Kirche, die himmlische und die irdische betet) die Seele des Verstorbenen noch unvergleichlich wirksamer und kraftvoller mit dem bereichert, was sie nicht in genügendem Maße hat und was sie auch nicht mehr erwerben kann: zum Beispiel die Hoffnung auf den Heiland, die Liebe zu Ihm, der Glaube an Seine Barmherzigkeit, das Bewußtsein ihrer Sündhaftigkeit, die Reue etc. Solche Gefühle, die in den Gebeten der Kirche vermittelt werden, bringen den Verstorbenen Gott näher und erleichtern sein jenseitiges Los.
Die Seele des Entschlafenen soll und muß zusammen mit uns beten: An ihrem Wandel zum Besseren gemäß den Gebeten der Kirche muß die Seele selber Anteil nehmen, und sei es nur im geringsten Maße. Nicht alle Seelen respondieren gleichermaßen auf die Gebete der Kirche für sie. Die Gerechteren beginnen bald und willig zusammen mit den für sie Fürbitte Leistenden zu beten. Die Sündigeren geben sich nur schwer der wiederbelebenden Kraft dieser Gebete hin. Wenn die Seele jedoch völlig ungerührt bleibt und nicht zusammen mit der Kirche beten will oder nicht kann, dann sind unsere Gebete für sie sinnlos. Deshalb sind offensichtlich endgültig verhärtete Gottlose, reuelose Gotteslästerer, jene, die ein ausschweifendes Leben führten und ihnen ähnliche Individuen der kirchlichen Gebete beraubt.
Wir wiederholen: wenn wir für einen Entschlafenen beten, so kann und muß seine Seele zusammen mit uns beten. Darin liegt der ganze Sinn der Gebete für ihn. Es ist unerläßlich, daß die Seele selber den Wunsch hat, besser zu werden und den himmlischen Vater sucht. Das Gebet unserer Liebe für die verstorbene Seele muß auch zu ihrem eigenen Gebet werden und sie zu einem gebetsvollen Stöhnen zum Schöpfer bewegen.
Indem wir für die Verstorbenen beten, sprechen wir: “Lass ruhen in Frieden, o Herr, die Seele Deines Knechtes”, weil wir wünschen, daß dieser Gebetsseufzer auch das Gebet des Verstorbenen werde, der selber nicht richtig betet. Wir glauben, daß die Seele in der Kirche durch uns und mit unserer Hilfe beten kann. Deshalb fügen wir noch weitere Worte hinzu: “Laß ruhen, o Herr, die Seele Deines verstorbenen Knechtes, der nun durch uns zu Dir betet”.
So unerläßlich und von rettender Wirkung ist das Gebet in der Kirche für die Entschlafenen! Orthodoxe Christen müssen mit Hoffnung und Glauben für sie beten, und dürfen sich nicht Verzweiflung und sinnloser Trauer hingeben.
Das Gebet der entschlafenen Gerechten für uns: Es steht außer Zweifel, daß die Seelen der Heiligen und Gerechten in der triumphierenden Kirche und auch die uns liebenden verstorbenen Verwandten für uns beten (Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus), ebenso wie wir zu ihnen und für sie beten. Die Gemeinschaft im Gebet zwischen den auf Erden Lebenden und den Verstorbenen hört nie auf.
Das mit Liebe für uns dargebrachte Gebet eines Gerechten: etwa des hl. Nikolaus, des hl. Seraphim und anderer, bereichert uns in Christus und nur in Ihm, durch den geistigen Reichtum des Gerechten, es läßt uns an seiner Heiligkeit teilhaben, stärkt uns im Kampf und bösen Anfechtungen und hebt uns über die Ebene des spirituell-ethischen Lebens, die wir mit unseren Kräften erreichen könnten, hinaus.
Noch mehr bereichern uns an Reinheit und Heiligkeit die Gebete der Allreinen und Allgepriesenen Mutter Gottes, unserer Fürsprecherin und Helferin, die uns vor großem Unglück und Jammer bewahrt.
Die höchste Gnadenkraft schöpfen wir aus dem Sakrament der Kommunion des Leibes und Blutes Christi: “Wer Mein Fleisch ißt und Mein Blut trinkt, der bleibt in Mir und Ich in ihm”, versprach der Heiland. Und in dieser so süßen Einheit mit Ihm läutert Christus die Ihn liebende Seele, wäscht sie rein, schmückt sie, baut sie auf, belehrt und erleuchtet sie, indem Er sie zum Teilhaber an Seiner Gottheit macht.
Das Ende der jenseitigen Existenz der Seelen: Sich einander im Gebet beistehend, in der kirchlichen Einheit mit Christus streben die lebenden Menschen und die Seelen der Verstorbenen dem Tag der allgemeinen Auferweckung der Toten entgegen. Die Seelen kehren dann in ihre auferweckten, verklärten “in die Herrlichkeit der Unsterblichkeit gekleideten” Leiber zurück.
Die Toten werden auferstehen, denn “des Todes Vernichtung feiern wir... des anderen ewigen Lebens Anfang” (Osterkanon).
Die noch auf Erden Lebenden geraten in Schrecken ob des Zusammenbruchs des Universums, denn die “Kräfte des Himmels werden erschüttert werden und es werden Zeichen eintreten an Sonne und Mond und Sternen,. .. so daß sie sich nicht zu raten wissen vor dem Tosen und Wogen des Meeres” (Lk 21,25). Ähnlich der ersten Menschheit, die durch die Sintflut vernichtet wurde und deren Schrecken ihr half, nicht endgültig zu verhärten, werden sich auch diese letzten Menschen nach dem Vorbild der Auferweckten wandeln und zu ihnen gesellen.
Der nicht im schweren, sündigen, sondern in einem leichten, unsterblichen Körper auferstehende Mensch wird natürlich die Fülle aller Eigenschaften und Möglichkeiten des Menschen haben. Das ist der Grund, warum Gott nicht unsere begrenzten Seelen richten wird, sondern auferweckte Menschen, um ihnen nämlich die volle Möglichkeit zu geben, freiwillig und aus eigenem Willen zu dem himmlischen Vater zurückzukehren. Die so auf die Liebe Christi Antwortenden, die durch Reue Gereinigten, werden Seine Stimme hören: “Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch von Grundlegung der Welt an bereitet ist” (Mt 25,34).
Wer wird in diesem Augenblick sich der Liebe des Erlösers versagen, Seinem ewigen Königreich? Offensichtlich jene nicht reuigen Sünder, die endgültig verhärtet sind. Von derartigen sagte Christus: “Sie haßten sowohl Mich als Meinen Vater” (Jh 15,24). Mit Zähneknirschen als Ausdruck der ohnmächtigen Bosheit streben sie weg von der Liebe Gottes, weil sie sie verbrennen und versengen würde, als ewiges Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist (Mt 25,42), deren Schicksal sie teilen werden.
Danach kommt das unaussprechliche und die Fassungskraft der in der Zeit Lebenden übersteigende Geheimnis der Ewigkeit.