Der Weg des Kreuzes

Dieses Buch legt uns das grundlegende, von alters her überlieferte Verständnis dessen dar, was es heißt, „sein Kreuz zu tragen“. In der Zeitepoche der Europäischen Aufklärung geschrieben, setzt es einen kräftigen Akzent gegenüber einer Auffassung, die „Leiden“ nur als als Hindernis zur Selbstverwirklichung oder als Illusion auffasst. Der Geist dieser hiesigen Welt, läßt viele vergessen, daß wir als Christen unser hiesiges Leben auf das Jenseits ausrichten, „denn wir haben hie keine Bleibende Statt“ (Hebr 13, 14). — Das Programm der Selbstverwirklichung hat den Glauben an Jesus Christus vielerorts erschwachen lassen, und viele Menschen fallen in tiefste Verzweiflung, wenn sie sich Schwierigkeiten, Unbilden, Krankheiten, Todesfällen und Schmerzen zu stellen haben. Denn darin vermögen sie Gottes liebende Vorsehung am Werke nicht mehr zu sehen, weil ihr Leben nicht mehr auf das Jenseits ausgerichtet ist. Etliche Menschen, die dieses Buch gelesen haben, liessen sich dazu veranlassen, ihre grundlegenden Glaubensansichten über Gott, über Jesus Christus unsern Herrn, über Sein Leiden, über den Schmerz und über Fährnisse im Lichte des Glaubens an Ihn wieder zu überdenken. Wer aber der Welt lebt, solche werden diesem Buch mit Ablehnung begegnen. Denn unleugbar wird es ihnen schwer verständlich, ja schwer erträglich sein. Es wird ihnen zu weit gehen in dem, was sie noch ertragen können. Und dennoch gilt auch für sie: Unter diesem Zeichen wirst du siegen!

VERÖFFENTLICHT MIT DEM SEGEN S. E. MARK, ERZBISCHOF VON BERLIN UND DEUTSCHLAND

Inhalt

Vorwort.................................................................................... 11
Einleitung................................................................................. 18

Erster Teil

Antritt zum Kreuzweg.................................................................. 19
Der Weg des Kreuzes als wahrhaftiger Weg zum Himmel, den wir alle gehen sollten............................................................. 23
Was ist das Kreuz in seiner Vielfalt?............................................. 27
Jesus Christus erlitt das Kreuz in allen Formen............................. 32
Wir sollen das Kreuz tragen, wie es die heilige Jungfrau Maria tat............................................. 36
Weshalb ist das Kreuz nötig für den Christen?............................. 40
Der Herr auferlegt das Kreuz nach eines jeden Kraft und Stärke.................................................................................... 46
Die Worte Jesu — wenn jemand Mir nachfolgen will — bedeuten, eine starke Haltung zu haben beim Tragen des Kreuzes 49
Wer irdische Segnungen sucht, wird dem Kreuz untreu................ 54
Wer Ehrungen liebt, der liebt Gott nicht........................................ 59
Die Sünder tragen ihr eigenes, viel schwereres Kreuz................... 63
Sinnliche Menschen, die auf Geld und Ruhm aus sind, tragen ihr eigenes Kreuz............................................................... 67
Das Eheleben hat sein eigenes Kreuz........................................... 71
Selbstverleugnung ist die beste Vorbereitung auf das Kreuz......... 76
Der Anfangseifer unterliegt oft fehlender Erfahrung.................... 83
 

Zweiter Teil

Man muß das Kreuz ohne Säumnis auf sich nehmen................... 86
Jeder muß jenes Kreuz tragen, das ihm gegeben ist, ohne selbst eines zu wählen......................................................... 91
Man soll das Kreuz in Ehren tragen und sich nicht schämen, es zu erdulden.............................................................................. 95
Beim Tragen des Kreuzes muß man Eitelkeit tilgen.................... 101
Auf dem Weg des Kreuzes muß man Christus folgen, statt voreilig zu hasten................................................................ 106
Das Kreuz muß gemäß dem Bild des Herrn Jesus Christus getragen werden.................................. 110
Man soll nicht traurig sein, wenn das Kreuz groß und schwer erscheint................................ 114
Man soll nie aufschieben, das Kreuz zu tragen, sondern es Tag für Tag erdulden................................................. 118
Wer das Kreuz trägt, soll sich nicht aufspielen um des Lobes anderer willen...................................................... 124
Wozu muß man das Kreuz tragen?bZum einen als Bestrafung für die Sünden, zum andern zur Bewahrung vor der ewigen Pein........................ 129
Man muß das Kreuz in der Hoffnung auf Lohn tragen............... 133
Man muß das Kreuz aus Liebe zu Christus tragen...................... 137
Unter dem Kreuz soll man beten................................................ 142
Angesichts des Kreuzes soll man frohgemut sein....................... 147
Man soll für das Kreuz danken.................................................. 152
Im Elend soll man inniger danken als in guten Zeiten, dies nicht nur Gott, sondern auch jenem, der den Kummer schafft............................................................ 158
Unter dem Kreuz soll man frohlocken....................................... 163
Über die Kreuzigung des Fleisches............................................. 167
Über die Kreuzigung der Welt.................................................... 172
Über die Kreuzigung zusammen mit Christus............................. 175

Dritter Teil

Das Kreuz rettet vor dem Fall und überwindet Versuchungen................................................... 182
Das Kreuz läutert von Sünden.................................................... 187
Das Kreuz öffnet die Augen des Verstandes............................... 192
Das Kreuz ist der Anker der Hoffnung und das Zeichen der Rettung...................................................... 195
Das Kreuz bietet geistige Erquickung......................................... 198
Das Kreuz macht den Menschen zu einem Tempel Gottes......... 201
Wer das Kreuz trägt, dem ist eine Krone verheißen.................... 207
Was soll die größere Krone erhalten: Kreuz und Leiden oder gute Werke?........................................... 211
Das Kreuz eint uns mit Christus, es macht uns wie Er................ 214
Das Kreuz ist ein verläßlicher Schutz für jene, die auf dem Meer des Lebens der Kirche segeln........................ 219
Das Kreuz erhebt die Gläubigen bis ins bergige Jerusalem hinan.................................................. 222
Das Kreuz öffnet die Pforten zum himmlischen Königreich...... 225

Anhang

Über die Unvermeidlichkeit des Leidens.................................... 229

Vorwort

In der Welt hieß der Metropolit und Wunderwirker von Tobolsk und Sibiren Johannes Maximowitsch. Er wurde 1651 in der Stadt Neschino geboren. Sein Vater Maxim Vasiljewitsch und seine Mutter Euphrosyne hatten sieben Söhne, Johannes war der älteste. Nachdem er das Kollegium von Kiew-Mogiljansk – die spätere geistliche Akademie von Kiew – durchlaufen hatte, wurde er Lateinlehrer. Im Jahre 1660 erhielt er das Mönchsgewand im Kiewer Höhlenkloster. Unter allgemeiner Zustimmung der Mitbrüder erhielt der junge Mönch die Pflichtaufgabe des Predigers. Dabei tat er sich durch außerordentliche Beredtheit hervor. Ganz besonders widmete er sich dem religiösen Wissen um das Innere. Sein Hauptthema, welches ihn zeit seines Lebens begleitete, läßt sich in folgender Wendung zusammenfassen: Wie kann der Mensch seinen Willen nach Gottes Willen richten? Er setzte sich sowohl in Predigten, als auch in seiner missionarischen Tätigkeit damit auseinander. In diesem Zusammenhang steht das sogenannte Heliotropion oder die Sonnenblume. Dieses Werk wurde gegen Ende seines asketischen Lebens veröffentlicht. Es behandelt die Angleichung des menschlichen Willens an den Willen Gottes. Gerade dieses Werk gab unter den vielen Schriften der heiligen Väter der Orthodoxen Kirche eine nachhaltige Antwort auf eine große Frage der christlichen Soteriologie.
Im Jahre 1658 wurde Johannes nach Moskau in die Mission gesandt. Dort setzte ihn Patriarch Joachim (1674–1690) als Vikar im Briansk-Svenskj-Kloster ein, welches zu der Zeit unter der Lawra des Höhlenklosters von Kiew stand.
Kurz vor seinem Tod am 5. Februar 1695 bestallte der heilige Erzbischof Theodosius von Tschernigow Johannes als Archimandrit des Klosters Jeletsk und bestimmte ihn zu seinem Nachfolger auf dem Bischofssitz. Johannes hielt den hl. Theodosius in seligem Andenken, und er glaubte an dessen kraftvolle Fürsprache vor dem Herrn. Aufgrund dieses Glaubens erlangte Johannes Heilung von einer ernsthaften Krankheit, und zwar durch die Gebete des hl. Theodosius. Als die Krankheit in ihrem schwersten Stadium war, erschien der hl. Theodosius Johannes und sagte: „Lies morgen die Messe, du wirst gesund sein.“ Tags darauf fühlte sich Johannes wieder vollständig wohl und feierte zu aller Erstaunen die göttliche Liturgie. Dieses Heilungswunder begründete die Verehrung des hl. Theodosius als gnadentragenden Fürsprecher vor Gott.
Am 10. Januar 1697 weihte Patriarch Adrian von Moskau und der gesamten Rus (1690–1700) Archimandrit Johannes zum Bischof von Tschernigow in der Kathedrale des Entschlafens der Gottesmutter im Kreml.
Bei seinem Eintritt in die Diöszesanverwaltung schuf Bischof Johannes ein Kollegium, das der Kiewer Akademie ähnlich war. Nach seiner Absicht sollte dies das „Athen von Tschernigow“ sein: eine geistliche Akademie. Aufgrund des hohen Niveaus der theologischen Ausbildung wurde die Schule landesweit bekannt und geschätzt. Es war das erste geistliche Seminar in Rußland. Nach dessen Muster wurden dann in andern Diözesen der Russisch-Orthodoxen Kirche solche Schulen eröffnet.
Bischof Johannes unterhielt auch eine Druckerei, wo er und seine Nachfolger viele geistliche Werke herausbrachten. Das Leben von Bischof Johannes war gekennzeichnet durch Tugend und besondere Demut. Dies spiegelt sich auch in seinen Werken wieder: Sittlich-Didaktischer Spiegel (Tschernigow, 1703 und 1707), Das Alphabet mit beigefügten Reimen (1705); Die jungfräuliche Gottesmutter (1707); Das Theater oder Moralisch-Didaktische Schande (1708); Exkurs über Psalm 50 (Tschernigow, 1709); Der Königsweg des Kreuzes (Tschernigow, 1709); Gedanken über Gott zum Nutzen des rechten Glaubens (1710 und 1711); Synaxarion zum Andenken an den Sieg von Poltawa (1710); Der Pilger (Manuskript); Geistliche Gedanken (Moskau 1782).
Im Jahre 1714 veröffentlichte er in Tschernigow sein Haupt-werk, und zwar in lateinischer Sprache. Es war eine Besonderheit der Absolventen der Kiewer geistlichen Akademie, daß sie ihre Werke auf Lateinisch schrieben. Professor I. A. Maximowitsch übersetzte im Jahre 1888 das Heliotropion ins moderne Russ-isch und veröffentlichte es teilweise in einer Zeitschrift der Tschernigower Diözese. Später kam das Werk im Jahre 1896 in Kiew auch als Buch heraus.
Bischof Johannes war bekannt dafür, daß er Kontakte zu den Mönchen auf dem heiligen Berg Athos pflegte. So interessierte er sich ganz besonders für die russischen Bewohner auf dem Heiligen Berg.
Nach seiner Erhebung in den Rang eines Metropoliten kam Bischof Johannes am 14. August 1711 auf den Stuhl von Tobolsk und Sibiren. Hier führte er das in Tschernigow angefangene Werk fort. Er reformierte die Schule, welche sein Vorgänger der bekannte Missionar Metropolit Philotheus (Leschinskj, +1727) eröffnet hatte. Außerdem widmete er sich der apostolischen Verkündigung unter den Heidenvölkern Sibiriens und bekehrte viele zum Christentum. Im Jahre 1714 brach er nach Peking auf, um der Mission des Archimandriten Hilarion (Leschaiskj) vorzustehen. In Tobolsk führte er seine Veröffentlichungen fort. In diese Zeit fällt auch die Veröffentlichung des Heliotropion in slawisch-russischer Sprache (1714), so daß die Menschen aus Sibirien das Buch lesen konnten.
Der Chronist beschreibt Bischof Johannes’ Leben in Si-birien: Er war ruhig, anspruchslos und gnädig, hatte Mit-leid mit den Armen und war barmherzig. Oft half er den Menschen insgeheim. Obwohl Bischof, trug er das einfache Mönchsgewand. Er verteilte Almosen an die Bedürftigen mit den Worten: „Nimm dies im Namen Jesu Christi.“ Sein Heim in Tobolsk stand den Armen stets offen. Selbst an seinem Todestag, dem 10. Juni 1715, gab Bischof Johannes noch Essen an die Armen aus, wobei er selbst bei Tisch diente.
Bischof Johannes wurde in Sibirien schon lange verehrt. Im Lichte vieler Wunder und aufgrund der anhaltenden Verehrung wurde er im Jahre 1916 heiliggesprochen und sein Gedenktag auf den 10. Juni gelegt. In Sibirien ist das Andenken an Bischof Johannes noch wach. Seine sterblichen Überreste liegen in der Maria-Schutz-Kathedrale von Tobolsk.
Woran denkt der moderne Mensch angesichts von Leiden? — Ein Wort Buddhas soll sein: Ich lehre nur eines, wie das Leiden loszuwerden ist. So gibt es Menschen, die glauben, Leiden sei eine Illusion.
Ganz anders dieses Buch. Das vorliegende Werk des hl. Johannes von Tobolsk behandelt das Leiden der Christen — das Kreuz als Weg. Wer christlich glaubt, glaubt Christus, und Jesus Christus hat für uns gelitten, ist ans Kreuz genagelt worden, ist für uns daran gestorben, ist am dritten Tag auferstanden und hat so — als zweiter Adam — den Menschen den Weg in den Himmel wieder geöffnet. Der Gott-Mensch wurde gekreuzigt. Christliches Leiden ist demnach handfestes Leiden. Denn die Geißeln haben Christi Rücken zerschunden, die Dornen Jesu Haupt zerstochen, der Balken des Kreuzes hat Christi Schulter zerscheuert, die Nägel haben Jesu Hände und Füße durchstanzt, und die Lanze hat Christi Seite geschlitzt, so daß Blut und Wasser herausliefen. — Dieses Leiden Jesu Christi ist Leiden um anderer willen, greifbares Leiden um unseretwillen. — Thomas hat Christus nach Dessen Auferstehung denn auch die Hand in die Seitenwunde gelegt und dabei die ernsthafte Mahnung empfangen: Sei nicht ungläubig!
Das Kreuzesleiden Jesu Christi, unseres Herrn, ist keine Illusion, sondern greifbare, christliche Wirklichkeit. Wer christlich lebt, dem oder der geht es nicht darum, das Leiden auf Erden loszuwerden, sondern vielmehr darum, dieses Leiden wie Jesus Christus anzunehmen, zu tragen, zu durchleben und im Hinblick auf die Ewigkeit auszutragen. Wir leben ja auf die Auferstehung hin und haben „hie keine bleibende Statt“. Wer an Christus glaubt, dem geht es auch nicht darum, das Leiden auf Erden in Frieden zu verwandeln, sondern dieser Mensch will das Kreuz Christi nicht nur mittragen, vielmehr selbst tragen. Das scheint der Welt töricht. Darum ist das Kreuz Christi denen, die verloren gehen, eine Torheit, uns aber ein Baum des Lebens, der Schlüssel zum Himmelreich.
So macht es Sinn, wenn der Titel dieses Buches Der Weg des Kreuzes als Königsweg ins ewige Leben lautet. Dieses Werk des hl. Johannes Maximowitsch kann auch viele Fragen des Leidenden und der Leidenden beantworten und sie im Ertragen ermuntern. Das Buch steht in einer langen Reihe ununterbrochener Orthodoxer Überlieferung und sticht be-sonders dadurch hervor, daß es kurz vor der Zeit geschrieben wurde (1709), als das westliche Europa durch die erste seiner großen Revolutionen im Zuge der Aufklärung auf dem Weg zur Moderne erschüttert und grundlegend verändert wurde (1789). Das Orthodoxe Christentum des Ostens kann einen direkten, nie zerschnittenen Strang zum Glauben der Kirchenväter, der Wüstenväter und zu den Gläubigen aus ältester Zeit vorweisen, so daß es ihren Odem uns zuhauchen kann. Und der Geist dieses urchristlichen Glaubens nährt uns das Licht aus dem Osten —, jenes orientale lumen, das auch viele abendländische Christen wieder wecken mag.
Wie die Einleitung berichtet, wurde das Werk von den großen Starzen aus dem Optina-Kloster sehr geschätzt und bearbeitet. Diese bearbeitete Fassung — welche kein direktes Auftreten Jesu als literarischen Topos mehr enthält — liegt auch der von uns übersetzten Englischen Fassung zu Grunde. Die Form des Dialogs zwischen der Frau [!] mit griechischem Namen und dem Engel wurde für uns Moderne in eine etwas nüchterne Zwiesprache mit einem Wüstenvater gesetzt. Es ist zu hoffen, dieses grundlegende Werk christlicher Gottergebenheit werde von vielen gelesen und umgesetzt.
Der Übersetzer

Einleitung

Erzbischof Johannes Maximowitsch veröffentlichte dieses Buch ursprünglich im Jahre 1709 unter dem Titel: Der heilige Weg des Kreuzes des Herrn, teils Slawisch, teils Ukrainisch. Die Erbaulichkeit des Werkes machte dieses in Rußland weitherum bekannt, und es wurden viele Ausgaben veröffentlicht. Allerdings beschränkte die Sprache den Kreis der Leser. Deshalb wünschten viele, daß es ins Russische übersetzt werde. In den 1830/40-er Jahren wurden einige Übersetzungen vorbereitet, doch keine wurde veröffentlicht. Der hauptsächliche Makel dieser Übersetzungen, die dem lateinischen Original die Treue hielten, lag darin, daß der Herr Jesus Christus in der Unterhaltung mit Stavrophila gezeigt wurde. Vor diesem Hintergrund ergaben die Christus durch den Verfasser zugeschriebenen Worte eine scheinbare Autorität höchster Wahrheit.
Die vorliegende Übersetzung wurde mit äußerster Genauig-keit und Sorgfalt erstellt. Die schwachen Stellen früherer Über-setzungen wurden möglichst getilgt.
Erzbischof Johannes war ein standfester Gläubiger und Geistlicher. Sein heiligmäßiger Lebenswandel und sein seliges Lebensende unter verschiedenen Segenszeichen bestärken dies. Im Jahre 1826 wurde seine Heiligkeit anerkannt, 111 Jahre nach seinem Tod: Während Reparaturarbeiten in der Kathedralkirche von Tobolsk, wo er begraben lag, fand sich der Körper des Erzbischofs unverwest vor, und er verströmte einen Wohlgeruch.
Skit des hl. Johannes des Vorausläufers
Kloster Optina
23. April 1877
[Gedenktag der Erweckung des gerechten Lazarus]

Antritt zum Kreuzweg

Der Mensch wurde weder für das Elend noch für das Leiden erschaffen. Der hl. Gregor der Theologe sagt, wir haben das Leben empfangen, um zu gedeihen, und wir gediehen, nachdem wir unser Dasein erlangt hatten. Das Paradies war uns anvertraut, damit wir uns daran freuen. Uns waren Gebote gegeben, damit wir ihnen gehorchen und durch ihre Beachtung Verherrlichung erlangten. Sie waren uns auferlegt, nicht weil Gott die Zukunft nicht kannte, sondern weil Er das Gesetz der Freiheit verordnete. Wir erlagen der Lockung (des Stolzes), weil wir Neid hervorriefen. Und wir fielen, weil wir uns gegen das Gesetz vergingen, ohne unsere Unterordnung und den Gehorsam gegenüber Gott aufrecht zu erhalten. Wegen dieser Übertretung aus Ungehorsam wurden wir vom Vater des Menschengeschlechts aus dem Paradies verbannt und in ein Erdenleben des Leidens, der Krankheit, des Kummers und schließlich des Todes hineingeführt. So war die Sünde der Ursprung der Tränen und der Seufzer des Menschengeschlechts: ein Geschick, das alle gemein haben, die auf Erden leben. Die Übertretung des Gebotes Gottes unterwarf den Menschen nicht nur dem zeitlichen Elend und dem Leiden, sondern sie nahm auch Gott von ihm fort, sie ließ ihn das ewige Leben verlieren und verschloß die Pforten zum Himmelreich für ihn, so daß selbst die Seelen der Gerechten in die Hölle hinabstiegen, bevor der Erlöser auf die Welt gekommen war.
Doch der allbarmherzige Herr beließ den Menschen nicht in diesem unglückseligen Zustand. Um das Menschengeschlecht zu retten, neigte unser Schöpfer aus Seinem großen Mitleid die Himmel und stieg auf die Erde herab, wurde Selbst Mensch, litt am Kreuz und erlöste uns mit Seinem allerreinsten Blut. Dadurch erlöste Er uns vom Fluch. Mit Seiner Auferstehung tat Er das himmlische Königreich wieder auf und ließ uns den Zugang zur Freude in Glückseligkeit. Indes ließ Er Seine Gefolgschaft auf dieser Erde nicht ohne Kummer und Leiden. Im Gegenteil, wie Er Selbst das Leiden beim Rettungswerk und beim Aufstieg in Seine Herrlichkeit ertrug, so müssen auch wir diesem Weg folgen. Sintemal auch Christus gelitten hat für uns und uns ein Vorbild gelassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen (1 Petr 2,21), sagt der Apostel Petrus. Und der Herr Selbst hat gewarnt: Will Mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge Mir nach (Mt 16,24). Er fügte bei: Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist Meiner nicht wert (Mt 10,38). Und in Seiner Rede zu den Jüngern kurz vor Seinem Tod verkündete der Herr: In der Welt habt ihr Bedrängnis (Joh 16,33). So erachtete der Retter des Universums den Kummer als unausweichlichen Teil in des Menschen Erdenleben. Durch Sein heilbringendes Leiden hat der Herr den Menschen aus den Prüfungen und vom Kummer erlöst, die jener über sich gebracht hatte, indem er Gottes Gebot nicht gehorchte. Er hat sie zu einem Mittel gewandelt, auf daß der gläubige Christ die ewige Glückseligkeit erlange, wie dies der Evangelist Lukas bestärkt: Wir müssen durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen (Apg 14,22).
Nicht wenige Menschen vergegenwärtigten sich diese Wahrheit, gaben sich Gottes Willen hin und ertrugen den Kummer des gegenwärtigen Lebens in der Hoffnung, ewige Segensgaben zu erhalten. Viele suchen diese, wo sie nicht zu finden sind, nämlich auf Erden im wechselhaften Ruf und bei den flüchtigen, vergänglichen Freuden dieser Welt. Sie jagen Schatten nach, statt die wahrhaftigen Segensgaben zu suchen, und vergessen dabei, daß Leiden und Pein auf Nachlässigkeit in Vergnügungen folgen. Doch für jene Christen, welche den Kummer des gegenwärtigen Lebens erdulden, gibt es den Trost der geistigen Gaben schon auf Erden, im kommenden Äon aber unvorstellbare, ewige Segensgaben, endlose Freude und Wonne.
In einer alten christlichen Stadt lebte ein gottesfürchtiger Mann. Er war reich und berühmt, und er hieß Theophilus [Freund Gottes]. Nach dem Tod seiner Frau blieb er mit drei Töchtern zurück. Die älteste hieß Stavrophila [Freundin des Kreuzes]. Sie war die hübscheste und intelligenteste der drei. Sie hieß so, weil sie am Festtag der Erhöhung des Leben spendenden Kreuzes des Herrn geboren war. Die zweite Tochter hieß Hilaria [die Fröhliche] und die jüngste Honoria [die in Ehren Stehende]. Die Namen, welche die Eltern ihnen gegeben hatten, stellten sich später als übereinstimmend mit den Neigungen und mit dem Charakter einer jeden heraus: Stavrophila ging es um ein Gott gefälliges Leben. Hilaria liebte nur die Vergnügungen und Lustbarkeiten dieser Welt. Und Honoria war auf Ruhm und Ehre aus.
Theophilus besaß ein Landgut in der Umgebung der Stadt. Seine Töchter kamen dorthin zu Besuch, um sich vom Treiben der Stadt zu erholen. Sie verbrachten eine gute Zeit dort in der Ruhe der Landschaft und erfreuten sich der sauberen, gesunden Luft. Auf der Reise durch den Wald wollte Stavrophila eine Kapelle besuchen, die dem Leben spendenden Kreuz des Herrn geweiht und in der Nähe war. Sie lud ihre Schwestern ein, mit ihr zu kommen, doch jene lehnten ab, weil sie ihre Zeit in Behaglichkeit und mit Vergnügungen zubringen wollten. So ließen sie Stavrophila gehen, wohin jene das Herzensbegehren zog. Traurig brach sie von ihren Schwestern auf und versprach, bald zurückzukommen. Doch sie kannte den Wald und seine Wege nicht. Bald schon verpaßte sie die Kapelle des heiligen Kreuzes und wanderte weit und weiter davon weg, auch wenn sie meinte, näher zu kommen. Weil sie nicht wußte, was sie tun sollte, saß sie unter einen Baum mit dickem Laubwerk, um zu rasten. Während sie über ihre Lage nachsann, begann sie zu denken: „Wie ich nun durch den Wald wandere und immer weiter von der Kapelle des heiligen Kreuzes abkomme, so wallen viele Seelen auf den Wegen der Welt und kommen vom Weg zur wahrhaftigen Rettung ab, begehen viele Sünden und sind schließlich weitab des Himmels.“
Je mehr Stavrophila diesen Gedanken hegte, desto stärker erfüllte sich ihr Herz mit dieser heiligen Wahrheit. Sie machte sich nicht so sehr Sorgen darum, den Weg aus dem Wald heraus zu finden, wie darum, den Weg ins ewige Leben zu entdecken. So wandte sie sich an Gott und seufzte aus der Tiefe ihres Herzens: „Mein Herr, Du Lenker meines Lebens! Deine Dienerin steht vor Dir. Wie viele Jahre meines Lebens sind nun schon vergangen und wer weiß, ob sie nützlich zugebracht sind? Auf diesem allgemeinen Grund, wo die Sterblichen sich bewegen, habe auch ich genug erlebt, doch führt dieser Weg zur Rettung oder zur Zerstörung? Was, wenn ich statt des Weges zur Rettung denjenigen der Eitelkeit eingeschlagen habe? Wie doch in der heiligen Schrift gesagt wird: Manch einem erscheint sein Weg gerade, doch sein Ende sind Todeswege (Spr 16,25). Ich irre wie ein verlorenes Schaf, suche Deinen Knecht, denn Deine Gebote hab ich nicht vergessen (Ps 118,176). Ich weiß es, Herr, des Menschen Weg steht nicht in seiner Gewalt und es ist dem Menschen nicht gegeben, seinen Gang zu bestimmen (Jer 10,23). Wie doch der Allweise sagt: Vom Herrn sind die Schritte des Mannes; und der Mensch, wie sollte er seinen Weg verstehen (Spr 20,24). Darum flehe ich Dich an, meinen Herrn: Prüfe mich, o Gott, und erkenne mein Herz; erforsche mich, und erkenne meine Wege; und sieh, ob ich auf bösem Wege walle: Du leite mich auf Deinem Weg (Ps 138,23–24). Laß Deine Huld mich erfahren am Morgen, denn ich vertraue auf Dich. Tue mir kund, welchen Weg ich soll schreiten, denn ich erhebe zu Dir meine Seele (Ps 143,8).“
So schrie Stavrophila mit gebrochenem Herzen und unter Tränen zum Herrn. Sie trachtete nach einem besseren Leben und wollte alles aus ihrer Seele reißen, was weltlich ist, um sich mit brennendem Herzen dem Königreich des Himmels hinzugeben.

Der Weg des Kreuzes als wahrhaftiger Weg zum Himmel, den wir alle gehen sollten

Fragt ?, welches der Weg zum Guten ist, diesen geht, damit ihr Ruhe findet für eure Seele(Jer 6,16)
Stavrophilas warmes und aufrichtiges Gebet konnte von Ihm nur erhört werden. Er freut Sich ja an jenen, die Ihn fürchten und die auf Seine Barmherzigkeit hoffen (Ps 146,11). Um Seine Dienerin zu trösten, ließ der Herr Stav-rophila einem Wüstenvater begegnen. Überrascht von dessen Auftreten verschlug es ihr die Sprache.
Doch der Eremit sagte sanft: „Hab keine Angst. Der Herr, Welcher der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (Joh 4,16), schickt mich. Ich bin gekommen, um deinen Wunsch zu er-füllen. Denn dein Gebet ist erhört worden. Es hat sich aus einem verstörten und aufrichtigen Herzen erhoben und kam vor den Herrn wie wohlriechender Weihrauch. Du konntest dir nichts Besseres erwünschen, als was der Herr Selbst durch den Propheten Jeremia gesagt hat: Fragt …, welches der Weg zum Guten ist; diesen geht, damit ihr Ruhe findet für eure Seele (Jer 6,16). Wegen deines Gebets bin ich heute gesandt worden von Dem, Der die Himmel neigte und auf Erden herabstieg, um dich den Pfad der Rettung zu lehren, wie es deine Seele erwünscht.“
Als sie diese Worte hörte, erfüllte sich Stavrophilas Herz mit großem Glück, und sie rief staunend aus: „Was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkst (Ps 8,4)? Und: Woher wird mir dies zuteil, daß der Gesandte des Herrn zu mir kommt (vgl. Lk 1,43)?
Wüstenvater: Nicht weil du dessen würdig bist, bin ich gekommen, sondern wegen Gottes Freundlichkeit: Wohl de-nen, die Meine Wege einhalten (Spr 8,32).
Stavrophila: Ich danke Dir, Du barmherziger Herr, daß Du die Gebete einer Bettlerin nicht zurückgewiesen, sondern Deiner Dienerin Gnade erwiesen hast, indem Du mir Deinen Eremiten als Lotsen gesandt hast. Ich flehe Dich an, o Herr, laß von nun an Dein Wort mit mir sein. Lehre Deine Dienerin den rechten Weg und zeige mir den Pfad der Wahrheit.
Wüstenvater: Hör nun gut zu, Dienerin Gottes, damit du die Botschaft des ewigen Lebens begreifst. Als das Menschen-geschlecht seinen Weg besudelte und vom Weg der Wahrheit abkam, ist der Sohn Gottes vom Himmel herabgestiegen, um den Menschen den neuen und lebendigen Weg zu zeigen, den Er uns durch den Vorhang hindurch — das heißt durch das Fleisch — geöffnet hat (Hebr 10,20), um uns in die heilige Gegenwart Gottes vorzulassen.
Denn wie einst die Übertretung des Fleisches den Weg zum Himmel verschloß und ein Hindernis in den Weg legte, so zerriß der Fleisch gewordene Sohn Gottes den Vorhang, Seinen menschlichen Leib, den Er um aller Menschen und um deren Rettung willen angenommen hatte, und leuchtete einen neuen Pfad für dich aus, den Er zuerst gegangen war, und gab so all jenen die Kraft, die Ihm im Glauben folgten, diesen zu durchlaufen.
Stavrophila: Ich verstehe nicht. Was ist dieser neue, Leben spendende Weg, der ins ewige Leben führt?
Wüstenvater: Dieser Weg ist kein anderer als der Weg des Kreuzes. Hast du nicht jene Worte des Herrn gehört: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und Mir nachfolgt, ist Meiner nicht Wert (Mt 10,38)? Oft hat Er diesen Punkt den Menschen klar gemacht, so daß niemand für sich Unwissen beanspruchen konnte. Und daß niemand denke, die Worte des Herrn beträfen nur die Apostel und Jünger, schrieb der hl. Lukas, indem er den Meister zitierte: Zu allen sagte Er: Wer Mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge Mir nach (Lk 9,23). Der Evangelist Markus vermerkt noch deutlicher, wo er an die Worte Christi zu Seinen Jüngern über Sein Leiden erinnert: Dann rief Er das Volk samt Seinen Jüngern zu Sich und sagte zu ihnen: Wer Mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge Mir nach (Mk 8,34).
Der Retter der Welt hat einen jeden auf diesen Weg hin-gewiesen, Stavrophila, und zwar ausnahmslos. Denn dies ist der Pfad des Lebens und der Verherrlichung, der Weg zum ewigen Leben und ins Königreich. Ohne das Kreuz gibt es keine Rettung für die Seele und keine Hoffnung auf ein gesegnetes Leben. Es gibt keinen anderen Weg zum Leben und zu wahrhaftigem innerem Frieden, als den Weg des Kreuzes. Geh hin, wo auch immer du willst, suche, was auch immer du magst, doch ohne den Weg des Kreuzes wirst du weder den höchsten Berg, noch das sicherste Tal finden. Im Kreuz ist Leben und Schutz vor den Feinden. Das Kreuz ist der Quell der ewigen Wonne und der Kraft der Weisheit. Im Kreuz ist die geistige Freude und die Erfüllung der Tugend. Im Kreuz ist Ganzheit in der Heiligkeit.
Stavrophila machte es Angst, daß der Eremit ihr nur das Kreuz anbot. Darum sagte sie: Die Rede ist hart; wer kann sie anhören (Joh 6,60)? Sie dringt durch mein Herz wie ein Schwert. Denn das Kreuz ist ja ein Werkzeug zur Hinrichtung. Selbst das Wort „Kreuz“ zu hören ist schon schwer zu ertragen. Denn es erinnert an Qual und an Leiden. So überrennen mich deine Worte.
Wüstenvater: Ist es denn möglich, daß du bei der schieren Erinnerung an das Kreuz Angst hast? Macht dir die Erwähnung des Kreuzes Angst, dann, Stavrophila, bist du wirklich klein-gläubig. Sieh doch, wie du deinem Namen widersprichst: Denn Stavrophila heißt „eine, die das Kreuz liebt.“ Weißt du denn noch nicht, daß es in dieser tränendurchtränkten Welt keine Zeit für Vergnügen und Freude gibt, sondern nur Plackerei und Kummer? Hat denn einer je den Weg der Tugend ohne Kummer und Versuchung durchlaufen? Du weißt, der einzig gezeugte Sohn, Der dem Menschengeschlecht vom Vater gesandt wurde, ist der Lehrer der Wahrheit und Ehrlichkeit. Der himmlische Vater hat Ihn auf dem Berg Tabor ja mit diesen Worten geehrt: Dies ist Mein geliebter Sohn, an Dem Ich Gefallen gefunden habe; auf Ihn sollt Ihr hören (Mt 17,5). Und Er Selbst sagte zu Seinen Jüngern: Ihr sagt zu Mir Meister und Herr, und mit Recht tut ihr das, denn Ich bin es (Joh 13,13). Der Apostel fügt noch bei: In Dem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind (Kol 2,3). Als Er auf Erden war, hat der Meister mehr als alles andere den Weg des Kreuzes gepredigt. Sagt Er denn nicht deutlich: Wer nicht sein Kreuz trägt und Mir nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein (Lk 14,27)?
Stavrophila hörte auf die Worte des Wüstenvaters und schrie zum Herrn: Jesus Christus, freundlicher Lehrer, vergib auf Deine Weise einem Zögling ohne Erfahrung. Fürwahr, ich habe Deine Lehre vergessen, obschon ich sie oft in der Kirche gehört habe.
Wüstenvater: Es ist nicht genug, diese Lehre einfach zu hören. Man muß sich daran erinnern und sie in die Tat umsetzen. Der Lauf dieses Lebens ist die Zeit, die Gott dir gegeben hat, um die Weise zu lernen, das Kreuz zu tagen. Der Tod ist die Zeit der Überprüfung. Dann wird unser Herr, Lehrer und Richter von jedem Rechenschaft hinsichtlich Seiner Lehre verlangen. Wer den Weg des Kreuzes dann nicht kennt, den wird Er von Sich weisen, weil ein solcher Seines Königreichs nicht würdig ist. Denn wenn Er kommt, um die Menschen zu richten, dann wird das Zeichen des Kreuzes am Himmel erscheinen. Und diese Erscheinung wird ein Zeichen sein, anhand dessen der gerechte Richter Seine Auserwählten erkennen wird. Im Schmucke des Mahnmales Seines Todes wird der barmherzige Erlöser alle zusammenrufen, um ihnen den Lohn des ewigen Lebens zu geben: Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt das Reich in Besitz, das euch seit Erschaffung der Welt bereitet ist (Mt 25,34). Dann werden alle, die in diesem Leben ihr Kreuz getragen und Christi Kreuzigung nachgeeifert haben, indem sie ihren Kummer ertrugen, vor den Richter kommen in großem Vertrauen und mit großer Beherztheit. Denn wer auf das Wort des Kreuzes gehört hat und ihm willig und behende gefolgt ist, der wird keinen Grund zur Furcht wegen ewiger Qual haben. Folge auch du, Jüngerin Christi, dem schmalen und dornenbewachsenen Pfad. Erachte dies nicht als zu schwierig und sei nicht kleingläubig! Man kann dieses Leben nicht ohne Kreuz und Kummer verleben. Auch wenn du, Stavrophila, von plötzlicher Angst geschlagen bist, meide den Weg zur Rettung nicht, weil der Anfang stets mühsam ist. Doch bleibt man unverrückbar und bewahrt den Glauben, wird man imstande sein, mit willigem Herzen fortzufahren, nämlich in Liebe und in unsäglicher Freude auf dem Weg von Gottes Geboten.
Von diesen Worten des Eremiten überzeugt rief Stavrophila zum Herrn aus: Herr! … um der Worte Deiner Lippen willen hab ich harte Wege eingehalten (Ps 16,4). Ich will einschlagen den schmalen Weg des Kreuzes in gnadenvoller Hoffnung, wenn nur Du, mein Herr, mein Helfer und Beschützer bist.
Wüstenvater: So ist es gut, Mädchen! Der Herr wird dich nicht im Stiche lassen und nicht verachten. Er hat ja verordnet, daß der Mensch sein Kreuz trage. Und Er Selbst gab uns ein Beispiel, wie man das Kreuz trägt. Wäre Er dir auf diesem Weg fürwahr nicht vorangegangen, hätte Er auch nicht angeordnet, daß du Ihm nachfolgen sollst. Bleib standhaft und mutig! Er wird unter allen schwierigen Umständen und im Elend des Herzens bei dir sein.

Was ist das Kreuz in seiner Vielfalt?

Viele Drangsale kommen über die Gerechten (Ps 33,20)
Stavrophila nahm die Erläuterungen des Wüstenvaters entgegen und sehnte sich nach weiterer Unterweisung. So sagte sie: Ich habe mich nun einmal unterfangen, zu meinem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin (Gen 18,27). Sag mir bitte, Diener Gottes, was die Worte bedeuten: Nehmt das Kreuz auf euch? Heißt dies, daß jeder von uns ein hölzernes Kreuz tragen oder sich am Holze kreuzigen lassen soll, wie es bei unserem Herrn Jesus Christus war?
Wüstenvater: Du redest, wie eine törichte Frau spricht (Hiob 2,10), welche die heiligen Schriften nicht versteht. Das Kreuz des Christen ist nicht nur ein sichtbares Zeichen, sondern auch der Entschluß, das Leben tugendhaft zu verbringen. Das ganze Leben eines Christen ist Kreuz und Leiden, wenn es denn mit der Lehre des Evangeliums einhergeht. Es hat zwar ein paar Mönche gegeben, die wie du, Stavrophila, für Gott entbrannten und aus fehlender Erfahrung darauf aus waren, was du sagst. So nahmen sie jene Worte des Herrn buchstäblich: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und Mir nachfolgt, ist Meiner nicht wert (Mt 10,38). Sie machten sich hölzerne Kreuze und schleppten sie auf dem Rücken herum. So trugen sie nicht zur Erbauung der Menschen bei, sondern machten sich lächerlich. Abba Serenus deckte auf, wer den heiligen Schriften so auf’s Wort folgt, gibt keine Acht auf den Leben spendenden Geist und deshalb ein entmutigendes Beispiel ab. Das Kreuz, welches Gott uns zu tragen heißt, besteht nicht darin, sich ans Holz nageln zu lassen, sondern zeit seines Lebens alle Tugenden zu lernen und zu vollziehen. Wurden denn etwa alle Jünger Christi geopfert? Wurden denn etwa alle Jungfrauen, die nach den Worten der geheimen Offenbarung dem Lamm folgten, wohin es geht (Offb 14,4), ans Kreuz genagelt? Der Apostel Paulus wurde gekreuzigt, wenn er sagte: Ich will mich nicht rühmen, außer im Kreuze unseres Herrn Jesus Christus, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt (Gal 6,14). Das Kreuz auf sich zu nehmen bedeutet die fleischliche Lust abzutöten, schlechte Gewohnheiten zurückzuweisen, sich weltlichen Sorgen zu ent-fremden und sich von jeglicher Sünde zurückzunehmen.
Stavrophila: Du bringst Licht in mein Unwissen durch die Klarheit der Wahrheit. Doch kann ich mir die Freiheit heraus-nehmen und eine weitere Frage stellen: Ist es möglich, daß jene, die in ihrer Herzenschlichtheit ein hölzernes Kreuz trugen, keinen geistlichen Nutzen für ihre Seelen erlangten?
Wüstenvater: Ganz im Gegenteil, sie empfingen ihn, wenn sie denn von solch heiliger Schlichtheit waren, daß sie dies als die Erfüllung von Gottes Geboten erachteten. Wenn dein Auge gesund ist, wird dein ganzer Leib licht sein (Mt 6,22). Wenn die Absicht als hauptsächliche Grundlage tugendhaft ist, dann wird alles gut sein, was daraus hervorgeht. Doch ich wiederhole, was ich früher gesagt habe: Trag das Kreuz. Der Herr heißt uns ja nicht, ein Stück Holz zu tragen, sondern Elend zu ertragen. Das Kreuz zu tragen bedeutet, alles zu ertragen, was Elend bringt oder Leiden bewirkt. Das Kreuz zu tragen heißt, alles zu erdulden, was das Leben bringt, und zwar in Christi Namen. Das Kreuz zu tragen besagt, bereit zu sein, für Christus zu sterben. Tötet die üblen Begierden, die in euch schwären (Kol 3,5). Es bedeutet, die Einstellung zu haben, jeder Art von Gefahr im Namen Christi zu begegnen und sich nicht ans irdische Leben zu binden (hl. Basil der Große, Regeln, Frage 6). Willst du also deinem Retter folgen, verwandle dir Drohungen, Schmeichelei und Hindernisse in ein Kreuz — dulde, ertrage und unterliege nicht (sel. Augustinus, Conf. 47).
Stavrophila schwieg und ließ die Worte ihres weisen Lehrers in ihr Herz hinein.
Wüstenvater: Möchtest du, Tochter des Herrn, genauere Einzelheiten darüber wissen, wie unterschiedlich das Kreuz sein kann, das uns Gott zu tragen heißt? Geh mir auf diesem Weg hinterher. Ich will dir das Kreuz ausgiebig zeigen, aus dem der himmlische Vater den Auserwählten die Kreuze aushändigt, wie es Ihm gefällt.
Weil sie die unterschiedlichen Kreuze kennen lernen wollte, folgte Stavrophila dem Eremiten begierig. Schon bald kamen sie auf einen Hügel, auf dem Kreuze standen wie hohe Bäume. Schau hin, sagte der Wüstenvater, eine Ansammlung von Kreuzen, die zur Rettung des Menschengeschlechts bereit stehen. Wenn du diesen Hügel mit den Kreuzen geschmückt siehst, was erkennst du als erstes, wenn nicht das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus. Daran siehst du die Dornenkrone und zu beiden Seiten einen Speer und einen Stock mit einem Schwamm. Es gehört sich, daß dieser in Ehren stehende Baum den ersten Platz einnimmt. Denn er ist höher als die Zedern. Der Herr — das Leben der Welt — wurde daran angenagelt und überwand dort den Tod.
Stavrophila: Ich erkenne das Mittel zu unserer Rettung, das Zeichen des Siegs über den Teufel und der Anbeginn von dessen Untergang. Doch sag mir, wem gehört dieses Kreuz, das vom Kreuz des Herrn nicht sehr abweicht, aber kopfüber steht?
Wüstenvater: Es gehört dem Apostel Petrus. Auch er hat das Kreuz erlitten. Doch er wollte nicht in der gewöhnlichen Stellung wie sein Lehrer gekreuzigt werden, sondern verlangte, kopfüber angenagelt zu werden „wie der Strom vom Himmel auf die Erde herab“ (hl. Johannes Chrysostomos, Kommentar zu Petrus und Paulus).
Stavrophila: Ich möchte auch wissen, welche andern Arten von Kreuzen es noch gibt.
Wüstenvater: Schau! Dies ist das Kreuz, an dem der Apostel Andreas, der Erstberufene, gekreuzigt wurde (in der Form eines X). Dann gibt es verschiedene Typen von Kreuzen, die bei unterschiedlichen Nationen über die Jahrhunderte für Hinrichtungen im Gebrauch standen.
Stavrophila: Ich möchte aufrichtig wissen, wofür die Kreuz-e mit den unterschiedlichen Inschriften und Insignien stehen; sie haben zweifelsohne eine sakramentale Bedeutung.
Wüstenvater: Sie stehen für unterschiedliche Arten des Leidens, welche die Seele oder der Leib — oder beide — eines Menschen erleiden. Das Kreuz, auf dem du ein Herz von einem Schwert durchstochen siehst, bedeutet ein inneres Kreuz: eines, das der Seele großes Elend bringt. Es ist das Kreuz der seligen Muttergottes: Symeon segnete sie und sagte zu Maria: Ein Schwert wird deine Seele durchdringen (Lk 2,34–35). Ein ähnliches Kreuz hat der Apostel Paulus getragen, wenn er sagte: Mein Herz in mir ist schwer (Röm 9,2). Dabei klagte er über seine Brüder, die im jüdischen Glauben verblieben und nicht an Christus glaubten. Dies sollte man ein Kreuz des Mitleids nennen. Denn jemand, der Mitleid in seinem Herzen hat für seinen Nächsten, der in Not ist, trägt ein Kreuz in seiner Seele. Ein inneres Kreuz meint auch Kummer, Schwierigkeiten und Herzenselend, Krankheit, Zweifel und Mutlosigkeit. Wie der Prophet David ausruft, ist das Leiden der Seele aufgrund der Vorwürfe des Gewissens jenes der Kreuze im Innern, das am meisten lastet: Herr, Du Gott meines Heiles! Am Tage ruf ich und das Nachts vor Dir. Denn erfüllt ist mit Unglück meine Seele, und mein Leben ist nahe der Unterwelt (Ps 87,2.4).
Stavrophila: Demzufolge erkennt die Seele, es ist der größte Kummer, dem Vater der Barmherzigkeit und dem Gott des Trostes zu mißfallen. Doch ich möchte die Bedeutung der restlichen Kreuze noch wissen.
Der Eremit deutete auf das Kreuz mit den Schwertern, mit den Lanzen, den Geißeln und mit den Ketten und sprach: Dieses Kreuz steht für die unterschiedlichen Märtyrer um Christi willen. Schau, wie viel Pein hatten sie zu erdulden in der Hoffnung auf ihren Lohn. Einige hatten Spott und Geißelhiebe, dazu noch Fesseln und Kerker erduldet. Sie wurden gesteinigt, verbrannt, zersägt, sie starben den Tod durchs Schwert (Hebr 11,36–37).
Was haben diese Menschen doch in dieser Welt erlitten: in einer Welt, die ihrer nicht würdig war! Dann gibt es da noch das Kreuz der Krankheit. Und dieses ist nicht nur nützlich, sondern zuweilen gar notwendig. Die Israeliten dachten in guten Zeiten nicht an Gott, doch hat sich gemehrt ihr Elend, danach eilten sie herbei (Ps 15,4). Wenn Er sie umbrachte, dann fragen sie nach Ihm, kehrten um und suchten nach Gott (Ps 77,34). Häufig ernüchtert die Krankheit des Leibes den Verstand. Krankheit schadet, sie vertreibt den Schlaf und macht die Seele hellhörig (Sir 31,2). Darum sollte man Krankheit für nichts mehr als eine nützliche Medizin erachten: Sie hilft dem Menschen, alles Fleischliche und Vergängliche zu verachten, um alles dem himmlischen Vater zu geben (hl. Gregor von Nazianz). Wie du siehst, sind an dieses Kreuz ein Stock und ein Sack gebunden: Es ist das Kreuz der Armut. Armut kann auch zur Tugend führen, wenn sie einfühlsam ertragen wird. Wer weiß schon nicht, der Erwerb von Reichtum wird von lästigen und schädlichen Sorgen begleitet, dessen Bewahrung von Gefahr und Furcht, sein Verlust aber von großem Kummer ist? Liebt der Mensch den Reichtum, besudelt er ihn. Mehrt ihn der Mensch, belastet er ihn. Kommt es zu Verlust, führt dies zu Elend.
Stavrophila: Und was bedeutet jenes Kreuz, dieses in der Nähe des Leichenwagens?
Wüstenvater: Dieses Kreuz ist der Kummer über den Ver-lust von Eltern, Verwandten und Freunden. Man sollte dieses Kreuz geneigt tragen. Obschon es hart ist, seine Verwandten zu verlieren, sollte man nicht murren. Denn sie erfreuen sich der Wonne in demselben Gott, Der sie erschaffen hat. Für viele ist es ja nicht von Nutzen, Freunde zu haben, ganz besonders wenn sie sich in ihrem Leben von Gott abgewendet haben.
Dann bemerkte der Eremit, wie Stavrophila neugierig auf ein Kreuz schaute, welches das Abbild eines Irren trug. Da sagte er zu ihr: Dich nimmt dieses ungewöhnliche Bild wunder. Du begreifst seinen Sinn nicht? Es ist ein schwer lastendes Kreuz von Verdemütigung und Schmach. Wer dieses Kreuz wirklich erduldet, der schämt sich nicht und hat auch keine Angst davor, den Namen eines Irren um Christi willen zu tragen. Nichts regt die Seele eines Menschen mehr auf, als der Gedanke, geschmäht zu werden. Viele wollen Gott dienen, doch zugleich wollen sie Ruhm und Ehre der Menschen erlangen. Vielen ist Demut ohne Erniedrigung lieb. Sie wollen sie erlangen, ohne weltlicher Ehren verlustig zu gehen im Willen, den Segen der Duldsamkeit ohne Unehre und Vorwurf zu empfangen (hl. Johannes Cassian, Conf. 4, 12). Der wahrhaftige Diener Gottes, dessen Leben nach Meinung der Welt Irrsinn ist, erträgt seine Herabsetzung, seine Verleumdung, Vorwürfe und Verdammung geduldig. Wer diese Schinderei auf sich nimmt, dem gilt Ernte in Überfülle. Wie viel Nutzen ist doch jenen gegeben, welche die Erniedrigung wahrhaftig ertragen. Und wie viel Schaden kommt doch von jenen, die sie lächerlich machen. Gott erwählt jene, welche die Welt verachtet, weil der Mensch durch Demut rascher sich selbst kennen lernt. So lehrt doch der Apostel weise, wie wir uns für Gott abmühen müssen: Wir stehen wahrhaft zum Herrn, ob andere uns ehren oder verachten (2 Kor 6,8).
Eine Ansammlung aneinander gebundener Kreuze be-deu-tet allerhand Sorgen, die Gott zugelassen und dem Menschen gesandt hat zu dessen Rettung.

Jesus Christus erlitt das Kreuz in allen Formen

Er wurde durchbohrt um unserer S?nden willen, zerschlagen wegen unserer Mi?etaten (Jes 53,5)

Stavrophila war überrascht, daß einer Person zuweilen viele unterschiedliche Kreuze auferlegt werden. Jedes der Kreuze, worauf du mich hingewiesen hast, wäre schon genug, um den stärksten Mann zu fällen, sagte sie zum Eremiten. Wer kann denn mehrere Kreuze zugleich ertragen?
Wüstenvater: Was sagst du da? Hast du etwa je an jenen Diener Gottes, an Hiob gedacht? Wie viel Leiden hat er doch ertragen! Wie viele Kreuze wurden ihm doch plötzlich auferlegt. Seine Herden, seine Ochsen, seine Esel und seine Kamele wurden von Banditen weggetrieben. Seine Sklaven wurden geschlagen; Feuer fiel vom Himmel und vernichtete alle seine Schafe und seine Hirten. Seine Söhne und Töchter hielten ein Fest, als plötzlich ein mächtiger Wind aus der Wüste heranwehte und das Haus verschlang. Er ließ das Dach einbrechen, und es tötete alle im Innern. Hiob selbst wurde von schrecklichen Geschwüren von Kopf bis Fuß geschlagen. Er saß auf der Asche im Umland der Stadt und nahm eine Tonscherbe, um den Eiter abzuschaben. Um sein Leiden voll zu machen, veschlimmerten seine Frau und seine Freunde sein Elend mit ihren Vorwürfen. In all diesen Mühen blieb der Geist dieses Heiligen standhaft, und er sagte: Wenn wir das Gute von Gott annehmen, warum nicht auch das Schlechte? Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, gepriesen sei der Name des Herrn (Hiob 2,10.1,21).
Stavrophila: Wie groß ist doch die Duldsamkeit eines Hiob! Doch wer kann sich mit ihm vergleichen? Wer wird meine Seele so bestärken, daß kein Unglück mich schwanken macht?
Wüstenvater: Es gibt keine bessere Weise, seine Stand-haftigkeit zu stärken und durchzusetzen, als auf den Urheber und Vollender unsers Glaubens hinzublicken (Hebr 12,2). Er hat so gelitten, daß Er das Abbild Seiner Selbst bei jenen lassen konnte, die Ihm nachfolgen, nämlich als Beispiel, das es nachzuahmen gilt. Alle Kreuze und all die Sorgen dieser Welt, welche der Herr Jesus Christus uns zu ertragen heißt — Er unser Gott —, hat Er ja selbst erlitten, damit nichts Böses uns beängstige oder uns überwinde. Wenn du, Stavrophila, dies bedenkst, wirst du finden, aus all den Kreuzen, die du gesehen hast, bleibt kein einziges übrig, welches nicht auch Er schon ertragen hat.
Stavrophila: Kann es denn sein, daß Christus, unser Retter, schon alle Kreuze erduldet hat?
Wüstenvater: Ja! Hör zu, ich will dir kurz die unterschied-lichen Kreuze aufzählen, die der Herr Jesus Christus ertragen hat. Von den ersten Tagen Seines Lebens auf Erden an, ja seit dem Mutterschoß liebte Er die Armut. Obschon Er reich war, ist Er um euretwillen arm geworden, damit ihr durch Seine Armut reich würdet (2 Kor 8,9). Welchen Ort hat denn der Schöpfer dieser Welt für Seine Geburt ausgesucht? Eine Höhle eher als ein Haus, eine Krippe als Bett, rauhes Leinen eher als ein Purpurgewand, Fetzen anstelle eines königlichen Habits. Der höchste Lehrer wählte in den Augen der Welt unbedeutende Menschen als Seine Apostel, die so armselig und einfach waren wie Er Selbst. Er hatte keinen Ort, um Sein Haupt hinzulegen, wie Er erklärte: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester. Der Menschensohn aber hat nichts, wohin Er Sein Haupt legen kann (Mt 8,20). Er empfand Mitleid mit der Schwäche der Menschen und deshalb weinte Er über den Niedergang Jerusalems. Als Sein Freund Lazarus starb, hat Ihn das tief getroffen, und Tränen kamen in Seine Augen, so daß die jüdischen Führer sagten: Seht, wie sehr Er ihn liebte (Joh 11,30). Er trank den vollen Kelch der Unehre und der Schändung aus. Seinen Worten wurde widersprochen, Seine Vorhaben überwacht, Seine Qual ins Lächerliche gezogen —, ja selbst Sein Tod wurde verspottet. Der Herr wurde Weinsäufer, Zöllner und Sünder, vom Teufel besessener Schmeichler und Gotteslästerer genannt, der Sich in törichter Weise göttliche Verdienste aneigne. So wurde die ewig währende Klugheit des Herrn als Verstörung und Irrsinn erachtet.
Die Juden gaben sich nicht mit der Erniedrigung nach Worten zufrieden, sondern sie schändeten Ihn auch körperlich, indem sie Ihn verhüllten und Ihn fragten: Weissage, Prophet, wer hat Dich geschlagen (Lk 22,64)? Als verächtliche Zerstörer Seiner Herrscherwürde krönten sie Ihn mit einer Dornenkrone, gaben Ihm einen Stock statt eines Szepters in die Hand und kleideten Ihn erniedrigend in ein rotes Purpurgewand. Du hast nun gehört, wie groß die körperlichen Qualen waren, die der Herr Jesus Christus erlitt. Er wurde gebunden, schrecklich über den Boden geschleift und unbarmherzig geschlagen auf Seine Wangen und auf Sein Haupt. Er wurde mit einer Dornenkrone gequält zusammen mit andern Demütigungen. Die Worte des Propheten haben sich im Herrn verwirklicht: Mein Schmerz steht mir immer vor Augen (Ps 37,18). Als Er zu Seiner Kreuzigung schritt, trug Er das Kreuz auf Seinen Schultern und wurde ans Kreuz genagelt. Was kann ich dir mehr sagen, Stavrophila, über das Leiden des Lammes Gottes? Verachtet war Er und von den Menschen gemieden, ein Mann von Schmerzen, leiderfahren. Aber unsere Krankheiten hat Er getragen, unsere Schmerzen hat Er auf Sich genommen (Jes 53,3–4). Auch wurde Ihm ein bitterer Trank gereicht ge-mäß den Worten des Propheten: Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen (Klag 3,19). Denk daran, wie die Worte des Psalmisten wahr wurden für Ihn: In meinem Durst tränken sie mich mit Essig (Ps 68,22).
Und zusammen mit diesem unsäglichen körperlichen Lei-den trug der Herr auch ein inneres Kreuz. Er bereitete Sich im Garten Gethsemane auf das freiwillige Leiden und auf den Tod vor. Da erfüllte Ihn Angst und Verzweiflung, und Er sprach: Meine Seele ist betrübt bis in den Tod (Mt 26,38). Als Er am Kreuze litt, welches Er aus freiem Willen auf Sich nahm, um das Menschengeschlecht von seinem Fluch zu befreien und um es mit dem himmlischen Vater zu versöhnen, schrie Seine gequälte Seele in der Verzweiflung der Verlassenheit von Sei-nem Vater auf: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen (Mt 27,46)? Welche Last trug doch der Gott-Mensch in Seinem Herzen, als Er alle Sünden auf Sich nahm, die von jedermann begangen waren seit dem Anbeginn der Welt, um sie zu vernichten? Er, jenes tadellose Lamm, Der keine Sünde begangen hat und in Dessen Mund sich kein Trug fand (1 Petr 2,22), wurde wie ein Schuldiger, um für dich vor dem Vater die Gerechtigkeit zu erfüllen, wie es der heilig David prophezeit hat: Stark sind Meine Feinde, die Mich ungerecht verfolgen (Ps 68,5). Er sah also deutlich, wessen und welche Schmähung Seinem gnädigen Vater angetan war. Er sah all das Böse, welches das ganze Geschlecht Adams in ewige Verdammung unterjochte. Er vermerkte all dies Böse deutlicher und gegenwärtiger als sonst ein menschliches Wesen. Und diese eine Beleidigung wäre schon mehr als genug gewesen, um das Leben des Retters der Welt abzukürzen, wenn Seine menschliche Natur nicht mit göttlicher Kraft gestärkt gewesen wäre. Inmitten solch schrecklicher Leiden übergab der Sohn Gottes schließlich Seine Seele dem Vater, und zwar um aller willen, die auf Erden sind, und Er ging dabei gar so weit, recht eigentlich den Tod eines Verbrechers am Kreuz zu sterben (Phil 2,8).
Sag mir nun, Stavrophila, welches andere Kreuz könnte da dem Retter der Welt noch fehlen? All dies erlitt Er für euch, daß ihr an Seine Duldsamkeit denkt, da Ihm sündige Menschen so Schreckliches antaten, damit ihr euren Seelen nicht erlaubt zu ermatten (Hebr 12,3). Wenn ihr euch an die Leiden Christi erinnert, laßt ihr euch von Seinem Beispiel begeistern und bestärken und sprecht: Wenn schon Er so viel erduldet hat, was soll ich dann erdulden? Denn wenn man dies am grünen Holze tut, was wird erst am dürren geschehen (Lk 23,31).

Wir sollen das Kreuz tragen, wie es die heilige Jungfrau Maria tat

Deine Seele wird ein Schwert durchdringen (Lk 2,35)
Die Worte des Einsiedlers drangen in Stavrophilas Herz wie scharfe Pfeile, und Tränen strömten aus ihren Augen. Als sie sich beruhigte, rief sie laut zum Herrn Jesus Christus: Ich danke Dir, Du Erhalter der treuen Seelen, daß Du uns mit Deinem Leben ein Beispiel des Ausharrens unter jeglicher Art des Kreuzes gezeigt hast. Gib mir die Kraft, dem Weg der Duldsamkeit, der Demut und Deinen Fußstapfen zu folgen, Christus, mein Herr. Welchem Kummer ich auch immer begegnen werde, ich vertraue fest darauf, daß ich mit Deiner Hilfe, o Herr, alle Hindernisse überwinden werde. Ich begreife nun, daß niemand vom Kummer befreit werden kann, indem man ihm aus dem Wege geht, sondern man sollte viel eher darauf schauen, ihn zu überwinden —, dies ist mein einziger Herzenswunsch und mein Begehren.
Wüstenvater: Segen über dich, da du dem Herrn dankbar bist. Denn wer dafür dankt, Segensgaben erhalten zu haben, ist würdig, noch mehr zu empfangen. Jetzt will ich dir noch einen anderen Anreiz bieten, das Kreuz zu ertragen. Die Gerechtigkeit verlangt, daß du dein Kreuz um des Königreiches Gottes willen und zu deiner Rettung trägst. Der Herr hält ja das himmlische Königreich feil, und der Preis dafür bist du, du selbst. Gott verlangt nichts anderes als dich. Gib dich selbst hin, und du wirst Ihn empfangen: Gib dich hin, indem du das Kreuz trägst. Gib dich hin, indem du Jesus Christus nachfolgst. Gib dich hin, indem du ein Leben unter dem Kreuz verlebst. Weshalb stört dich denn der Preis? Haben denn die Propheten dies nicht deutlich vorausgesagt, noch bevor Seine Zeit der Herrlichkeit angebrochen ist (Lk 24,27)? Hat denn nicht die allerreinste Muttergottes um diesen Preis einen Platz im Himmel erkauft — sie, die sich mit keinen irdischen Begierden befleckte; sie, die in himmlischer Geistlichkeit auferzogen wurde; sie, die sie selbst ein Himmel an Eingebung ist? (hl. Johannes von Damaskus, Über die Entschlafung der heiligen Jungfrau). Wäre es mög-lich, daß jemand die ewige Glückseligkeit ohne das Kreuz erlangt, würde dann nicht der Sohn Gottes geruhen, dies der heiligen Jungfrau zu gewähren, die Ihn geboren hat?
Doch die Entscheidung des himmlischen Vaters bleibt und wird immer unveränderlich bleiben: Sie müssen durch viele Drangsale in das Reich Gottes eingehen (Apg 14,22).
Stavrophila: Ich möchte noch etwas über die Kreuze und den Kummer der allerheiligsten Jungfrau hören, damit auch ich in ihren Fußstapfen dem Herrn, meinem Retter, nachfolgen kann.
Wüstenvater: Ich will einige der Kreuze nennen, damit du nicht sagen kannst, der Herr sei imstande, alle Hindernisse mit göttlicher Kraft zu überwinden. Denn wir haben ja das Beispiel einer Person des schwächeren Geschlechts, der kümmernden Muttergottes, der du dementsprechend große Ehre und Bitt-gebete geben wirst.
Stavrophila: Nichts könnte mir mehr gefallen als dies. Alles, was den Lobpreis der Theotokos betrifft, ist in mir schon als tröstliches Gefühl und als gottesfürchtiges Gespür erwacht.
Wüstenvater: Also hör gut hin! Ich will dir das Leiden und die Kreuze der allerseligsten Jungfrau darlegen. War es denn nicht kummerbeladen für die Muttergottes — sie, die Königin des Himmels, höher erhaben als die himmlischen Engel —, keine Bleibe zu haben, als die Zeit der Geburt unseres Herrn gekommen war, und Unterschlupf in einem offen Unterstand für Vieh zu suchen? Welches waren ihre Gefühle zu dieser Zeit, als sie den Aufschrei des neu geborenen Kindes hörte? Wie mutig hat sie doch Nacktheit, Kälte, Armut und das Fehlen des Nötigen ertragen während der ersten Tage Seiner Kindheit? Und was sollen wir über ihr Bewußtsein des Leidens sagen, welches ihr Kind, unseren Herrn Jesus Christus, erwartete? Schwoll da nicht der Schmerz in ihrem Herzen an, als sie Ihn in Windeln wickelte, Seine Hände und Füße berührte und darüber nachdachte, wie diese selben Füße und Hände eines Tages ans Kreuz genagelt würden? Welches schreckliche Schwert des Leidens durchstach da die Seele der Jungfrau, als sie Zeuge der Beschneidung ihres Sohnes war, zumal der böse Herodes sein gräßliches Dahinschlachten aller Kinder in der Umgebung ausführen ließ? Welchen Kummer hat sie doch erfahren, als sie sich nächtens verbarg und sich auf die Beschwernisse der Reise nach Ägypten vorbereitete, um ein Exil von sieben Jahren unter den gottlosen Barbaren zu beginnen? Was kann ich über die Sorge sagen, als ihr zwölfjähriger Sohn, Jesus, sie verließ, um drei Tage lang im Tempel in Jerusalem zu bleiben und um den jüdischen Ältesten zu predigen (Lk 2,41–48). Wenn schon Anna, die Mutter des Tobias, untröstlich weinte, als ihr Sohn zur abgemachten Zeit nicht zurückkehrte (Tob 10,3), um wie viel war da der Kummer der Muttergottes stärker, als sie annahm, ihr Sohn — fürwahr nicht nur ihr Sohn, sondern Gottes Sohn — sei verloren gegangen? Welchen Schmerz empfand sie, als ihr Verwandter, Johannes der Täufer, der unter den geborenen Menschen mehr als alle aufleuchtete (Mt 11,11), gefangen ge-setzt und enthauptet wurde? Und wie traurig war doch der Tod ihres angelobten Joseph für sie?
Stavrophila: Wahrlich groß und lastend war der Kummer von Gottes Mutter bei dieser Erfahrung.
Wüstenvater: Dies war nur ein Vorgeschmack auf die noch schrecklicheren Sorgen, die sie zu ertragen hatte. Sie war sich der Leiden gewahr, die ihren geliebten Sohn erwarteten. Denn sie hatte die Prophezeiungen über Ihn gelesen und verbarg sie in ihrem Herzen unter großem Kummer. Stell dir den Schmerz vor, den sie fühlte, als man ihr sagte, ihr Sohn sei wie ein Verbrecher gefangen genommen, verspottet und durch die menschengefüllten Strassen der Großstadt von einem Richter zum andern geschleift worden. Hat sie in ihrer mütterlichen Liebe nicht auch die Schläge auf Seine Wangen verspürt, jene unbarmherzigen Hiebe auf Seinen allerreinsten Leib, die Dornenkrone und das Kreuz selbst, wie Er es auf Seiner blutenden Schulter trug? Und wer kann dann ihren Schmerz beschreiben, als sie zu Fuße des Kreuzes stand und über ihren Sohn kümmerte, über den sterbenden Sohn Gottes, Den nahezu jeder im Stiche gelassen hatte?
Als sie dies alles hörte, konnte Stavrophila nicht zurückhalten mit Weinen und sprach unter Tränen: O, wie groß war doch das Leiden und die Qual der seligen Mutter des einzig Gezeugten. Welcher Sterbliche würde da keine Tränen vergießen, wenn er Gottes Mutter unter der Last solchen Kummers trauern sieht!
Wüstenvater: O Stavrophila, Angst und Wehen haben sie gepackt wie eine Gebärende (Jer 49,24). Und diese gesegnete Frau, die Gaben würdig war, welche über die Natur hinaus gehen, erlitt diese Schmerzen, denen sie bei der Geburt ent-gangen war, in der Stunde des Herrenleidens, als sie unter mütterlichem Mitleid zu ertragen hatte, wie Ihm die Eingeweide zerrißen wurden. Und als sie Ihn wie einen Übeltäter ermordet sah; Ihn, von Dem sie aufgrund der Art Seiner Geburt wußte, Er ist Gott, da durchstachen ihre Gedanken sie wie ein Schwert (hl. Johannes von Damaskus, Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, Buch 4, Kap. 14). Muß ich dich auch daran erinnern, daß sie Seinen Leib vom Kreuz herab auf ihre Schultern nahm, alle Seine Wunden sah und bei Seinem Begräbnis dabei war?
Stavrophila: O, wie werde ich imstande sein, den Kummer der Muttergottes zu begreifen und zu verinnerlichen?
Wüstenvater: Verzehr und weite mich, o lastende Flamme, so du kannst. Stell dir, wenn du kannst, die größte Liebesflamme vor. Sie brannte beständig in ihrem Herzen. Und dies kann dir nur bis zu einem kleinen Grad das Ausmaß ihres Leidens zeigen. Vergegenwärtige dir, wer diese Mutter ist; vergegenwärtige dir, Wer ihr Sohn ist, nämlich der Einzig Gezeugte Sohn, das Verlangen aller Völker, so glorreich, so majestätisch als Gott Selbst und als Schöpfer des Alls. Wie wäre da ihre Liebesflamme! Und so groß wie die Liebe war, so groß war auch der Kummer (seliger Augustinus, Gottesstaat, Buch 21, Kap. 26). So ist es unmöglich, den Kummer der Jungfrau zu beschreiben. Ich kann nur sagen, es ist der Kummer einer Mutter um ihren Sohn, wie er nie zuvor gesehen ward und nie wird gesehen werden. Ich wollte dich daran erinnern, damit du dir umso deutlicher vergegenwärtigst, auch die Muttergottes hat am Kreuz teil. Weil er dies begriff, sagte der Apostel: Damit niemand in diesen Bedrängnissen ins Wanken gerät; ihr wißt ja selbst, daß wir dazu bestimmt sind (1 Thess 3,3). Sei nicht überrascht, daß die ganze Welt Kreuz und Kummer tragen soll. Dies ist ein unausweichliches Geschick. Ja, man könnte sagen, kein wirklicher Christ ist, wer dies nicht trägt, wenn er dazu berufen ist, Kummer zu erdulden.

Weshalb ist das Kreuz nötig für den Christen?

Stavrophilas Bereitschaft, das Kreuz anzunehmen, nahm etwas zu. Denn sie sah, wie es der Herr Jesus Selbst und wie es Seine Mutter mit solcher Geduld ertrugen. Ihr wurde klar, daß sie dieser Last nicht entgehen konnte. Da begann sie sich zu wundern, weshalb Kummer so untrennbar mit dem christlichen Leben verbunden war und fragte den Eremiten: Warum hat es dem Herrn gefallen, Seinen Auserwählten Kummer aufzuerlegen und niemanden von ihnen ohne das Kreuz ins himmlische Königreich gelangen zu lassen?
Wüstenvater: Mädchen, es sollte dir genügen zu wissen, daß es dem himmlischen Vater so gefallen hat, und du solltest nicht fragen, warum. Wie du schon weißt, geschieht dies alles kraft Seines göttlichen Willens und ist weise so verordnet worden. Dennoch will ich nicht unterlassen, deine Vewunderung aufzulösen. Denn dies wird dazu dienen, dein verletzliches Herz zu stärken.
Stavrophila: Gerade deshalb habe ich mir die Freiheit her-ausgenommen, dich darüber zu befragen. Ich zweifle nämlich nicht daran, all dies ist von Gott gesandt und zugelassen worden zu einem weisen Zweck.
Wüstenvater: Gib also Acht! Gemäß der allweisen An-ordnung wird das Leben der Auserwählten während ihres Verweilens auf Erden häufig von Kummer gestört. Das flüch-tige Leben ist der Weg ins himmlische Königreich. Und entsprechend Gottes großartiger Vorsehung unterliegen die Menschen Tag für Tag dem Kummer, damit es nicht dazu kommt, daß sie den Weg an sich lieben, sondern vielmehr das Königreich. Darum ist das Leben mit Schwierigkeiten beladen. Denn wenn man sich in diesem Leben der Behaglichkeit erfreute und sich durch die Schönheit des Weges selbst ge-fangen nehmen ließe, hielten sich die Menschen bei diesen Vergnügungen auf und gingen rasch an ihnen vorbei. Während sie sich so des Weges an sich erfreuten, würden sie vergessen, was sie im kommenden Königreich erwartet. Alles in dieser Welt wird durch die Bitternis aus Kummer verdünnt, so daß die Menschen die Süße dieses hiesigen Lebens nicht als höchste Segensgabe erachten. Tröstete dich der Herr Tag für Tag mit Glück, gäbe Er alles in Überfülle und sendete Er nicht Kummer und Leiden, ginge dein Weg in diesem Leben rasch vorüber, und du erachtetest all dies als größte Segensgabe, was der Herr uns hier gewährt, ohne den Wunsch nach mehr von Ihm zu haben (seliger Augustinus, zu Psalm 43). Darum verdünnt Er die Süße dieses Lebens mit der Bitternis des Kummers, damit wir nach dem wahrhaftigen und heilsamen Segen trachten.
Stavrophila: O, welcher Kummer obliegt da dem Menschen-geschlecht! Wie bitter ist die Welt, und doch liebt man sie!
Wüstenvater: Wie stärker wäre doch die Anhänglichkeit, wäre die Welt voller Vergnügungen. Die Welt unterliegt Schwie-rigkeiten, doch alles begehrt sie. Was geschähe, wenn es keine solche Schinderei gäbe? Wenn die Bindung an diese unreine Welt schon so groß ist, um wieviel stärker wäre sie gegenüber einer reinen Welt? Wie würden wir da der Welt Blüten sammeln, wenn es keine Dornen gäbe, die unsere Hand verletzen?
Stavrophila: Fürwahr sind also Kreuz und Leiden nicht nur nützlich, sondern auch nötig. Sonst begehrten törichte Menschen nicht den Himmel, denn der Himmel des Himmels ist des Herrn, aber die Erde hat Er den Menschenkindern geben (Ps 113,24).
Wüstenvater: Du solltest dir vergegenwärtigen, der all-gnädige himmlische Vater hält Freude und Kummer in Seiner Rechten. Er hat es so angeordnet, daß im kommenden Leben Freude finden wird, wer den Kummer dieses Lebens weise trägt. Wer aber hier nur die weltlichen Vergnügungen sucht, auf den warten Sorgen im Leben, das da kommt. Wie Tag und Nacht sich am Himmel abwechseln, indem der Tag der Nacht vorangeht und indem diese den neuen Tag hereinbringt, so wird es jener dort leer finden, wenn er hier das Maß schon voll vorgefunden hat. Denn wem in diesem Leben die Tage beständig in weltlichen Freuden leuchten, den erwartet fortwährende Finsternis in der kommenden Ewigkeit. Ja, Stavrophila, niemand ist imstande, sich hier und dort des Friedens zu erfreuen. Abraham hat dies bekräftigt, als er zum Reichen sagte: Kind, denk daran, du hast dein Gutes schon in deinem Leben empfangen, Lazarus aber nur das Schlechte. Jetzt wird er hier dafür getröstet, du aber wirst gepeinigt (Lk 16,25). Wie ehrfurchtgebietend sind Deine Werke; ob der Menge Deiner Kraft werden Dir lügen Deine Feinde (Ps 65,3). Wer hat schon keine Angst angesichts dieses Gleichnisses über den Reichen, welcher der Hölle anheim ge-geben ist wegen seiner Liebe zu weltlichen Vergnügungen? Nicht wegen ungerechter Taten wurde er zum Leiden im ewigen Feuer verdammt, sondern für ein Leben voller sinnlicher Ver-gnüg-ungen. Wer daher nur materielle Segensgaben erstrebt, der erhält Gottes Ablehnung. Wer das Kreuz nicht annimmt, wird der ewigen Qual unterworfen. Hat nicht der Herr im Evangelium gesagt: Doch weh euch, ihr Reichen, denn ihr habt euren Trost empfangen. Weh euch, ihr Satten, denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht, denn ihr werdet klagen und weinen (Lk 6,24–25)?
Stavrophila hörte dem Einsiedler in großem Erstaunen zu und sprach: Wüßten wir nicht, alles ist so weise von des Herren Vorsehung verordnet, wie könnte da der Verstand dieses Geschick begreifen?
Wüstenvater: Sei nicht überrascht angesichts der Wege des Herrn. In Menschendingen gibt es keine Freude, die nicht von Kummer verdünnt wird. Wenn die Frau gebären soll, ist sie traurig, weil ihre Stunde gekommen ist. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Bedrängnis vor Freude darüber, daß ein Mensch zur Welt gekommen ist (Joh 16,21). Der Kummer aus vorübergehender Traurigkeit mehrt die kommende Freude. Ebenso gilt die Gesundheit nach durchgestandener Krankheit mehr. Müht sich der Bauer nicht ab, das Feld zu pflügen, kann er keine Frucht erwarten. Deshalb das Sprichwort: Es gibt keine Rosen ohne Dornen.
Stavrophila: Du hast mich überzeugt. Ich brenne darauf, diese Wahrheit anzunehmen und sie andern weiterzugeben.
Wüstenvater: Zum Kummer aus dem Kreuz kommt noch hinzu, daß der Herr, euer Gott, euch auf die Probe stellen will, um zu erfahren, ob ihr den Herrn, euren Gott, wirklich aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele liebt (Deut 13,4). Denn hast du nicht gehört: Im Feuer wird das Gold geprüft, der Mensch aber, der Gott gefällt, im Ofen der Bedrängnis (Sir 2, 5)? Der Herr stellt gute Menschen nicht mittels Vergnügungen auf die Probe, sondern Er prüft sie und schickt ihnen Kummer, um sie auf Gott Selbst vorzubereiten. Wer aber hier mittels Behaglichkeit getröstet wird und im Sinnlichen nachlässig ist, die überläßt der Herr weiterem Leiden. Denk daran, was über die Versuchung der Gerechten gesagt ist: Nach nur geringer Züchtigung empfangen sie große Wohltaten. Denn Gott hat sie geprüft und sie Seiner würdig befunden. Zur Zeit ihrer Heimsuchung werden sie aufleuchten wie Funken, die durch die Stoppeln dahinfahren (Weish 3,5.7). Wer daher Kummer und Leiden erduldet, der zeigt sich Gottes würdig. Wie doch der Herr im Evangelium gesagt hat: Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und Mir nachfolgt, ist Meiner nicht wert (Mt 10,38).
Stavrophila: Doch was braucht Gott die Menschen denn auf die Probe zu stellen, wenn Er doch eines jeden Tugend schon kennt, ohne ihm Kummer zu senden?
Wüstenvater: Gott stellt die Menschen nicht auf die Probe, weil Er sie nicht schon vorher irgendwie kennt. Der Grund dafür, den Gerechten Kummer zu senden, liegt darin, andern deren große Geduld aufzuzeigen. Viele begreifen die geistliche Einstellung nicht, mit der die Heiligen Gott ehren. (Viele denken, sie dienten Ihm im gegenwärtigen Leben, um Frohsein zu erlangen. Doch Kreuz und Leiden zeigen die Hingabe ihrer Liebe zu Gott.) So dachte auch Satan, Hiob bete Gott nur deshalb an, damit er materielle Güter bekomme. Weil er während Hiobs guter Zeit nichts finden konnte, um diesen vor Gott anzuklagen, bediente er sich der Verleumdung: Ist denn Hiob umsonst so gottesfürchtig? Hast Du nicht Selbst einen Zaun errichtet um ihn, um sein Haus und um all sein Eigentum ringsum (Hiob 1,9–10)? Reich, wie er war, bediente er sich der Tugend, um Vergeltung zu erlangen. Doch was tat der Herr? Um zu zeigen, die Heiligen Gottes ehren Ihn nicht deshalb, damit sie Lohn empfangen, nahm Er Hiob all sein Eigentum, überließ ihn der Armut und brachte eine schwere Krankheit über ihn. Als Hiob noch in seinem Reichtum lebte, wußten nicht viele, welchen Schlags Mensch er war. Doch als dieser gute Krieger seiner Kleider entrißen und auf den Boden geworfen war, wurde seine Gottesfurcht aufgedeckt und erstaunte die Beobachter, so daß selbst der Herr aller Engelsmächte seine mutigen Werke lobte und ihn als Sieger verkündete (hl. Johannes Chrysostomos, Unterredung mit Menschen aus Antiochien).
Stavrophila: Jetzt begreife ich, wie wichtig die Beispiele mutiger Menschen sind —, damit wir sie in Ehren halten und ihrer lobenswerten Tapferkeit nachfolgen.
Wüstenvater: Geduld ist die größte und begehrenswerteste der Tugenden. Doch Gerechte können sie nicht in die Tat um-setzen, ohne die Erfahrung von Kummer zu machen. Duldsamkeit ist das Aushalten von Leiden und Kummer, der einen befällt. Der Herr liebt den gottesfürchtigen und mutigen Menschen väterlich. Aus Seiner großen Liebe zu den Menschen schickt Er ihnen Kummer, Leiden und Verlust, damit sie größere Stärke erlangen. Ein Baum, der vor dem Wind geschützt wird, ist nicht sehr stark. Ein ungeschützter Baum wird stark und schlägt tiefere Wurzeln, da er den Böen widersteht. Ohne einen Feind erschwacht der Mut, doch durch Stärke wird die Geduld offenbar. So wird kenntlich gemacht, wie stark sie ist und wie viel sie erdulden kann. Der Tugendhafte ist im Argen, wenn ihm keine Gelegenheit gegeben ist, seine Geduld zu stärken.
Stavrophila: Ich glaube auch, der Herr zeigt uns elterliche Zuneigung, doch zuweilen lastet Seine Hand doch schwer. Man erduldet gelegentlich Ungnade und Schändung seitens seines Stiefvaters, aber doch nicht seitens des eigenen Vaters.
Wüstenvater: Offenbar suchst du die Zuneigung einer Mutter: Du bist auf die Behaglichkeit des Schattens aus und willst nicht die Erfahrung von Kummer, Krankheit und Sor-gen machen. Begreifst du denn nicht, Duldsamkeit freut sich zu leiden? Erinnerst du dich nicht an die Worte unseres umsorgenden Vaters: Alle, die Ich liebe, weise Ich zurecht und nehme Ich in Zucht (Offb 3,19). Gott wirkt durch Seine Auserwählten wie ein weiser Lehrer an seinen Zöglingen. Er verlangt jenen große Mühe ab, deren Erwartungen groß sind. Auf gleiche Weise stellen die Oberen in einem Kloster ihre erfahrenen Mönche auf die Probe. Der hl. Johannes Klimakus (Himmelsleiter, Brief 4, Kap. 27) schrieb: In einem Kloster lebte ein Hausmeier, ein strikter Mönch. Er war enthaltsam und sanftmütig, wie dies nur selten zu finden ist. Einmal gab der Obere des Klosters vor, grundlos mit ihm ärgerlich zu sein. Er gab die Order, jenen Mönch aus der Kirche zu bannen. Der Ausführende dieser Anordnung wußte um die Unschuld des Hausmeiers und sprach eigens mit dem Abt, um die Unschuld des Mönchs zu erklären. Der weise Abt antwortete: Auch ich weiß, er ist unschuldig. Doch wie es vermessen ist, das Brot aus dem Mund eines hungrigen Kinds zu nehmen, so bringt auch der Seelenlenker Schaden über sich und seine Schüler, wenn er ihnen nicht die Gelegenheit gibt, sich eine Krone zu erwerben. Diese Krone läßt sich gewinnen, indem man Unbill, Unredlichkeit, Demütigung und Schändung jederzeit geduldig erträgt. Wenn schon der Obere des Klosters fähig ist, weise zu handeln, um wieviel mehr handelt der Schöpfer der ganzen Welt so, Der Er Sein Königreich mit Meeren und mit dem Himmel wie mit einer Mauer umschließt, wenn Er Seine Kinder bessert, indem Er ihnen Hunger, Krankheit, Armut und schwierige Umstände schickt? Noch eine letzte Bemerkung: Der Herr sendet die Kreuze, auf daß sich eure Kronen und euer Lohn dadurch mehren, weil der Lohn aufgrund der Anzahl der Versuchungen wächst. Ich bin überzeugt, daß die Leiden der gegenwärtigen Zeit in keinem Verhältnis stehen zur Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll (Röm 8,18).

Der Herr auferlegt das Kreuz nach eines jeden Kraft und Stärke

Stavrophila fuhr fort, dem Einsiedler Fragen zu stellen: Menschliche Stärke ist nicht allen gleich zugemessen: Was für den einen leicht ist, ist dem andern schwierig, bemerkte sie. Wie ist also ein jeder fähig, das Kreuz zu tragen? Es gibt ja viele Menschen, die schwach, hilflos und dadurch schwer beladen sind, für sich selbst zu sorgen. Wie tragen denn junge Menschen das Kreuz?
Wüstenvater: Du läufst in die Irre und driftest von der Wahrheit ab, Stavrophila. Hast du denn nicht gelesen: Bisher hat euch nur menschliche Versuchung getroffen; Gott aber ist treu. Er wird es nicht zulassen, daß ihr über eure Kräfte versucht werdet (1 Kor 10,13)? Wenn schon die Menschen ihre Lasttiere nicht mit einer größeren Ladung bepacken, als jene tragen können, denkst du, der Herr würde jemandem mehr Versuchungen und mehr Unglück senden, als er ertragen kann (hl. Ephrem der Syrer, Unterweisung über die Geduld)? Der Mann am Steuerruder weiß, wie das Schiff zu beladen ist, nämlich bis zu einem gewissen Maß, so daß es während eines Sturms nicht kentert, weil die Ladung unordentlich ist, und nicht in die Tiefen des Ozeans untergeht wegen übermässigem Gewicht. Der Herr auferlegt das Kreuz der Versuchungen Seinen Auserwählten, auf daß sie nicht leichthin in der Fülle der Welt Schiffbruch erleiden, sondern den Himmel der ewigen Herrlichkeit sicher erreichen.
Stavrophila: Ich anerkenne meinen Fehler. Ich habe ge-redet, ohne zu denken. Wie doch der Prophet zum Herrn aus-rief: Glücklich der Mann, den Du züchtigst, den Du belehrst aus Deinem Gesetz (Ps 93,12). Ich bitte dich, bringe Licht in mein Unwissen.
Wüstenvater: Der Herr ist allweise und wahrhaftig und hat alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet (Weish 11,20). Er weiß genau, was jemandes Schulter tragen kann und was nicht. Darum mißt Er Kummer und Sorgen innerhalb ihrer Grenzen zu, so daß niemand ein Kreuz zu tragen hat, das zu schwer oder zu leicht ist. Der Herr schaut darauf, welches Kreuz einem jeden wie zugesandt wird. Es ist, als ob Er einen Maßstab hielte mit der Last des Kreuzes auf der einen Seite und mit der Stärke des Trägers auf der andern Seite, um beide Seiten auszugleichen, damit Er nicht jemandem mehr auferlegt, als dieser tragen kann. Der heilige David fragt ja: Wirst Du uns speisen mit Tränenbrot, uns tränken mit Tränen in vollem Maße (Ps 79,6)? Der Herr lastet uns Kummer an, doch nicht so viel, daß wir von unseren Leiden überwältigt werden und unter ihrem Gewicht straucheln.
Hat Gott denn nicht schon im Alten Testament verordnet: Wenn der Schuldige zur Prügelstrafe verurteilt ist, soll der Richter ihn hinlegen und ihm in seiner Gegenwart die seiner Schuld angemessene Zahl von Hieben verabreichen lassen (Deut 25,2)? Gott hat Sich sogar darum gesorgt, wie viele Strei-che ein Schuldner erhalten soll, und Er hat mehr als vierzig verboten. Warum also, meine Teure, hast du Angst? Weshalb (früchtest du dich), wenn doch bei euch sogar die Haare auf dem Kopf gezählt sind (Lk 12,7) und kein Haar von eurem Haupt verloren gehen soll (Lk 21,18) ohne die Zustimmung Gottes. Der Herr wiegt die Seele eines jeden und auferlegt ihm das Kreuz, wie es für einen jeden notwendig ist, auf daß er im Himmel mit Kronen entlohnt werde.
Der Apostel Paulus erinnert uns daran: Denn unsere augen-blick-liche, geringfügige Trübsal erwirkt uns in überströmender Fülle eine alles überwiegende, ewige Herrlichkeit (2 Kor 4,17). Wer kann sich also beklagen, es seien ihm harte Zeiten gegeben, mehr als daß er erdulden könnte? Ein Mensch kann einem andern eine Last auferlegen, wenn er seine Stärke nicht kennt, doch wenn er wissentlich eine Ladung anbringt, die zu schwer ist, wäre das verbrecherisch. Unser barmherziger und weiser Herr handelt nicht so.
Stavrophila: Ich glaube dir. Doch weshalb murrt und be-klagt sich unser fleischlich gesonnener Verstand immer im Glau-ben, er habe mehr zu erdulden, als er (zu tragen) imstande sei?
Wüstenvater: Die Gesinnung des Fleisches ist Tod (Röm 8,6). Unsere gefallene Natur urteilt falsch über Gottes Freundlichkeit. Schau doch auf die Veranstalter von Ringkämpfen und wie man Gottes Wege verstehen sollte. Sie lassen nicht zu, daß man gedankenlos und beiläufig in den Ring tritt, sondern sie überprüfen und vergleichen das Alter und die Stärke eines jeden Wettstreiters, um erst dann zuzuteilen, wer mit wem kämpfen soll —, die Jüngeren mit den Jungen, die Reiferen mit den Reifen. Ebenso erwäge auch die Handlungen des Herrn. Er kennt wahrhaftig die Stärke und das Beharrungsvermögen eines jeden, der diese Welt der Zwietracht betritt. Nur Er weiß, der eine muß sehr gegen das Fleisch kämpfen, der andere gegen Satans Angriffe und der dritte gegen Attacken verschiedener Art. Hier ist noch ein weiteres geläufiges Beispiel: Die Stärke und die Haltbarkeit von unterschiedlichen Tellern werden auch unterschiedlich geprüft. Starke werden härter auf die Probe gestellt, leichtere sanfter. Ein Meister des Kristalls berührt ihn mit dem Finger, während er einen Silberteller härter anfaßt. Eine Glocke wird mit einem Hammer geschlagen. Und welche Glocke schwerer wiegt, wird härter geschlagen, weil man weiß, sie ist stark und wird nicht zerbrechen. So schickt der himmlische Vater den Menschen Kreuze und Sorgen entsprechend ihrer Stärke: Die Schwachen und Hilflosen stellt Er nur leicht auf die Probe, die Standfesten prüft Er härter. Befürchte also nicht, jemand bekomme ein lastendes Kreuz, denn alle Kreuze kommen aus der väterlichen Hand des Herrn.
Stavrophila: Doch wenn ich die Kranken besuche oder mit Besorgten spreche, höre ich Tag für Tag ihr beständiges Klagen, die Hand Gottes laste schwer auf ihnen und sie könnten sie nicht ertragen.
Wüstenvater: Die Menschen reden dahin und beurteilen die Dinge aus menschlicher Sicht. Doch ihre Augen sind Gott gegenüber nicht offen. Denn ohne Seine Zustimmung kann kein Hader kommen. Fleischlich gesonnen vergegenwärtigen sie sich nicht, der Kummer ist vom barmherzigen, allweisen und gerechten Vater gesandt. Oder denkst du, der himmlische Vater wird durch ungerechten Ärger und Wut herausgefordert, so daß Er nicht hinschaut, nicht urteilt und Sich um jenen nicht sorgt, Den Er da schlägt, oder wie viele der lange währenden und schweren Kreuze Er da auferlegt? Er verachtet ja nicht, noch ist Er ärgerlich mit jemandem. Doch Er beurteilt eines jeden Stärke wie an einem Maßstab. Seit Jahrhunderten hat Er vorausgesehen, welche körperlichen Leiden, Krankheiten und welcher Kummer wem und wann zuträglich ist. Dann hat Er in Seiner Weisheit das Jahr, den Monat und den Tag dazu bestimmt, auf daß gewisse Schwierigkeiten über einen Menschen kommen, um dessen Seele zu retten. Hab also keine Angst, Kind Gottes! Nenne deinen Vater nicht gewalttätig. Denn Seine Gnade verschafft allen, die an Ihn glauben, Behaglichkeit durch den Propheten: Fürchte dich nicht. Denn ich habe dich erlöst und rufe dich beim Namen, mein bist du. Gehst du durch Wasser, ich bin bei dir. Gehst du durch Feuer, du wirst nicht verbrennen, die Flamme wird dich nicht versengen. Denn ich, der Herr, bin Gott, der Heilige Israels ist dein Helfer (Jes 43,1–3).

Die Worte Jesu — wenn jemand Mir nachfolgen will — bedeuten, eine starke Haltung zu haben beim Tragen des Kreuzes

Als der Einsiedler seine Rede unterbrach, stellte Stavro-phila ihm in großer Beherztheit eine weitere Frage: Was meint der Herr, wenn Er verlangt, alle sollen das Kreuz tragen, nämlich mit den Worten: Wer Mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge Mir nach (Lk 9,23)? Wenn das Kreuz so wichtig ist, daß man sich davon nicht befreien kann, heißt das doch, alle haben das Kreuz zu tragen, ob sie wollen oder nicht.
Wüstenvater: Das ist wahr! Doch der Herr wollte es nicht unausweichlich machen, indem Er sagt: Du wirst das Kreuz zu tragen haben, ob du willst oder nicht, sondern Er sagte: Wer mir nachfolgen will. Er zwingt oder drängt nicht, sondern Er überläßt es dem Willen des Einzelnen, ob jener willens ist, das Kreuz aus Liebe zu Ihm zu tragen. Deshalb sagt Er ja auch: Wer Mir nachfolgen will. Wenn jemand gezwungen wird, etwas zu tun, wird er dagegen oft voreingenommen. Wenn jemand allerdings die Freiheit gelassen ist, etwas zu wählen oder nicht, zieht dies mehr Menschen an. Auch ist ein kurzer Vorschlag kraftvoller als ein zwingender Befehl. Stavrophila, der Herr ruft nicht so sehr dazu auf, das Kreuz, den Kummer, die Last, das Leiden und die Qual anzunehmen, wozu es Kraft braucht, sondern im Gegenteil weist Er auf jene unsäglichen Segensgaben hin, die dich schon von sich aus anziehen. Denn Sein Lohn ist so groß und prächtig, daß die Menschen sich von sich aus darum kümmern.
Wer Gold und Silber feil hält, muß niemanden zwingen, zu ihm zu kommen —, umso mehr besteht kein Zwang, wenn die Gaben Segensgaben aus dem Himmel sind. Wahrlich, wenn das Wesentliche dieser Gaben dir schon nicht genügte, um freiwillig zu kommen, wärest du unwürdig, sie zu empfangen (Johannes Chrysostomos, Kommentar zu Matthäus, Homilie 55).
Stavrophila: Deswegen wird kein Vernünftiger das Kreuz von sich weisen. Denn der Herr hat ja gesagt: Ich bin das Licht der Welt. Wer Mir nachfolgt, wird gewiß nicht in Finsternis untergehen, sondern das Licht des Lebens haben (Joh 8,12). Und was suchen denn die Menschen, das sie im Herrn nicht finden können? Trachten sie nach Ruhm und Ehre? Groß ist die Herrlichkeit, wenn du Gott folgst. Suchen sie Vergnügungen? Der Psalmist ruft zum Herrn aus: Du tust mir kund den Weg des Lebens, wirst mir Freude geben vollauf durch Dein Angesicht, Wonne ist in Deiner Rechten auf immer (Ps 15,11).
Wüstenvater: Nicht alle hören auf diese Botschaft. Viele — o weh ihnen — sind nur unter großen Schwierigkeiten willens, die schwere und bittere Last der Eifersucht und anderer Übel zu tragen. Sie lehnen es ab, das heilsame Joch Christi und Seine leichte Last auf ihren Schultern zu tragen. Sie ziehen es vor, unter der schweren Bürde der vielen Sünden zu leiden, anstatt das Joch des Herrn anzunehmen, das sie in den Himmel führen wird (seliger Augustinus, Rede III).
Stavrophila: So handeln die Sünder. Doch ich denke, die Diener des Herrn, welche gottesfürchtig sind, nehmen das Kreuz doch begierig an.
Wüstenvater: Glaub mir, Stavrophila, es gibt viele, die das himmlische Königreich lieben, doch nur wenige, welche Kummer ertragen. Allen gefällt es, zusammen mit Christus sich zu erfreuen. Doch nur wenige wollen wirklich leiden, auch wenn es nur ein wenig um Seinetwillen ist. Viele folgen Ihm bis zum Brechen des Brots — das heißt bis zum mystischen Mahl —, doch nur wenige sind willens, den Kelch des Kummers zu leeren. Viele verherrlichen Seine Wunder. Doch nicht viele fol-gen Ihm auf dem Weg des Kreuzes und der Schändung. O, wie viele folgen doch dem Herrn! Und dennoch gibt es keinen, der nicht zu Ihm kommen wollte. Alle wollen sie sich frohgemut in Ihm erfreuen, doch niemand will Ihm nachfolgen. Sie wollen mit Ihm herrschen, doch nicht mit Ihm leiden. Sie wollen dem Einen nicht nachfolgen, mit Dem sie zusammen sein wollen.
Stavrophila: Weshalb ist dies so?
Wüstenvater: Fürwahr, häufig treffen jene weisen Worte zu: Das Begehren der Faulen regt sich, aber das Trachten der Fleißigen wird voll befriedigt (Spr 13,4). Du willst wissen, was dies heißt? Der Faule will mit Christus herrschen, doch er will nichts um Christi willen erdulden. Er liebt den Lohn, doch nicht den Kampf. Er will die Krone ohne Ringen, den Ruhm ohne Schwierigkeiten, das himmlische Königreich ohne Kreuz und Kummer.
Stavrophila: Woher kommt dieses innere Ringen, das uns in Versuchung führt? Hat denn der Mensch einen Willen, der will, und einen Willen, der nicht will? Die Seele heißt die Hand, sich zu regen. Und Gehorsam ist so leicht und flink, daß die Ausführung sogleich auf den Befehl folgt, auch wenn die Seele Seele und die Hand Teil des Leibes ist. Wenn indes die Seele sich selbst einen Befehl erteilt, das Gute zu wollen, ganz und wahrhaftig, dann folgt die Ausführung dieses Befehls nicht immer, obschon es ein und dasselbe ist: der Befehl das eine und die Ausführung das andere. Was ist dieses Erstaunliche? Ich frage mich, weshalb die Seele sich selbst einen Befehl erteilt, ihn dann aber nicht ausführt? Denn wollte die Seele dies nicht, befähle sie es ja nicht: Warum führt sie es denn nicht aus?
Wüstenvater: Dies ist nicht erstaunlich, Stavrophila, sondern Schwäche der Seele. Sie beruht zum einen auf der Wahrheit, zum andern auf dem Zwang durch schlechte Gewohnheiten. Deshalb ist die Seele nicht fähig, sich vollständig dem Guten zu widmen. Sie will nicht ganz und so befiehlt sie auch nicht ganz. Sie befiehlt nur so sehr sie will. Und ihr Geheiß wird genau bis zu dem Punkt, daß sie nicht will, auch nicht ausgeführt. Im Menschen sind ja zwei Willen am Werk. Was im einen fehlt, kommt aus dem andern. Zuweilen wird der Gedanke an die glückselige Ewigkeit die Seele zum Himmlischen hinziehen, doch die Süße der irdischen Segnungen zieht sie auf die Erde herab. Beider Hang steht für die Seele. Doch weil sie nicht nach wahrhaftiger Glückseligkeit trachtet, besteht großes Leiden aus der Zweiteilung der Seele. Während sie das Himmlische wünscht, wenden die Gewohnheiten die Seele auf die Erde zurück (seliger Augustinus, Confessiones, Buch 8, Kap. 9, 10).
Stavrophila: Es kommt auch vor, daß ich manchmal mit meinem ganzen Herzen eine Segensgabe ersehne. Doch — ich weiß nicht, warum — dann gebe ich sie auf oder halte mich noch etwas auf. Dann wird das gute Werk nur selten so ausgeführt, wie ich es vorausbedacht habe.
Wüstenvater: Dies ist die Schwäche unserer menschlichen Seele: Sie ist Inkonsequenz in Unbeständigkeit. Unser fehlendes Stehvermögen im Wunsch nach dem Guten nimmt sich so aus, daß man etwas zwar will. Und dennoch sind wir so unwillig danach bestrebt, daß man dies kaum Verlangen nennen kann. Wahrlich als ein Schattenbild wandert vorüber der Mensch (Ps 38,7), und er denkt, er mache es gut, wo er in Wirklichkeit nicht einmal den Beginn der Glückseligkeit erreicht hat. Darum, Stavrophila, solltest du auf dem Weg des Kreuzes zunächst lernen und dich darum sorgen, dem Herrn mit starkem Willen und mutiger Seele zu folgen. Denn Ihm nachzufolgen und zu Ihm zu gehen ist nichts anderes als ein freiwilliger Akt (seliger Augustinus, Confessiones, Buch 8). Das Verlangen muß mutig und vollständig sein, es darf keinen geteilten Willen haben, der sich einmal hierhin, einmal dorthin wendet. Für Auflehnung ist kein Raum und auch kein Platz, den Mut zu verlieren und schwach zu werden. Die Israeliten wurden gelobt: Denn sie schworen mit ihrem ganzen Herzen und suchten den Herrn mit ihrem ganzen Willen, so daß Er Sich von ihnen finden ließ. So verschaffte ihnen der Herr Ruhe ringsum (2 Chr 15,15). Tue es ihnen gleich und folge Ihm nach.
Stavrophila: Es schmachtet und verlangt meine Seele nach Deinen Satzungen alle Zeit (Ps 118,20). Ich will den Weg des Herrn gehen, den heiligen Pfad des Kreuzes, den Weg zur Rettung. Doch um wieviel mehr kann ich begehren, das auszuführen, was ich will?
Wüstenvater: Der Herr Jesus Christus hat gesagt: Ohne Mich könnt ihr nichts tun (Joh 15,5). Es ist ausgeschlossen, zum Herrn zu kommen, wenn man Ihm nicht nachfolgt. Er ist der Eine, Der dir Stärke geben kann. Was muß man also tun? Bete und rufe Gott an: Nimm mich mit Dir: Deine Öle sind köstlich an Duft (Hld 1,3).
Da flehte Stavrophila den Herrn an: Laß Deine Worte wahr werden: Ich aber werde, wenn Ich von der Erde erhöht bin, alle an Mich ziehen (Joh 12,32). Zieh mich an Dich, zieh mich auf Deinen Weg, o Herr, führe mich und laß mich Deinen Fußstapfen folgen: Denn ihre Wege sind Freude, auf all ihren Pfaden ist Wohlergehen (Spr 3,17). Zieh mich auf jegliche Weise an Dich, wenn ich unwillig bin, auf daß ich begierig werde. Begeistere mich, wenn ich den Mut verliere, auf daß ich mutig werde. Führe mich, und ich will Dir folgen, nicht nur ich, sondern auch meine jüngeren Schwestern mit mir. Ich ersehne mir sehr, sie hierher zu bringen, damit sie zusammen mit mir das Joch des Kreuzes auf sich nehmen.
Wüstenvater: Erwartest du da nicht etwas viel von deinen Schwestern? Haben sie dir denn nicht die Ehre des Kreuzes stolz von sich gewiesen? Sind sie denn nicht der Grund gewesen, daß du vom Weg abgekommen bist und dich verlaufen hast? Wie willst du sie überzeugen, jetzt das Kreuz auf sich zu nehmen und es nicht nur einen Tag lang, nicht zwei zu tragen, sondern das ganze Leben? Laß mich dir sagen, Stavrophila, sie werden nicht auf dich hören.
Stavrophila: Einerlei, ich hoffe sehr, daß sie auf alles hö-ren, was du mir gesagt hast. Sie werden es nicht ablehnen, dem Herrn mit mir nachzufolgen.
Wüstenvater: Geh hin und versuch’s! Doch ich weiß, sie werden nicht auf dich hören, denn ihr Herz ist hart. Geh und bring sie hierher. Ich werde morgen früh hier sein und dich wiederum über den Weg des Kreuzes unterweisen.
So ging der Eremit von dannen, und Stavrophila brach auf.

Wer irdische Segnungen sucht, wird dem Kreuz untreu

jetzt aber spreche ich mit Tränen davon - als Feinde des Kreuzes Christi.
Ihr Ende ist Verderben,
ihr Gott ist der Bauch, und ihr Ruhm liegt in ihrer Schande;
ihr Sinn ist auf das Irdische gerichtet
(Phil 3,18.19)
Stavrophilas Schwestern waren traurig und fragten sich, was ihr zugestoßen sei und warum sie so lange Zeit nicht zurückkehrte. Die eine dachte, daß sie sich verlaufen hatte und im Wald umherirre. Die andere sagte, Stavrophila sei ärgerlich geworden, weil sie allein gelassen wurde. Deshalb sei sie nach Hause zurückgekehrt, um sich darüber bei ihrem Vater zu beklagen. Als sie so dahingingen, stieß Stavrophila ganz unerwartet wieder zu ihnen. Sie erklärte sich über ihre Verspätung ganz plausibel. Dann zog sie die Schwestern an sich und begann, ihnen in den Einzelheiten zu erzählen über die Begegnung mit Gottes Eremiten. Sie berichtete über die gefällige Unterhaltung und über seinen Ratschlag betreffend des Wegs ins ewige Leben. Sie sagte ihnen, welches Glück, welcher Trost jene erwarteten, die dem Weg des Kreuzes ent-flammt folgen. Sie fügte hinzu, sie sei nun zurückgekommen, um die Schwestern an dieser Glückseligkeit teilhaben zu lassen. Doch wie gewöhnlich schlugen sie ihre Worte in den Wind und sagten, man könne solchen Verheißungen nicht trauen. Die Begegnung mit dem Einsiedler nannten sie eine Versuchung. Schließlich schlugen sie aus, den ihnen angebotenen Weg zu betreten. Dann versuchte Stavrophila, sie zu überzeugen, doch wenigstens mitzukommen, um auf jemanden zu hören, der ihr erschienen sei. Sie sagte ihnen, er habe versprochen, er habe Worte ewigen Lebens (Joh 6,68). Diese könnten in die Mitte des Herzens eindringen und den Unwilligen überzeugen, die Segensgaben anzunehmen. Nach langer Überzeugungsarbeit stimmten Stavrophilas Schwestern endlich zu, sie zu begleiten, teils aus Neugierde, teils um ihr einen Gefallen zu tun.
Als sie zum ausgemachten Ort kamen, erschien plötzlich der Eremit von himmlischem Licht umgeben und erläuterte ihnen kurz die himmlischen Segensgaben. Er warnte sie allerdings, der Zugang dazu sei nur durch das Kreuz möglich. Deshalb solle man das Kreuz des Kummers in diesem kurzen Leben tragen, damit man den Segen empfange, welchen kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und was in keines Menschen Herz gedrungen ist: Alles, was Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben (1 Kor 2,9).
Hilaria: Genau das habe ich hier erwartet, nur langweiliges, trauriges Gerede! Ich bin nicht so von Sinnen, seliger Alter, daß ich die Vergnügungen dieses Lebens um eines andern, unbekannten und besseren Lebens willen aufgäbe. Ich habe kein anderes Kreuz geliebt, als jenes, das von Gold- und Silbermünzen erstrahlt. Da ich noch jung bin, werde ich solch ein schweres und schwierig zu tragendes Kreuz nicht annehmen.
Wüstenvater: Du Unverblümte, willst du es also vorziehen, eher nicht vor ewiger Pein gerettet zu werden, wenn du (nur) das Kreuz dieses flüchtigen Lebens und seinen Kummer erträgst? Willst du das himmlische Königreich etwa durch kurzlebige Schwierigkeiten erlangen? Bist du nicht willens, kleineres Lei-den zur Befreiung deiner Seele zu erdulden? Um des leiblichen Wohlseins willen wärest du ja willens, geschnitten und gebrannt zu werden; ja du unterzögest dich dafür jeglicher Art von Ent-sagungen. Doch für das Wohlergehen deiner Seele willst du nichts auf dich nehmen? Aber, meine Teure, die Seele ist wertvoller als der Leib! Ist es denn so hart für dich, das Kreuz zu erdulden, um deine Seele zu retten?
Hilaria: Diese Rede ist hart (Joh 6,60).
Wüstenvater: Durchaus, aber es wird noch härter werden, jene ernsten Worte des gerechten Richters zu vernehmen: Hin-weg von Mir, ihr Verfluchte, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist (Mt 25,41).
Hilaria: Ich erwarte etwas Besseres. Denn schließlich glau-be ich nicht vergebens an Gott und erachte mich als Glied der Kirche Christi.
Wüstenvater: Mitgliedschaft an und für sich ist nutzlos. Denn Glaube ohne Werke ist tot (Jak 2,20). Bist du Christin, weshalb läufst du da vor Christi Kreuz davon? Wenn du Kummer nicht ertragen willst, hast du ja nicht einmal begonnen, Christ zu sein.
Hilaria rief aus: Das ist doch schrecklich: Krankheit, Kreuze und Leiden!
Wüstenvater: Ganz im Gegenteil: Du bist nur kleingläubig und willst nichts auf dich nehmen.
Hilaria: Ich bin ja nicht allein. Es gibt nur sehr wenige, die Leiden ertragen können.
Wüstenvater: Gut, dann geselle dich zu ihnen: Die Letzten werden die Ersten sein und die Ersten die Letzten (Mt 20,16). Fürchte dich nicht, du kleine Herde. Denn es hat eurem Vater gefallen, euch das Reich zu geben (Lk 12,32).
Hilaria hielt am gleichen Argument fest: Ich bin doch hilflos, und Leiden kann auch ein mutiges Herz fällen! Was soll ich denn tun? Die Natur ist eben so geschaffen.
Wüstenvater: Klage nicht die Natur an. Denn der Mensch ist mutig erschaffen. Bezwinge deine Natur, und du wirst dich des Himmels erfreuen. Warum sagst du: Kann ich nicht! Ist es nicht besser zu sagen: Will ich nicht! Denn du kannst durchaus Kummer ertragen, und es wird auch nicht hart für dich sein, wenn du dich nur entschließen kannst, das Leiden anzunehmen. Alles vermag ich durch Den, Der mich stärkt (Phil 4,13). Wie viele junge Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, Greise und Kinder haben alles aufgegeben, nahmen das Kreuz an und sind durch viel Leiden ins Königreich des Himmels eingegangen! Und du kannst das nicht? Denkst du denn, wer Erfolg gehabt hat, hätte dies durch seine eigene Stärke oder durch Gott gehabt, Der ihm die Kraft dazu gab?
Hilaria: Deren Gedanken kenne ich nicht und so weiß ich auch nicht, wie sie das Kreuz angenommen haben, geschweige denn weiß ich um ihre Kraft und um ihre Herzen. Was ich aber weiß, ist, ich habe beschlossen, das Kreuz mit allen Mitteln zu vermeiden. Es fällt mir ja schon schwer, über das Kreuz reden zu hören.
Wüstenvater: Gilt dir denn deine Rettung so wenig, daß du den Weg dazu ablehnst, der doch dorthin führt? Ist dir das Kreuz so schrecklich, daß sogar die schiere Erwähnung seiner dich vertreibt? Höre doch einfach auf das, was der Apostel Andreas tat, als sie ihn kreuzigen wollten; auf das, was er sagte und wie teuer ihm das Kreuz war. Von weitem schaute er auf das Kreuz, das da auf ihn wartete. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert, anders als bei einem Schwächling. Es verschlug ihm nicht die Sprache. Sein Leib zitterte nicht. Seine Seele war nicht verstört. Seine Lippen sprachen von einer überflutenden Liebe, die in seinem Herzen brannte. Seine Worte kamen wie flammende Funken: O ersehntes Kreuz! Freudig und begierig komme ich zu dir. Nimm auch mich an, den Schüler Dessen, Der an dir gekreuzigt wurde. Denn stets habe ich dich geliebt und sehnte mich danach, dich zu umfassen.
Hilaria: Sag mir, sprach dieser Mensch so oder war es ein Engel oder sonst ein unvorstellbares Wesen?
Wüstenvater: In ihren Leidenschaften sind alle Menschen gleich, genau wie du. Dies wird gerade durch ihr Leiden ja bezeugt, wenn sie es frohgemut auf sich nehmen.
Hilaria: Woher kommt denn diese neuartige Freude und der unerhörte Frohmut beim Menschen?
Wüstenvater: Das kommt nicht aus sich selbst. Diese Gabe kommt von oben, vom Vater der Lichter (Jak 1,17), vom Einen, Der große Wunder wirkt. Fürwahr der Geist Gottes gab dem hl. Andreas in seiner Hilflosigkeit die Kraft, indem Er sein Herz erfüllte. Stark wie der Tod ist die Liebe (Hld 8,6). Der Geist Gottes ist süßer als Honig. Und keine Bitternis des Todes kann diese Süße überwinden.
Hilaria: Dieser Geist ist mir fremd. So überrascht es doch auch nicht, wenn mir der Weg des Kreuzes sorgenbeladen und mißfällig erscheint.
Wüstenvater: Suche begierig nach diesem Geist. Denn wer sucht, der findet (Mt 7,8). Schmücke dich mit diesem Geist: Wer den Geist Christi nicht hat, so gehört er nicht zu Ihm (Röm 8,9).
Hilaria: Das verstehe ich nicht. Und ich suche auch nicht nach jenem Geist, der einen zwingt, Leiden und Kummer zu suchen. Soll, wer will, nach diesem Geist suchen und Ihn erwarten. Doch ich sehe keine Freude darin. Was ich aber wirk-lich sehe, ist eine Menge Kummer. Darum habe ich nicht den Wunsch, darüber noch mehr zu hören.
Unter diesen Worten ging Hilaria davon.
Da sprach der Einsiedler zu Stavrophila: Was ich vorausgesagt habe, ist nun eingetreten. Denn es gibt nur wenige, die das Kreuz tragen und den schmalen Pfad gehen wollen. Kam denn nicht ein sittlich aufrechter junger Mann zu Christus mit freundlich geneigtem Herzen und fragte Ihn: Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu erlangen? Da hörte er: Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen. So wirst du einen Schatz im Himmel haben. Dann komm und folge Mir nach. Darauf ging der junge Mann traurig davon. Denn schwierig ist es für einen Reichen und für jene, die nur irdische Vergnügungen suchen, in das Himmelreich zu kommen (Mt 19,16.21–23).
Stavrophila: Wird meine Schwester bestraft werden, weil sie das Kreuz zurückgewiesen hat? Gibt es Hoffnung auf ihre Rettung?
Wüstenvater: Weshalb fragst du mich? Weißt du denn nicht von Christi Apostel Paulus, was man über solche Men-schen denken soll? Erinnerst du dich nicht daran, was er unter Tränen sagte? Viele leben — von ihnen habe ich euch schon oft gesprochen, jetzt aber spreche ich mit Tränen davon — als Feinde des Kreuzes Christi. Ihr Ende ist Verderben, ihr Gott ist der Bauch, und ihr Ruhm liegt in ihrer Schande. Ihr Sinn ist auf das Irdische gerichtet (Phil 3,18–19). Weshalb werden sie Feinde des Kreuzes genannt? Weil sie im Suchen nach Vergnügen ihren Leib als Gott erachten und dabei das Himmlische beiseite lassen, um nur an das Irdische zu denken. Und was anderes könnte denn darauf folgen? Wer ein Leben des Vergnügens vergöttert, wird sich nie des Angesichts des Schöpfers, des wahren Gottes, erfreuen.

Wer Ehrungen liebt, der liebt Gott nicht

Das Wort vom Kreuz ist denen die verloren gehen, eine Torheit (1 Kor 1,18)

Stavrophila nahm die Worte des Eremiten mit Erstaunen und Kummer auf. Sie wandte sich an ihre andere Schwester und sprach: Ich flehe dich an, Honoria, folge nicht dem Beispiel deiner Schwester, die sich vom Kreuz, von Christus und von der ewigen Rettung abgewandt hat. Denk doch an die Gottesfurcht unserer Eltern, und nimm das Kreuz mutig an. Denn es führt ja ins ewige Königreich.
Honoria schluckte anmaßend und antwortete: Soll ich junge Frau von adeligem Stand ein Kreuz auf mich nehmen, jenes Zeichen der Unterwürfigkeit und der entehrenden Hinrichtung? Ein berühmter Redner hat einmal gesagt, das Kreuz sollte nicht nur nicht das Los eines Adligen sein, sondern auch der Name des Kreuzes sollte auf immer aus seinem Gedächtnis, seinem Anblick und seinem Gehör getilgt werden. Nicht nur ist die Erfahrung des Leidens am Kreuz eines freien Menschen unwürdig, sondern dies gilt auch von der Erinnerung daran und von der Erwartung darauf. Weshalb sollte ich das Kreuz also als eine Art ehrenvolles Unterscheidungszeichen tragen?
Stavrophila: Was sagst du da, Schwester? Weißt du denn nicht, daß das Kreuz durch unseres Herren Leiden an Ihm verherrlicht wurde? Nicht länger mehr ist es ein Baum der Schmach und des Todes, sondern es ist das ehrenvollste und segensreichste aller Hölzer; es ist schön und leuchtend, nachdem der allerheiligste Leib Christi es berührt hat. Warum erachtest du dieses Holz als verwunschen, wenn es doch in der Tat ehrenvoll ist, denn daran war der Wert der ganzen Welt ja angenagelt? Ist es dir denn nicht möglich, mit den weisesten der Heiden zu verkünden: O segensreicher Baum, an dem Gott gekreuzigt ward (Sibylla, Nach Sozomenos, Buch 2, Kap. 1). Kannst du denn nicht zusammen mit der heiligen Kirche diesen segensreichen Baum des Kreuzes lobpreisen? Das Wort vom Kreuz ist nämlich denen, die verloren gehen, eine Torheit; uns jedoch, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft (1 Kor 1,18). Warum bist du so stolz auf deine adelige Herkunft? Wahrer Adel besteht darin, ein Diener Christi zu sein, wie dies die hl. Agathia gesagt hat (Leben der hl. Agathia, 5. Feb.). Diese gesegnete Frau stammte von adeligen Eltern ab, und sie gab sich der Ungnade der Einkerkerung hin, indem sie zu ihren Folterknechten sprach: Ich bin eine Sklavin Christi, deshalb gebe ich mich als Sklavin hin. Schau genau darauf, wem du dienst: Christus oder Satan, der Tugend oder der Sünde? Denn amen, amen, Ich sage euch: Jeder, der Sünde tut, ist Sklave der Sünde (Joh 8,34). Und niemand ist ohne Sünde. Denn wir verfehlen uns ja in vielem (Jak 3,2). Weshalb mußt du vor dem Kreuz davonlaufen mit dem Argument, es sei ein Zeichen der Versklavung?
Honoria: Du bist eine flammende Predigerin, Stavrophila, doch vergebens! Wenn es dir gefällt, magst du das Kreuz erdul-den und es tragen, ja du magst ihm anhängen, doch ich werde diese Schmach nicht annehmen.
Da wollte der Eremit das törichte Mädchen wieder zu Sin-nen bringen und sagte zu beiden: Wenn ihr könnt, begreift das Geheimnis der Gottesfurcht (1 Tim 3,16). Und bedenkt, was der einzig gezeugte Sohn Gottes zur Rettung des Menschen-geschlechts tat: Habt solche Gesinnung in euch, wie sie auch in Christus Jesus war (Phil 2,5). Der Reiche sollte Christi Demut nicht verschmähen, noch soll sie jene von edler Geburt beschämen. Der Wert der Menschlichkeit kann sich ja nie auf solche Höhe erheben, um sich dadurch beschämen zu lassen, was unser Herr Jesus Christus — der Sohn nach Gottes und nach unserem Abbild — nicht als Schmach erachtete. Warum blast ihr euch mit eurer adligen Geburt so auf? Er ist der König der Könige, der Herr der Herren. Und dennoch hat Er das Kreuz gewählt, um Satans Regentschaft und all seine Ränke zu vernichten, damit die Demut über den hochtrabenden Stolz triumphiere. Er Selbst hat Seinen Leib unter das Kreuz gegeben. Er hat es angesichts der ganzen Welt getragen, um jenen, die Ihm nachfolgen, ein Beispiel zu geben. — Ja, dies war wirklich ein leuchtendes Wunder! Gottlose erachten das Kreuz als Zeichen der Schmach, doch den Gottesfürchtigen ist es die Bestärkung eines starken Glaubens. Blicken die Gottlosen darauf, sehen sie den König, wie Er eher den Baum zur Hinrichtung als das Königsszepter trägt. Doch die Gottesfürchtigen erblicken den König, wie Er den Baum zu Seiner Kreuzigung trägt, nämlich als Bild, das später auf den Kronen der Könige glänzen wird. Sie sehen einen König, Der Sich in den Augen der Gottlosen demütigen lassen wollte durch das Gleiche, was in der Folge die Herzen der Gottesfürchtigen verherrlichen wird (seliger Augustinus, Zum Evangelium des Johannes, Rede 17). Wie kann jemand das Kreuz für unerträglich erachten, wenn der König der Herrlichkeit Selbst es nicht als schmählich befand? Unerträglich ist vielmehr die Frechheit, mit der sich der Mensch — jener unbedeutende Wurm — für höher erachtet, wo doch der Herr der Herrlichkeit Sich Selbst entleert hat!
Beide Schwestern hörten auf die Worte des Einsiedlers. Doch sie nahmen diese nicht in gleicher Weise auf. Honoria regte sich darüber auf und zog von dannen. Stavrophila merkte auf diese Lehre mit geneigtem Herzen. Sie konnte nichts dagegen sagen und nur auf die Hilflosigkeit und die offensichtliche Schmach des Menschengeschlechts hinweisen. Da fragte sie den Eremiten: Gibt es denn jemanden, der unter Adel geboren ist und Schmach geduldig ertragen kann?
Wüstenvater: Hast du nicht gehört, wie David von Michal dafür ausgelacht wurde, was er angesichts der Bundeslade des Herrn sagte und wie Michal antwortete? Vor dem Herrn tanze ich! Ich will mich sogar noch tiefer demütigen als diesmal, auch wenn ich verächtlich bin in deinen Augen (2 Sam 6,21–22). Der Tanz, welcher Michal so sehr mißfiel, gefiel Gott, und er war wahrlich wunderbar. Er war eine ausgezeichnete Vorführung, welche die Menschen für seltsam befanden, doch den Engeln brachte sie Wonne. Segensreich ist die Verdemütigung, wel-che die Diener Gottes erdulden, wenn Stolze sie verachten und Reiche sie schmähen. Denn die fleischlich Gesonnenen erachten es für nichts als Irrsinn, wenn die Diener Gottes jene Dinge meiden, wonach die Menschen in dieser Welt trachten. Sie nämlich ersehnen sich, was die weltlich Gesonnenen verachten. Wie doch der heilige Apostel sagt: Das Wort des Keuzes ist denen, die verloren gehen, eine Torheit (1 Kor 1,18). Doch Gottes Torheit ist weiser als die Menschen. Denn nicht viele Weise nach irdischer Auffassung, nicht viele Mächtige, nicht viele Hochwohlgeborene sind dazu berufen, das Geheimnis des Kreuzes zu verkündigen. Doch was die Welt für schwach hält, hat Gott erwählt, um das Starke zu beschämen (1 Kor 1,25–28). Darum, Stavrophila, weise nicht von dir, das Kreuz wegen der Schmach der weltlich Gesonnenen anzunehmen. Es ist nämlich eine größere Weisheit, für töricht erachtet zu werden um des Herrn willen und mit dem Apostel zu sagen: Wir sind Toren um Christi willen, wir sind ja ein Schauspiel für die Welt geworden, für Engel und für Menschen (1 Kor 4,9–10). Moses hätte König von Ägypten werden können, doch er wollte es nicht. Er hielt nämlich die Schmach des Messias für einen größeren Reichtum als die Schätze Ägyptens (Hebr 11,26). Indem er die Macht mied, wurde er unvergleichlich mächtiger. Und wenn du alles verachtest, was in der Welt ist, erachte das Leiden und die Schmach deines Herrn für größer als jegliche Schätze. Laß die weltlich Gesonnenen über jene lachen, die das Kreuz tragen. Es wird eine Zeit kommen, da sie deine weise Torheit verherrlichen und ihre eigene Haltung gegenüber dem Kreuz beklagen werden, aber dann wird es zu spät sein. Am Tag des Gerichts, wenn die Törichten und die Gottlosen die Herrlichkeit der Gerechten sehen werden, werden die Törichten von schrecklicher Furcht erschüttert und geraten außer sich über ihre unerwartete Rettung. Reuevoll sprechen sie zueinander und seufzen in ihrer Seelenangst. Der war es, Den wir einst verlachten und den wir mit Spott überhäuften, wir Toren. Wie kommt es, daß er zu den Söhnen Gottes gezählt wird und seinen Erbteil unter den Heiligen hat (Weish 5,2–5).

Die Sünder tragen ihr eigenes, viel schwereres Kreuz

Viele Geißeln kommen über den Sünder (Ps 31,10)
Stavrophila konnte nicht vergessen, daß ihre Schwestern geflohen waren. Sie waren ihr beständig im Sinn und in ihrem Herzen. Darum sagte sie dem Eremiten: Ich werde nicht über das kommende Leben sprechen, sondern mein Herz möchte wissen, ob jene, die das Kreuz jetzt meiden, wenigstens während dieses kurzen Lebens ohne es bleiben? Denn sie sind ja fortgegangen, damit sie ein Leben in Vergnügen und Ehren, aber ohne Leiden leben können.
Wüstenvater: Nein. In keiner Weise werden sie frei von Kum-mer sein. Wer es ablehnt, dem Herrn mit dem Kreuz zu folgen, wird stets unter tiefem Leiden sein, weil es keinen Sterblichen gibt, der keinen Gram erfährt. Den Toten erwartet ein Sarg. Die Lebenden haben ein Kreuz. Stirbt ein Christ, wird ein Kreuz vor ihm her getragen. Und wenn ein Mensch geboren wird, ist ihm ein Kreuz zugemessen, das er ertragen soll. Große Mühsal ist allen Menschen bestimmt, und ein schweres Joch lastet auf den Kindern Abrahams von dem Tag an, da sie hervorgehen aus dem Schoß ihrer Mutter bis zur Rückkehr zur Mutter aller Lebendigen (Sir 40,1). Laß dich nicht täuschen, Stavrophila! Es gibt viele Kreuze, aller Arten. Und kein Mensch ist frei von Kummer und Sorgen. Wie die Seeleute auf dem Meer allerhand Gefahren ausgesetzt sind, so können auch jene, die auf Erden leben, nicht ohne Kummer und ohne das Kreuz sein. Ein jeder hat sein Kreuz zu tragen, komme es von einer Frau oder einem Kind, von einem Diener oder einem Freund, von einem Feind oder einem Nächsten oder aus dem Verlust von Eigentum und dergleichen (hl. Johannes Chrysostomos, An die Menschen aus Antiochien, Homilie 67). Wer hat nicht tausend Gründe für Kummer?
Stavrophila: Doch jene mit weltlicher Gesinnung leben, wie sie wollen. Deshalb lasten ihre Sorgen nicht so sehr.
Wüstenvater: Vielleicht stimmt es, daß sie alles haben, was sie sich wünschen. Doch wie lange wird dies währen? Wie Rauch schwinden sie dahin (Ps 36,20). Wer in weltlicher Behaglichkeit lebt, verschwindet. Und es wird keine Erinnerung an vergangene Vergnügungen geben. Selbst auf dieser Welt können sie keinen Gefallen an ihren Vergnügungen finden ohne Kummer, Angst oder Furcht. Häufig wird gerade das, was sie tröstet, zu einer Bestrafung und bringt ihnen Gram. Es ist auf gerechte Weise so angeordnet, daß gerade die Vergnügungen, die man unüberlegt sucht, mit Bitternis und Verwirrung ver-mischt werden. Denn wie Gott es verordnet hat, so ist es: Eine Seele in Unordnung ist sich selbst eine Last.
Stavrophila: Und dennoch kann man beobachten, Könige, Prin-zen und die Starken dieser Welt, welche über andere herrschen und denen sich niemand zu widersetzen wagt, tragen kein Kreuz, oder nur wenige werden davon betroffen.
Wüstenvater: Die Mächtigen und Starken dieser Welt sind vom gemeinen Schicksal der Menschen nicht ausgenommen. Auch ein König ist nicht frei vom Kreuz, sondern dem Gewitter-sturm aus Sorgen ausgesetzt, die aus der Krone kommen. Schau nicht auf den Purpurmantel, sondern auf die Seele, welche mit finsteren Ängsten belastet ist. Die Krone steht dem Haupt des Königs wohl an; sie sitzt so fest, wie Sorgen die Seele umzingeln. Blick nicht auf die große Entourage, sondern auf die vielen Schwierigkeiten des Königs. Das Haus eines Armen ist nicht so sehr mit Sorgen gefüllt, wie Kreuze Tag für Tag auf den König warten (hl. Johannes Chrysostomos, An die Menschen aus Antiochien, Homilie 66).
Stavrophila: Nun begreife ich, jene, die scheinbar frei sind, haben auch ihre Kreuze zu tragen.
Wüstenvater: Schändung und der nicht endende, harte Dienst auf Erden (Hiob 7,1), Übermaß, aber auch Armut kann Grund der Sünde sein. Der Reiche spielt sich stolz auf, und der Arme steigt zum Murren hinab. All dies, das eine oder das andere, erzeugen ein schweres Kreuz. Weh, weh der weltlichen Behaglichkeit, sei sie aus Angst vor Armut oder aus Furcht vor dem Verlust der Vergnügungen. Im Elend kommt Schwermut aus diesem und jenem Grund, aber auch aus dem Willen nach einem behaglichen Leben (seliger Augustinus, Confessiones, Buch 10). Und wenn das gleiche Wohlergehen nicht ohne Kum-mer ist, wenn Geduld nicht ohne Schwierigkeiten entsteht, dann besteht kein Zweifel, die Versuchung ist dazu bestimmt, ein Teil des Lebens des Menschen auf dieser Welt zu sein (seliger Augustinus, Confessiones, Buch 10, Kap. 28).
Stavrophila: Wahrlich gibt es viele Versuchungen und Fal-len in diesem verführerischen Leben. Doch die Sünder erachten dies nicht als Elend, sondern sie achten nur die Vergnügungen und die gefällige Vergangenheit.
Wüstenvater: So denken sie jetzt. Doch im kommenden Leben, wird dies anders beurteilt werden. Ist folgendes denn nicht der Schrei der Sünder: Bis zur Erschöpfung sind wir die Pfade der Sünde und des Verderbens gegangen und durchwanderten unwegsame Wüsten, den Pfad des Herrn haben wir nicht erkannt (Weish 5,7). Und der Herr fügt noch bei: Nehmt Mein Joch auf euch und lernt von Mir. Denn Mein Joch ist sanft und Meine Last leicht (Mt 11,29–30). Wer auch immer das Joch erträgt, wird es zu Frieden in seiner Seele bringen. Doch das Joch der Sünder lastet so schwer auf ihnen wie eine Decke aus Blei. Sie dienen fremden Göttern Tag und Nacht, die ihnen barmherzig sind (Jer 16,13). In allem, wo der Mensch sündigt, jeglicher unrechte Akt tags und nachts kommt aus den Triften der Dämonen, die den Sündern nie Ruhe lassen und sie dazu zwingen, Sünde auf Sünde und Unrecht auf Unrecht zu häufen (seliger Hieronymus, Über Jeremia, Kap. 16). Schau dir doch an, wie äußerst schwer zu ertragen die Qual der Sünder bei Samson dargestellt ist. Den Liebkosungen seiner Frau erlegen, ging er seines Haars verlustig und verfiel einem andern Stamm, der ihm das Augenlicht raubte, ihn ins Gefängnis warf und ihn dazu zwang, wie ein Esel den Mühlstein zu drehen (Ri 16). So leidet jeder, der Dalila dient; das heißt, dem Fleisch und dessen Willen zustimmt. Ein solcher wird dann seine geistliche Stärke verlieren und in die Hände des Feindes ausgeliefert — der Welt des Fleisches und Satans, der schmerzhaft über ihn herrschen wird wie ein verbrecherischer Tyrann. Auch der Sinn der Vernunft geht verloren, und ein solcher wird wie ein stummer Esel, der einen Mühlstein dreht. Durchforsche doch das Leben eines Sünders, und du wirst viel finden, das mit dem Leben eines Tieres gemein ist. Wie bei jemandem, der blind ist, so sind auch die Augen des Sünders durch die Unreinheit seines Lebens verdeckt und in seinem Innern hegt er die Gegenstände seines sündigen Vergnügens. Gebunden an die schweren Ket-ten der Lust und an die Verdorbenheit seines Gewissens, ge-blendet von der Finsternis seiner Täuschungen erfährt der Sünder Enge und Bedrängnis im Innern und dreht den Stein seines Herzens wie einen Mühlstein, verhärtet durch tief wur-zeln-de Sünde. Und aus den Früchten dieser verdorbenen Seele bereitet er das Brot für seine Feinde. Welche Qual bewirkt ihm doch dieses schändliche Werk! Der Herr spricht gerecht durch den Propheten: Schafft eure schlechten Werke aus Meinen Augen (Jes 1,16). Welch unwegsame Pfade die Sünder doch wallen: Ihr Weg soll finster und schlüpfrig werden (Ps 34,6). Sie erkennen nicht, worüber sie straucheln (Spr 4,19). Die Unmäßigen besudeln sich mit Dreck. Die Geldgierigen stolpern über Steine. Die Stolzen laugen sich aus am steilen Anstieg zur Spitze. Dornen stechen den Jähzornigen. Die Gierigen blendet die Finsternis. Und die Faulen bleiben hinter allen andern zu-rück, sobald der Weg uneben wird. Mit andern Worten: Vernichtung und Unheil sind auf ihren Pfaden (Röm 3,16).
Stavrophila: Ich erkenne deutlich, die Sünder halten sich an kein Kreuz. Und dennoch scheinen sie ein friedliches und ungestörtes Leben zu führen, den drohenden Härten gegenüber vollkommen gleichgültig.
Wüstenvater: Du hast Recht damit zu sagen, sie scheinen ein ungestörtes Leben zu führen. Es hat ja nur den Anschein, so zu sein. Doch die Wirklichkeit ist nicht so. Ihr Gewissen quält sie ob der Sünden. Der Wurm stirbt nie ab und läßt sie nie in Frieden.
Stavrophila: Ein schmutziges Gewissen ist die größte Qual. Denn es peinigt und bestraft eine Seele beständig.
Wüstenvater: Ja, das ist so. Von allen Leiden der Menschen-seele gibt es kein größeres, als ein von Sünden beschwertes Gewissen. Steht die Seele eines Menschen nicht unter Schmerz und wird sein Gewissen nicht durch die Sünde besudelt, kann er — auch wenn er äußersten Kummer und tiefste Sorgen erduldet — immer noch dort Zuflucht für sein Gewissen finden, wo er Gott findet. Doch ist eines Menschen Gewissen wegen seiner vielen Sünden verstört und wenn Gott deshalb nicht in ihm weilt, wohin kann er da in Zeiten von Sorge rennen? Sei er auf offenem Feld oder in der Stadt, auswärts oder zu Hause oder an einem abgeschiedenen Ort, sein Kummer wird ihm folgen. Er kann sich nirgendwo hinwenden. Denn solange er sündigt, wird er in sich drinnen nur Verwirrung finden —, nämlich den Rauch der Falschheit und die Flamme des Unrechts, doch Frie-de weilt nicht in ihm. Wo auch immer er hinzufliehen sucht, sein Gewissen ist stets mit ihm. Und da verbleibt auch immer die Pein (seliger Augustinus, Kommentar zu Psalm 45). Welches Herz kann jene Leiden ertragen, die doch schon die Ankläger und der Anbeginn der ewigen Leiden sind? Wie zur Zeit der alten Römer der zum Tode Verurteilte sein Kreuz selbst an den Ort der Hinrichtung zu tragen hatte, so hat Gott den Sündern das Kreuz ihres Gewissens auferlegt, damit sie einen Vorgeschmack erhalten auf den ewigen Tod, der sie erwartet. Erachtest du sie jetzt immer noch als selig, Stavrophila, jene, die da inmitten von Reichtum, Macht und Vergnügen leben? Wahrlich, weit entfernt von jeglicher Glückseligkeit sind sie. Denn ihr Quälgeist, das Gewissen, verletzt und verstört das Herz Tag für Tag, und Undurchdringbarkeit zieht sie in den ewigen Tod hinab.

Beim Tragen des Kreuzes muß man Eitelkeit tilgen

Habt Acht auf eure Almosen, daß ihr sie nicht vor den Leuten gebtb(Mt 6,1)
Stavrophila nahm sich die Worte des Eremiten begierig zu Herzen und entschloß sich, das Kreuz zu tragen. Doch so ist die Schwäche des Menschen, er vermeidet die eine Sünde, um in eine andere zu fallen. Das traf auch auf sie zu. Sie begriff, man soll das Kreuz nicht nachlässig und unbedacht tragen und sich nicht davor fürchten, das Kreuz zu tragen, weil es zu Ehren führt. So begann sie Lob und Ehren zu erwarten. Im festen Entschluß, das Kreuz zu tragen, fing sie an, sich nur mehr darum zu kümmern, daß es alle wissen sollten und sie deswegen für eine große Frau erachteten. Zuvor hatte sie Angst, die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen. Jetzt trachtete sie aufgeblasen danach.
Als der Einsiedler dies sah, begann er sie wegen der neuen Sünde zu zeihen: Stavrophila, du willst ein Übel mit einem gleichwertigen oder noch schlimmeren richtigstellen! Man soll das Kreuz tragen, doch nicht sich selbst in die Höhe heben! Schau doch, wie nutzlos es ist, das Kreuz zu tragen, wenn du es aufgeblasen tust. Auf diese Weise wirst du stets zu Fall kommen, und das Kreuz selbst wird dir zum Hindernis, um durch die schmale Pforte ins Königreich des Himmels einzutreten. Hast du denn nicht gelesen, was dem heiligen Arsenios geoffenbart wurde? Einst saß er in seiner Zelle und hörte eine Stimme, die ihm sagte: Geh, ich will dir allerhand zeigen. Er verließ seine Zelle und erblickte eine Kirche. Vor ihr saßen zwei Männer auf ihren Pferden. Beide trugen sie vor sich her je ein Ende eines Balkens und versuchten, zusammen durch die Pforte zu gehen. Doch der Balken war zu lang und versperrte ihnen den Weg. Um durch die Pforte einzutreten, indem sie den Balken längs hielten, müsste der eine vor dem andern durch die Tür gehen. Gerade dies wollten sie nicht tun. Darum blieben sie weiter vor der Pforte zur Kirche. Als Arsenios sie fragte, was das bedeute, antwortete eine Stimme: Dies sind die Menschen, welche die Last der Wahrheit zum Schein tragen, aber in Stolz handeln. Sie demütigen sich nicht einander gegenüber und wollen nicht in Demut den Weg Christi gehen. Darum bleiben sie außerhalb von Gottes Königreich (Bemerkenswerte Erzählungen und Geschehnisse der heiligen Väter, Über Abt Arsenios, 33). Siehst du jetzt, wie dies deine Narretei bloßlegt und welchen Schwierigkeiten du da unterworfen wirst? Das Kreuz zu tragen und sich selbst in die Höhe zu erheben, um das Lob der Menschen zu suchen, bringt keinen Lohn, weil es nutzlose Schinderei ist.
Stavrophila: Indem ich so handle, dachte ich all jene Fehler zu vermeiden, derer du mich zuvor geziehen hast. Außerdem meinte ich, keinen Schaden anzurichten, wenn ich nach etwas Ruf strebe. Denn ich habe recht oft gehört, ein guter Ruf gebe der Seele Kraft und dem Menschen großen Einsatz. Bei diesen Gedanken dachte ich, mir Mumm zu geben, um alle Härten mit guten Absichten zu ertragen, welche mit dem Weg des Kreuzes verbunden sind.
Wüstenvater: Wenn dir Ruhm Freude macht, solltest du den ewigen und wahrhaftigen Ruhm bedenken, den leeren, zeitlichen aber beiseite lassen. Verkauf deine Mühe nicht um den Ruhm bei den Menschen und gib den zukünftigen Ruhm nicht um sinnloses Lob dahin. Der Ruhm des Menschengeschlechts bleibt im Staub, und sein Lobpreis auf Erden wird ausgelöscht. Doch der Ruhm aus Tugend wird auf immer bleiben (hl. Nilos vom Sinai, Die acht Laster, Eitelkeit). Wie falsch ist es doch, den Ruhm seitens der Menschen mehr als den Ruhm bei Gott zu lieben. Es ist äußerster Irrsinn, im Geistlichen nutzlosen Ruhm zu suchen. Es bedeutet, in der Schinderei unterzugehen und jegliche Besserung zu vernichten. Der Sklave richtet seinen Blick auf den Meister, der Taglöhner auf jenen, der ihn angestellt hat, und der Zögling auf den Lehrer. Doch du tust das Gegenteil. Du läßt deinen großzügigen Herrn und Gott beiseite, obschon du sehr genau weißt, der Herr wird Sich im kommenden Äon an deine Werke erinnern. Du schaust nach Ruhm seitens der Menschen. Doch sie erinnern sich nur in diesem Leben an deine Werke, nämlich auf kurze Zeit, dann sind sie gleichgültig. Die Bewohner des Himmels schauen auf dich herab, doch du erwünschst dir Zuschauer auf Erden. Der Ringer trachtet nach Ruhm seitens jener, vor denen er kämpft. Du aber, die sich dem Himmel weiht, willst auf Erden gekrönt werden (hl. Johannes Chrysostomos, Römerbrief, Homilie 17).
Stavrophila: Ich hätte es nie als solch großes Übel erachtet, sich kleinen Ruhm für Werke zu erwerben, die doch nicht schlecht sind.
Wüstenvater: Dies geschieht, weil du wahrhaftige Fröm-mig-keit noch nicht gelernt hast. Hast du nicht gehört, wie überzeugend der Herr Jesus Christus doch alle belehrte: Habt Acht auf eure Almosen, daß ihr sie nicht vor den Menschen gebt, um von ihnen gesehen zu werden, sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel (Mt 6,1)? Hat Er nicht die Heuchelei jener bloßgestellt, die sich mit ihren guten Werken aufspielen und auf dem Markt und an den Wegscheiden beten, um seitens der Menschen gelobt zu werden? Dem Herrn gefällt es, wenn gute Werke im Geheimen getan werden, so daß der himmlische Vater, Der im Verborgenen sieht, dir vergelten wird (Mt 6,4).
Stavrophila: Das habe ich schon oft gehört. Doch diese Wor-te haben mein Herz nicht berührt, und so habe ich sie bis jetzt nicht beachtet.
Wüstenvater: Also trägt das lebendige und wahrhaftige Wort Gottes nicht viel Frucht in dir. Einer der echten Diener des Herrn sagte: Eitelkeit ist die Mutter der Gehenna (hl. Johannes Chrysostomos, Römerbrief, Homilie 17). Und der königliche Prophet verkündete einst: Gott zerstreut die Ge-beine derjenigen, die den Menschen gefallen; sie werden zu Schanden, weil Gott sie verschmäht hat (Ps 52,6). Wehe, wehe jenen, die das Kreuz tragen und dem Retter nicht nachfolgen wollen! Sie vergesellschaften sich mit Seinem Leiden, doch kümmern sie sich nicht darum, Ihm in Seiner Demut zu folgen. Darum werden sie vom Kummer zweifach erdrückt: Sie leiden hier, um zeitlichen Ruhm zu erlangen, und dort werden sie dem ewigen Leiden überantwortet, im kommenden Äon wegen ihrer Aufgeblasenheit und Eitelkeit im Herzen.
Stavrophila: Ich flehe dich an, lehre mich, wie ich diesen Fall vermeiden kann.
Wüstenvater: Die Leuchte deines Leibes ist dein Auge; wenn dein Auge lauter ist, so ist auch dein ganzer Leib licht (Lk 11,34). Das Auge der Seele ist die Absicht des Herzens. Ist sie richtig, werden auch alle leiblichen Handlungen recht, lauter und licht sein. Doch ist sie verschlagen und unverschämt, wird alles, was daraus kommt, von Gott zurückgewiesen (seliger Augustinus, Kommentar zu Psalm 118). Man sollte nicht nur erwägen, ob man gute Werke tut, sondern auch, ob sie in guten Absichten getan sind. Deshalb hat nämlich der Psalmist gebetet: Wende ab meine Augen, auf daß sie nicht Eitelkeit sehen (Ps 118,37). Das heißt, man soll täuschendem Lob keine Beachtung schenken und nicht um seinetwillen etwas tun. Gott schaut nicht nur darauf, was der Mensch tut, sondern um so mehr darauf, was dessen Absichten sind, während er etwas tut (seliger Augustinus, zu Psalm 31). Darum lehrt uns der Apostel: Ob ihr nun esst oder trinkt oder sonst etwas tut, tut alles zur Ehre Gottes (1 Kor 10,31). Auf deinem Weg des Kreuzes solltest du mehr als an alles andere daran denken, damit deine Absichten bei all deinen Handlungen die richtigen und auf Gott hin gelenkt sind. Über die Tiere, welche Ezechiel sah, ist geschrieben, daß ihre Antlitze und Flügel nach vorne gereckt waren. Was besagt das Gesicht anderes als die Absicht und was besagen die Flügel anderes als der Flug der Gedanken zu Gott hin? Alle guten Werke, die in tugendhafter Absicht getan werden, sollten zu Gott gelangen (hl. Gregor der Große, Über Ezechiel, Buch 1, Kap. 4). Und alle Taten, die gut scheinen, werden als Verlust zurückgewiesen, wenn sie nicht von tugendhaften Absichten untermauert sind. Tu nichts, um nutzloses Lob zu suchen, und welch gottesfrüchtiges Werk du auch angehst, versuch es mit der gleichen Begeisterung auszuführen (hl. Cassian, Buch 11, Kap. 18).
Stavrophila: Wie kann ich das Verlangen vermeiden, den Menschen zu gefallen und von ihnen Lob zu suchen?
Wüstenvater: Es braucht die volle Überzeugung der Gegen-wart Gottes; eine ernsthafte Absicht, Ihm zu gefallen, und ein brennendes Verlangen nach dem Segen, den der Herr verspricht. Niemand läßt sich in den Augen seines Meisters dazu aufreizen, seinem Meister Unehre anzutun und so Verdammung über sich selbst zu bringen, um seinem Gefährten zu gefallen (hl. Basil der Große, Kurze Regeln, Frage 34). Hast du nicht gesehen, wie der Reiter auf der Rennbahn der Freude der Menge keine Beachtung schenkt. Aus deren Freude verspürt er keine Freuden, sondern er schenkt dem König Beachtung, der unter ihnen sitzt. Er achtet nur auf dessen Gesten und übersieht die Menge. Mach es wie er. Wert-schätze nicht das Lob der Menschen, sondern erwarte den Richterspruch des gerechten Richters: Tu alles gemäß dessen Wünschen (hl. Johannes Chrysostomos, Kommentar zum Buch Genesis).
Stavrophila: Was soll ich also tun?
Wüstenvater: Trage dein Kreuz mit demütigem und sanftem Herzen. Als König Prakli reich in Purpur gekleidet das Kreuz des Herrn in einer Triumphprozession auf jenen selben Hügel zu tragen wünschte, wohin es der Gott-Mensch einst getragen hatte, wurde er von einer unsichtbaren Kraft am Stadt-tor zurückgehalten. So sehr er es auch versuchte, er konnte nicht weiter gehen. Der König und seine ganze Umgebung waren darob sehr erstaunt, und Bischof Zacharius sagte: Siehe, o Herrscher, du wirst nicht imstande sein, dieses hölzerne Kreuz, das Christus in demütiger Gewandung trug, in deinem Gepränge an seinen Ort zu bringen.
Willst du dieses hölzerne Kreuz tragen, tue es in Armut und Demut Christi. Darauf zog der König seine wertvollen Gewänder aus und legte einfache und armselige Gewandung an. So brachte er das Kreuz an den Ort, wo es immer stand. Der Herr will, daß du das Kreuz wie Er trägst, nämlich in Demut, um zu vermeiden, bei den Menschen Eindruck zu schinden.

Auf dem Weg des Kreuzes muß man Christus folgen, statt voreilig zu hasten

Wo man nicht mit Vernunft handelt, geht’s nicht wohl zu (Spr 19,2)
Wie jemand, der den rechten Weg verpaßt für gewöhnlich lange Zeit umherschweift, so ist es mit einem, der Gott oberflächlich und unbedacht sucht: Er kann keineswegs auf dem rechten Pfad bleiben und fällt von einem Irrtum in den andern. Dies geschah auch Stavrophila. Anhand der Lehre des Einsiedlers vermied sie den einen Fehler und fiel in einen andern. Die Unterweisung brachte sie wieder zu Sinnen. Da entschloß sie sich mutig, den Weg des Kreuzes zu betreten, und zwar ohne Angst vor Härten, jedoch ohne auf den Ratschlag des Eremiten zu warten. Wie eine unschuldige Taube hatte sie vor nichts Angst und verließ sich auf ihr eigenes Verständnis. Sie wollte ohne Lotsen auf diesem schwierigen Weg einhergehen.
Der Einsiedler hielt sie zurück und sprach: Wieder läufst du in die Irre, Stavrophila! Du sündigst in unbedachter Glut. Du hast die Unterweisungen vergessen, die ich dir jüngst gegeben habe: Die ihr der Zeit nach Lehrer sein solltet, habt es wieder nötig, daß man euch lehre, was die Anfangsgründe der Aussprüche Gottes sind (Hebr 5,12).
Stavrophila: Welche Unterweisungen?
Wüstenvater: Was, du weißt es nicht? Hat denn nicht der Herr Jesus Christus im Evangelium gesagt: Wenn jemand Mir nachfolgen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz täglich auf sich und folge Mir nach (Lk 9,23). Ich habe dich nicht nur einmal an diese Worte erinnert, doch du begreifst sie immer noch nicht vollständig.
Stavrophila war sich ihrers Fehlers immer noch nicht bewußt und wollte sich rechtfertigen mit der Antwort: Ich habe doch gehört, die Faulen und die Nachlässigen gefallen Gott nicht, sondern Er begünstigt jene, die mit brennendem Herzen für den Herrn arbeiten (Röm 12,11). Der Apostel lehrt uns ja auch nicht, Schritt für Schritt voranzuschreiten, sondern das Feld des christlichen Lebens rasch zu durchmessen (1 Kor 9,24). Worin habe ich denn gesündigt, wenn ich mich für den Weg bereit machte und begierig damit begann? Ist das Leben nicht kurz? Folglich will ich den Lebensweg begierig erfüllen.
Wüstenvater: Du hast darin gesündigt, weil du nicht den Fußstapfen Christi gefolgt bist, wie Er dich geheißen hat. Du gingst ohne Führer und Lehrer, den der Herr bestimmt hat, auf den Weg und hast nur auf dein eigenes Urteil vertraut. Ein Soldat, der in die Schlacht zieht, wählt den Weg nicht selbst. Er folgt nicht seinem Willen, damit er nicht fahnenflüchtig wird. Sondern er hat einen Lenker, den der König ernannt hat. Er gehorcht allen Befehlen und geht mit seiner Waffe in der Hand gemäß den Befehlen, die ihm erteilt sind. So erfüllt er seinen Weg, wie er muß. Wer seinem König und dem Lenker folgt, der ihm bestimmt ist, wird ohne Zweifel den rechten Weg nicht verfehlen. So sollte es bei jenen auf dem Pfad des geistlichen Lebens sein, wo der Herr Lehrer und Führer ist, auf daß Ihm die Heiligen folgen (hl. Ambrosius, Mediol, Kap. 5 zu Psalm 118). Glaubst du, es habe keine verborgene Bedeutung gehabt, daß Simon von Cyrene das Kreuz hinter Jesus und nicht vor Ihm getragen hat (Lk 23,26)? Was wurde damit ins Bild gefaßt? Es bedeutet die Ordnung eines wohl bemessenen, geistlichen Fortschritts, wozu der Herr beruft, damit man zuerst Sein Kreuz trägt. Erst danach ließ Er die Märtyrer und jene andern, die Ihm nachfolgen, ihr Kreuz tragen (hl. Ambrosius, Mediol, Über das Evangelium nach Lukas, Buch 10). Denk daran, wie Zacchäus zuerst auf den Herrn Jesus traf und erst danach zum Kreuz ging: Was aber sagte der Herr zu ihm? Steig eilends herab! (Lk 19,4–5). Das heißt, steig vom Baum herunter vor den Herrn, um hinauf zu steigen, nachdem der Herr am Kreuz gelitten hat (Christolog 54). Mit diesen geheimnisvollen Worten belehrt uns der Herr durch das Bild des Zacchäus, man soll gemäß den Anweisungen des Lehrers handeln, ungeachtet seiner eigenen, guten Beweggründe, nicht aber laut seinem eigenen Verständnis und Wunsch.
Stavrophila: Welchen Schaden kann es geben, wenn jemand auf dem Weg des Kreuzes nach seinem eigenen Verständnis vor-anschreitet? Wenn es eine Tugend ist, das Kreuz zu tragen, weshalb braucht es da einen Lehrer und Lenker dazu?
Wüstenvater: Ein Lehrer und Lotse ist vonnöten, damit das tugendhafte Werk so vollzogen wird, wie es sollte. Es ist schrecklich verachtenswert anzunehmen, man brauche niemanden und vertraue nur auf sich selbst, um Ratschlag zu erhalten, was am besten sei (hl. Basil der Große, zu Jesaias). Wahrlich lächerlich und ungünstig ist es, in nichtswürdiger Be-rufung beständig von Lehrer zu Lehrer zu rennen, doch umso mehr die göttliche Philosophie über das Tragen des Kreuzes sich selbst zu überlassen, weil es unwichtig sei (hl. Isidor, Islus, Buch 1, Brief 260). Darum flehe ich dich ganz besonders an: Folge nicht deinem eigenen Ratschlag und betritt ohne Führer keinen Weg, auf dem du nie zuvor gereist bist. Sonst kommst du vielleicht bald vom rechten Weg ab und wirst einem Fall unterworfen. Oder du gehst rascher, als du solltest, so daß du dich durch den hastigen Lauf überlastest, oder du unterliegst der Gleichgültigkeit, weil du auf dem Weg hin und her schwankst (hl. Heron, Epistel 1).
Stavrophila: Ich hätte nie gedacht, daß jene, die auf dem Weg begierig vorankommen wollen in solch entflammter Tap-fer-keit, dergleichen Schwierigkeiten unterworfen werden. Mein eigenes Urteil ist jedenfalls nicht so gefährlich erschienen.
Wüstenvater: Dies geschah aufgrund deiner Unerfahren-heit. Wie groß ist doch der Schaden, wenn jemand auf sein eigenes Urteil vertraut, ja selbst im Guten, wenn er sich dem Herrn oder Seinen Dienern nicht unterwerfen will. Dies führt der große Apostel Petrus deutlich an. Er hörte von den Lippen Seines Herrn Jesus Christus die Rede über das Kreuz und Sein Leiden. Da sprach Petrus: Das soll dir fern sein, Herr! Dies wird Dir keinesfalls widerfahren (Mt 16,22–23). Doch welche Antwort erhielt er da? Geh hinter Mich, Satan! Du bist Mir ein Ärgernis, denn du sinnst nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist. Was heißt das? Jener, der zuvor hörte: Glückselig bist du, Simon, Bar Jona, denn Fleisch und Blut haben es dir nicht offenbart, sondern Mein Vater, Der im Himmel ist (Mt 16,17), bekommt nun plötzlich zu hören: Geh hinter Mich, Satan!
Was bedeutet dies: Geh hinter Mich? Du willst Mir den Weg zeigen? Du willst Mir Rat erteilen? Folge du besser Meinem Wunsch!
Das heißt: Folge Mir nach; geh in Meinen Fußstapfen. So hat der Herr dem Apostel widersprochen, ja Er hat ihn „Satan“ genannt, weil er den Lenker führen, den Lehrer belehren und Seinem Herrn befehlen wollte (seliger Augustinus, zu Psalm 39 und 55). Glaub mir, Stavrophila, wer sich selbst zum Lehrer nimmt, ist ein Zögling mit wenig Vernunft. Aus diesem Grund wiederholten die weisen Lehrer der Mönche jenen gescheiten Spruch: Siehst du einen jungen Menschen, der aus eigenen Stüc-ken nach dem Himmel greift, halte ihn zurück. Denn es wird ihm heilsam sein (hl. Ephrem der Syrer, Teil 2, Anleitung 33, S. 219).
Stavrophila: Weshalb ist es denn so schlecht, aus eigenen Stücken nach dem Himmel zu greifen?
Wüstenvater: Weil der Eigenwille der Schemel der Eitelkeit ist: Niemand wird mit ihr in den Himmel steigen. Ich wiederhole, wer auf seinen eigenen Ratschlag hin geht, unbedacht und ohne Anleitung aus der Heiligen Schrift, der wird mächtig stolpern. Viele haben großen Einsatz aufgewandt und große Werke vollzogen, sie haben Entsagung und Härten um des Königreichs Gottes willen erduldet, doch weil sie aus eigenen Stücken ohne gesunden Menschenverstand handelten, weil sie glaubten, kei-ner Hilfe und keines Ratschlags seitens Nahestehender zu bedürfen, stellte sich all ihr Einsatz als unfruchtbar und vergeblich heraus (hl. Markus der Asket zum Mönch Nikolai). Fliehe vor dieser Falle und wenn du Weisheit hast, folge dem Herrn! Nimm dir den Propheten Moses zum Beispiel. Als ihm gesagt wurde, das Land zu verlassen, wo er lebte, um ins gelobte Land zu ziehen, sagte er beherzt zum Herrn: Wenn nicht Dein Angesicht vorangeht, führe uns nicht von dannen hinauf. Woran soll man denn sonst erkennen, daß ich Gunst gefunden habe in Deinen Augen, ich und Dein Volk, außer wenn Du mit uns gehst (Ex 33,15–16)? Willst du rasch vorankommen, ist das zwar nichts Schlechtes. Aber schreite nicht ohne Anleitung vor-an und verlaß dich nicht auf dein Verständnis. Willst du zum Herrn gelangen, dann mußt du Ihm folgen, ohne nur auf deine Stärke zu bauen, sondern im Gebet zu Ihm. Sein Segen wird dich führen und dir helfen, wie doch Salomon betete: Zieh mich Dir nach; es riechen Deine Salben köstlich (Hld 1,3–4).

Das Kreuz muß gemäß dem Bild des Herrn Jesus Christus getragen werden

Alle, die auf Erden weilen, werden einsehen, daß nichts besser ist als die Furcht vor dem Herrn und nichts süßer als die Erfüllung Seiner Gebote (Sir 23,27)

Überzeugt von so viel Unterweisung entschloß sich Stavro-phila, das Kreuz gehörig zu tragen und in den Fuß-stapfen des Herrn Jesus Christus einherzugehen.
So fuhr der Einsiedler fort: Jetzt hast du die Wahrheit begriffen. Denn der Sohn Gottes ist zu unserer Rettung herabgestiegen, Er nahm deine Unbilden aus Liebe und aus freiem Willen auf Sich, so daß du Duldsamkeit erlernst und zeitlichen Kummer ohne Murren erträgst.
Stavrophila: Ja! Der Herr erlitt viel Leiden zeit Seines Le-bens auf Erden, und so erfüllte Er das Geheiß des himmlischen Vaters. Darum ist es nur recht, daß ich verfluchte Sünderin alles geduldig ertrage gemäß Seinem Willen. Um meiner Rettung willen muß ich die Härten dieses erbärmlichen Lebens ertragen, so lange es Ihm gefällt. Denn obgleich dieses Kreuz jetzt zu lasten scheint, ist es kraft der Gnade Gottes dennoch heilsam. Das Beispiel unseres Erlösers macht es leicht zu tragen. Ich muß dem Herrn Jesus Christus meine äußerste Dankbarkeit zeigen, weil Er herabgestiegen ist, um mir und all jenen, die Ihm gegenüber wahrhaftig sind, den tugendsamen und richtigen Weg in das Königreich des Himmels zu zeigen. Sein Leben ist der Weg für uns. Wir gehen auf Ihn zu, und zwar in der Geduld, die Er uns befiehlt, denn Er ist unsere Krone. Hätte Er an Sich Selbst kein Beispiel gegeben und uns nicht unterwiesen, wer hätte Ihm da folgen wollen? Wie weit zurück wären wir da belassen, wenn unsere Augen nicht den lichten Anblick des Lebens unseres Herrn hätten!
Wüstenvater: Ja, so ist es! Der Herr selbst hat ja gesagt: Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr tut, was Ich euch getan habe (Joh 13,15). Wer den Kurs des Schiffes bestimmt, der muß seine Reiseroute nach einem Stern richten, damit er sich nicht verfährt. Die Künstler müssen auf das Original schauen, um ein Porträt zu malen. Willst du wirklich das Kreuz tragen, wie man es tragen sollte? Wem anderem als dem Herrn und Seinem Kreuz zu folgen, kannst du als Beispiel vorschlagen? Wie doch der Apostel sagte: Laßt uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der vor uns liegt. Dabei wollen wir hinblicken auf den Urheber und Vollender unseres Glaubens, auf Jesus (Hebr 12,1–2).
Stavrophila: Der Herr, mein Retter, ist für mich das Abbild der Duldsamkeit und zugleich mein Lohn. Er ruft mich und zieht mich und andere kräftig. Darum will ich stets Ihn im Blick haben: Ich sehe meinen Herrn vor mir. Ich bedenke Sein Leiden und ertrage darum das meine leichter.
Wüstenvater: Tu dies! Alle, die auf Erden weilen, werden einsehen, nichts ist besser als die Furcht vor dem Herrn und nichts süßer als die Erfüllung Seiner Gebote (Sir 23,27). Deshalb folge Gott. Die Diener Chisti, welche Ihm auf dem heiligen Weg des Kreuzes nachfolgen, tun dies. Sie werden nicht nur ihren Lohn, sondern auch einen großen Verdienst vor Gott erhalten.
Stavrophila war bei diesen Worten von Freude erfüllt. Und woraus, fragte sie, wird dieser Verdienst bestehen?
Wüstenvater: Solche Menschen werden anerkannt werden, Gottes würdig zu sein. Hast du nicht gelesen, was die heiligen Schriften über die Heiligen sagen? In den Augen der Toren scheinen sie tot zu sein, ihr Ende wird als Unglück angesehen und ihr Weggehen von uns als Vernichtung, sie aber sind im Frieden (Weish 3,2–3). Und weiter: Nach nur geringer Züchtigung empfangen sie große Wohltaten. Denn Gott hat sie geprüft und sie Seiner würdig befunden (Weish 3,5). Wie segensreich ist das Kreuz, wie segensreich der Kummer, der die Menschen Gottes würdig macht! Jene tun einem leid, die in ihrem Leiden der Mutlosigkeit zu sehr nachgeben und so Gottes unwürdig werden. Darum hat der Herr Jesus Christus deutlich gesagt: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und Mir nachfolgt, ist Meiner nicht würdig (Mt 10,38).
Voller Erstaunen sprach Stavrophila: Wer ist der Mensch, daß er würdig ist, Seinem König und Schöpfer nachzufolgen? Für mich ist es ein Segen, mich meinem Herrn Jesus Christus anzuhängen. Ich will Ihm nachfolgen. Mein Herz ist begierig, sich mit Ihm zu vereinen. Denn wer in weltlicher Weisheit unter all seinen Täuschungen jubelt, der tut dies, indem er den Meinungen, Gebräuchen, Regeln und Beispielen seines auserwählten Lenkers anhängt. Wie sollte ich imstande sein, den Namen Christin zu tragen, wenn ich mich nicht untrennbar mit Christus vereine? Denn Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6). Er ist der Weg zu der heiligen Bleibe, Er ist die Wahrheit der Lehre und das Leben in ewiger Glückseligkeit (hl. Leo, Cit. 3, Über Pascha).
Wüstenvater: Ja, Er ist der Weg. Darauf wird der Mensch zu Ihm kommen. Denn durch Christus wird jeder zu Christus gelangen, der den Weg der Duldsamkeit und der Demut geht. Auf diesem Weg wird man der Strenge der Mühe, den Wolken aus Trauer, dem Schrecken der Angst, den Fallen der Gegner, den Drohungen der Starken und den Vorwürfen der Anmaßenden begegnen. Deshalb hat der Herr Selbst, der König der Herrlichkeit, all dies erlitten, damit jene, die Ihm nachfolgen, sich nicht davor scheuen und dem Elend dieses Lebens nicht aus dem Weg gehen, sondern damit sie es in Geduld überwinden (hl. Leo, Cit. 16, Über das Leiden Christi).
Stavrophila: Bei deinen Worten ist mein Herz voller Freu-de. Doch bin ich erstaunt, daß es so viele gibt, die sich der Nachfolge Jesu Christi verweigern.
Wüstenvater: Du wirst noch mehr erstaunt sein, wenn du siehst, welche Entsagungen diese Menschen erfahren, wenn sie Ihm nicht nachfolgen wollen. Der Sohn Gottes ist das Haupt der Menschen, und sie sind Seine Glieder. Und wer den Haß der Welt und den Kummer des Kreuzes nicht zusammen mit dem Haupt erdulden will, der lehnt ab, zu Seinem Leib zu gehören (seliger Augustinus, Cit. 47, Über Heilige). Wer nicht mit Ihm zusammen auf dem Weg des Kreuzes leiden will, der ist nicht würdig, zusammen mit Ihm im Königreich des himmlischen Vaters zu frohlocken.
Stavrophila: Wie kann es sein, daß all Glieder des Leibes dem Haupt nicht nachfolgen? Ohne die Gnade, die wir vom Haupt erlangen, können wir die Übel nicht erdulden, die unser harren. Was kann das Glied dem Haupt geben? Es ist das Haupt, das dem Glied Grund zum Frohlocken gibt. Selig ist jenes Glied, das sich seinem Haupt gänzlich vereint und ihm folgt. Solche Menschen sind es, die dem Lamm folgen, wohin auch immer es geht (Offb 14,4). Das göttliche Haupt hat gelitten, um dem Leib ein Beispiel zu geben, dem er nachfolgen soll. Denn der Herr litt freiwillig, doch wir haben aus Notwendigkeit zu leiden. Er ließ Sich durch Sein Mitleid und aus Liebe zu den Menschen dazu bewegen, für das Geschlecht der Menschen zu leiden. Doch wir leiden unserer Sünden wegen. Darum bringt uns Sein Leiden einen notwendigen Trost voller Segen. Wann auch immer wir Kummer erfahren, können wir zu unserem Haupt aufschauen. Erbaut durch Sein göttliches Vorausgehen können wir ausrufen: Wenn Er so viele Schmähungen, so viele Schläge ins Gesicht und ans Haupt, wenn Er so viele Eiterschwären von der Dornenkrone erlitten hat, wenn Er das Kreuz auf einem geschundenen und blutverschmierten Leib getragen hat, was sollen wir da tun? Wenn nur der Herr, Der für mich am Kreuz gekreuzigt wurde, mir hilft, mich aus ganzem Herzen an Ihn zu hängen (seliger Augustinus, Buch über die heilige Unschuld). Wenn doch der Anblick des Herrn, wie Er das Kreuz trägt, nie aus meinem Blick gerät, damit ich lernen kann, mein Kreuz be-gierig zu tragen! Schau doch, wie der tapfere Krieger seine Wunden vergisst, wenn er auf die tiefen Wunden seines heldenhaften Generals schaut!

Man soll nicht traurig sein, wenn das Kreuz groß und schwer erscheint

Denn unsere Tr?bsal, die zeitlich und leicht ist, schafft uns eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit (2 Kor 4,17)
Wer sich aus ganzem Herzen dem Dienst am Herrn Jesus Christus hingibt, der erfreut sich zu Beginn aller-hand Tröstungen. Denn der Herr, Der die Men-schen liebt, schaut auf den neu Bekehrten, als ob dieser ein Kind wäre, das um Milch bittet: So schenkt Er ihm zu Beginn Trost. Doch wenn jener ein wenig stärker und reifer wird, suchen ihn stärkere Prüfungen heim. Je mehr unser Feind Widerstand in uns sieht, desto stärker versucht er uns anzugreifen. Doch jene, die er ohne Schwierigkeit beherrschen kann, die läßt er. Gott Selbst zieht Sich scheinbar von Seinen Zöglingen zurück, um sie auf die Probe zu stellen. Was sie während der Zeit des geistlichen Trostes leicht ertragen konnten, wird nun schwierig in der Zeit der geistlichen Verlassenheit. Solche Veränderungen hat auch der Prophetenkönig David selbst erfahren. Während guter Zeiten rief er aus: Ich sprach in meinem Übefluß: Ich wanke nicht ewiglich! Doch in der Zeit der Trübsal sagte er: Du wandtest weg von mir Dein Angesicht, da ward ich verwirrt (Ps 29,7–8). Diese gleiche Veränderung werden wir schon bald auch bei Stavrophila erblicken.
Wir haben gesehen, wie sie ihren Nacken unter dem Joch des Herrn beugte und wie begierig sie das Kreuz trägt. Wir sahen ihren offensichtlichen und großen Frohmut. Doch nun, da sich ein Gewitter erhebt, werden wir ihren Kummer und ihr Seufzen und ihren beinahen Zusammenbruch in der Erschöpfung unter dem Gewicht des Kreuzes sehen. Sie nahm das Kreuz freudig an, doch je weiter sie es trug, desto stärker lastete es. Jetzt beklagte sie sich, die Last sei zu schwer. Dann wurde sie traurig, daß es zu schwer sei. Und schließlich erwog sie, ob das Kreuz irgendwie leichter zu machen sei.
Der Einsiedler sah ihren Kleinglauben und sprach zu ihr: Was ist deine Absicht, Stavrophila? Das Kreuz leichter zu machen bedeutet, es zu mißachten. Trägst du so das Joch Christi, welches du einst so begehrtest?
Stavrophila: Sei nicht ärgerlich mit mir, ich bitte dich. Dieses Kreuz scheint zu groß für mich, und ich kann es nicht tragen. Deshalb fragte ich mich, wie ich es etwas leichter machen kann.
Wüstenvater: Du sagtest ganz richtig, es scheint zu schwer für mich. Denn in Wirklichkeit ist es das nicht, sondern es scheint jenen so, die verkehrt darauf blicken oder von ihrem eigenen Verständnis in Versuchung geführt werden. Das Kreuz ist nicht groß, und der Kummer ist leicht, wenn nur die Meinung des Menschen sie nicht übertreibt. Wenn du dich deshalb ermutigen willst, indem du sagst: Es ist nichts; es ist nicht viel; ich will aushalten, denn schon bald ist es vorbei, dann wird dir das Kreuz leicht zu tragen sein. Die Menschen leiden aufgrund ihrer eigenen Meinungen. Solange sie denken, sie seien unglücklich, werden sie es auch sein.
Stavrophila: Doch mich drückt ein außerordentliches Ge-wicht.
Wüstenvater: Selbstverständlich! Wie könntest du es nicht spüren, wenn du das Kreuz feige im Herzen trägst? Es wäre ja unnatürlich, wenn man die Last des Kreuzes nicht fühlte. Doch das Kreuz mutlos zu tragen, paßt nicht zu einem mutigen Mädchen, zu einer Jüngerin Christi, die sich christlichen Werken und dem Leiden für das Himmelreich widmet.
Stavrophila: Ich bin erstaunt, daß du sagst, das Kreuz sei weder groß noch schwer, wenn ich in der Tat sehen und greifen kann, daß es so ist.
Wüstenvater: Du wiederholst dich. So will auch ich wiederholen, was ich zuvor gesagt habe: Die Menschen leiden nicht unter der Natur des Dinges selbst, sondern daran, wie sie es wahrnehmen. Da sind beispielsweise zwei Kreuze an zwei Menschen vergeben: Für den einen, der eifriger ist, scheint das Tragen einfach, während der andere kleingläubig und niedergeschlagen ist, und es erscheint ihm schwer. Es ist doch dasselbe Kreuz, der Unterschied liegt nur in der Wahrhnehmung.
Ich will dir dies anhand eines Beispiels aufzeigen: In einem Kloster war ein neu eingekleideter Bruder. Zu Beginn war er sehr aufmerksam und begierig. Doch nach und nach wurde dies schwächer, und es lastete auf ihm, was ihm einst leicht schien. Ganz besonders störte ihn, daß er als neu Eingekleideter den schwarzen Hut eines Laienbruders zu tragen hatte. Er nahm dies als schweres Kreuz wahr, auch wenn dies niemand anderen störte. Ist es nicht seltsam, daß er einen leichten, schwarzen Hut als Last empfand, zumal alle neuen Brüder diesen ebenfalls trugen gemäß den Regeln des Klosters? Kleinglaube wie dies sollte dem Diener Christi fern stehen, so daß die Duldsamkeit, welche unter großem Kummer erworben ist, nicht um Kleinigkeiten willen verloren geht.
Stavrophila wollte widersprechen, doch sie konnte es nicht. Einverstanden, sagte sie, die Menschen neigen zum Murren. Wir alle neigen dazu, mit unserem Los unzufrieden zu sein, weil wir im Herzen verwirrt sind. Was sollen wir tun? Jeden von uns drückt sein eigenes Unglück mehr als das des andern. Ein jeder denkt, er leide mehr als andere. Wer an einer Augenkrankheit oder an einem andern Gebrechen leidet, der denkt, es gebe keine Krankheit die schwerer zu ertragen sei als die seine. Wer auch immer an etwas leidet, ist der Meinung, sein Gebrechen laste am schwersten (hl. Johannes Chrysostomos, An die Menschen aus Antiochien, Homilie 67).
Ich stelle nicht in Abrede, daß dies wegen meiner Feigheit gerade jetzt auch mir geschehen ist. Ich hielt mein Kreuz für zu schwer und wollte es erleichtert haben. Doch wenn dies nicht geschehen soll, so flehe ich dich an, wäre es nicht wenigstens möglich, die Last etwas zu erleichtern. Denn ich fürchte, meine Knochen zu brechen!
Wüstenvater: Hör auf damit! Genug des Schmachtens! Besser ist es, von Krankheit und Härte geschlagen zu werden um der Rettung willen, als sich einen gesunden Körper zu bewahren zur Zerstörung der Seele. So sehr du dich zwingst, so sehr gewinnst du! So sehr du der Schwäche nachgibst, so sehr gehst du des künftigen Lohns verlustig. Wähle also, was du willst: Entweder dies, was hart und nützlich ist, oder jenes, was dir Vergnügen bringt, doch schädlich ist! Das eine mehrt den Lohn, das andere mindert ihn, ja vergibt ihn im voraus.
Stavrophila: Doch die Härte geht über meine Kraft!
Wüstenvater: Deiner Meinung nach weiß also Gottes ewige Weisheit nicht, was menschliche Stärke ertragen kann und was nicht? Muß ich dir wiederholen, was dir schon zur Fülle gelehrt worden ist? Gott ist treu: Er wird nicht zulassen, daß ihr über euer Vermögen versucht werdet, sondern mit der Ver-suchung wird Er auch den Ausgang schaffen, so daß ihr sie ertragen könnt (1 Kor 10,13). Ein Arzt weiß, warum er einem Patienten mehr von der bitteren Medizin verabreicht als einem andern. Dies gründet entweder auf der Natur der Krankheit oder auf der Konstitution des Patienten. Starke Salben sind schmerzhaft, doch sie heilen die Wunden. Ein erfahrener Arzt beendet die Behandlung nicht, bis die Krankheit geheilt ist, auch wenn der Patient ihn darum bitten mag, die Medikation zu ändern. Der Herr kennt die Seinen, und Er weiß, wie Er heilen muß. Deshalb sollte der Kranke Ihm keinen Rat erteilen, sondern sich unterziehen, wenn er geheilt werden will (seliger Augustinus, Zu Psalm 98).
Weh mir, sagte Stavrophila mit einem Seufzer, die Hand des Herrn hat mich überlastet, ich werde unter einem solch großen, schweren und kummervollen Kreuz verschwachen.
Wüstenvater: Du widersetzt dich Gottes Geist! Er aber hat durch die Lippen des heiligen Apostels gesprochen: Deshalb verzagen wir nicht, im Gegenteil: Auch wenn unserer äußerer Mensch aufgerieben wird — und warum? Denn unsere augenblickliche geringfügige Trübsal erwirkt uns in überströmender Fülle eine alles überwiegende, ewige Herrlichkeit (2 Kor 4,16–17). Hör also auf zu murren und zu klagen: Mein Kreuz ist groß, mein Kreuz ist schwer, ich kann solch lastendes und beständiges Leiden nicht ertragen! Was du erduldet hast, erachtet der Apostel für kurz und mild. Und du hast ja noch nicht solch bedrängende und zahlreiche Hiebe auf dich genommen, wie sie der Apostel seitens der Juden erlitten hat. Du hast Tag und Nacht nicht in den Tiefen des Ozeans verbracht. Du hast dich nicht mehr als andere abgemüht. Du hast dein Blut nicht vergossen. Siehst du denn nicht, all diese zeitlichen Leiden sind der Herrlichkeit nicht würdig, die da kommt? Dies alles ist kurzlebig und leicht. Doch was bemerkenswert ist, das ist ewig und größer als jegliches Maß: die Herrlichkeit des Himmels.

Im Elend soll man inniger danken als in guten Zeiten, dies nicht nur Gott, sondern auch jenem, der den Kummer schafft

Die Worte des Einsiedlers bestärkten Stavrophila darin, Dankbarkeit sei nötig. Doch in ihrer Seele schwankten noch einige Zweifel, die sie ihrem Lehrer unterbreiten wollte.
Stavrophila: Ich bitte dich, mir zu sagen, wann man mehr Dank-barkeit zeigen sollte: in Zeiten des Glücks oder im Unglück?
Wüstenvater: Weshalb zweifelst du? Überleg doch: Für welche Freundlichkeit — die größere oder die kleinere — sollte man mehr danken?
Stavrophila: Für die größere natürlich.
Wüstenvater: Also vergleiche selbst das Unglück mit dem Glück: Ermiß selbst, was höher steht. Das Kreuz führt von der Sünde weg. Doch Wohlergehen bietet der Sünde eine Ursache und zieht zur Sünde hin. Denn es ist ein Zeichen großer Gnade, wenn die Gottlosen nicht lange Zeit in Ruhe gelassen werden, sondern sogleich der Strafe verfallen (2 Mak 6,13). Gram spornt an, näher zu Gott zu rücken. Wohlergehen bewirkt, daß man Gott vergisst. Leiden erhebt die Seele zur Gottesfurcht und zur Demut. Doch im Wohlergehen erschwacht die Güte im Menschen und die Achtsamkeit sich selbst gegenüber, besonders in Menschen von Rang. Sie zerstören sich selbst, wie Wachs in der Flamme oder wie Eis und Schnee in der Sonne schmilzt. David war gottesfürchtig und Salomon weise. Doch in ihrer Behaglichkeit und bei ihrem großen Vermögen wurde der eine unvernünftig und der andere ebenso. Groß ist, wer ins Unglück gerät und dabei die Vernunft nicht verliert. Doch noch größer ist jener, dem Glück keinen geistlichen Schaden bringt. Kreuz und Kummer sind Unterpfand der ewigen Glückseligkeit, während zeitliches Glück sehr häufig Vorausläufer der ewigen Verdammung ist. Wer sich beständig weltlichen Glücks erfreut und in all seinen Wünschen über das Maß hinaus schlägt, der braucht Mitleid, ganz besonders wenn er sich daran hängt, was als Fülle erscheint, anstatt sich an die wahre Glückseligkeit zu halten. Was denkst du nun über Glück und Unglück? Das Kreuz des Kummers schlägt selten darin fehl, jemandem Vorteil zu bringen. Dagegen belässt Übermaß selten unbeschadet.
Stavrophila: Wenn wir über die Ewigkeit nachdenken, wie wir sollten, zögen wir den Schluß, Kummer sei das wertvollste Geschenk und Dankes würdig.
Wüstenvater: Du hast wahr geantwortet. Denn selbst wenn du das Wissen aller Astronomen der Welt hättest, selbst wenn du die ganze Weisheit der Weisen dieser Welt aufnehmen könntest, selbst wenn du über Gott so hervorragend spre-chen könntest, wie dies die Lippen der Heiligen und der Engel können, würde dir alles auf dieser Welt nicht so sehr zur Erleuchtung aus Tugend und aus Heiligkeit helfen, wie dies Kummer, Demut und Hingabe an den Willen Gottes in allem tut. Die Weisheit des Menschen oder der Welt ist eine Errungenschaft sowohl des Guten als auch des Bösen, doch die Hingabe an Gottes Vorsehung ist nur bei den Auserwählten kennzeichnend. Wenn man die richtige Wahl treffen könnte zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen, wäre man rascher dazu bereit, hundert Jahre lang in einer feurigen Flamme zu bleiben, als den Lohn einzubüssen, der im Himmel für den vorübergehenden Kummer wartet. Denn hier wird jegliche Trübsal enden. Dort wird endlose Glückseligkeit auf jene warten, die jetzt leiden. Die Reichtümer harren jener, die von Gott erwählt sind. Denn die kurzen Schwierigkeiten sind unvermerklich.
Stavrophila: Wer in der Welt kann den Gedanken annehmen, so viele liegen unter dem Kreuz und für so wenig Kummer wartet so viel Freude im Himmel. Doch ich finde noch immer keine Worte, ob es genügt, Gott für die Gnade des Unglücks zu danken, das herabgesandt wird. Oder sollte man Gefühle der Dankbarkeit jenen Menschen gegenüber haben, die uns schmähen, nicht weil sie uns gut wollen, sondern wegen ihres Haßes und ihrer Bosheit?
Wüstenvater: Ich bin überrascht, daß du darüber im Zwei-fel bist. Erinnerst du dich nicht daran, was im Evangelium gesagt wird: Liebet eure Feinde und segnet, die euch fluchen (Mt 5,44)? Wenn man den Feind lieben soll, dann soll man ihm zweifelsohne die Liebe unter Beweis stellen: Liebe aber beweist man mit guten Werken! Wenn du deinen Feinden Gutes tust und für sie betest, dann zeigst du deine Dankbarkeit nicht nur mit Worten, sondern auch mit Werken. Der Herr Jesus Christus hat am Kreuz für jene gebetet, die Ihn kreuzigten: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,34). Und darin folgten Ihm der Erstmärtyrer Stephanus und der Apostel Jakobus nach. Welch größeren Dank kann es geben, als zur Zeit des Todes für jene zu beten, die den Tod verursachen?
Stavrophila: Das ist wahrlich die höchste Art der Dank-sagung, wenn jemand nicht nur das Böse vergilt, sondern auch jenem nichts Böses tun will, der ihm dieses antut, sondern wenn die Schmähung selbst sich als Beweggrund für den Dank unter Beweis stellt.
Wüstenvater: Es sollen die Beispiele anderer dir eine Lehre sein. Wenn du erfährst, was andere getan haben, die dir ähnlich sind, wird es leichter sein, ihrem Beispiel zu folgen. Hast du gelesen, was über den Schüler eines Philosophen gesagt wurde? Er hatte gesündigt und bat seinen Lehrer um Vergebung. Der Philosoph indes gelobte, ihm diese nur zu geben, wenn jener drei Jahre mit Verurteilten in der Miene schuftete. Dann bestand er darauf, daß jener noch Abgeltung für drei weitere Jahre an jene leistete, die ihm Unrecht getan und ihn geschmäht hatten. Als der Schüler dies alles erfüllt hatte, sagte der Philosoph zu ihm: Geh nun nach Athen, um dort Weisheit zu lernen. Am Stadttor saß ein Alter, der große Weisheit erlangt hatte. Er verspottete alle, die in die Stadt wollten, um sie auf die Probe zu stellen. Als er dies mit dem Jüngling tat, lachte dieser laut: Was tust du da? Der Alte sagte: Ich schmähe dich, doch du lachst! Wie sollte ich nicht lachen, sprach der Jüngling. Drei Jahre lang habe ich Menschen abgebüsst, die mich schmähten, doch du tust es ja gratis! Der Alte sagte: Geh in die Stadt. Du bist dessen würdig. Diese Geschichte hat Abt Johannes oft erzählt, und er fügte bei: Dies sind die Pforten Gottes, durch die unsere Väter in Freuden die Stadt Gottes betraten nach viel Kummer und Schmach (Rufin, Das Leben der Altväter, Buch 3).
Ich gebe dir Beispiele für solche Tugend, damit du diese Errungenschaft nicht vor dir weist, weil sie schwierig ist oder weil sie nur wenige erreichen. Als der heilige Märtyrer Cyprian zum Tode verurteilt ward, ließ er dem Henker fünfundzwanzig Goldstücke als Lohn geben.
Der Patriarch Alexander von Antiochien hatte einen Notar, der ihm Gold stahl und der später in die Hände von Räubern fiel. Als Alexander davon erfuhr, bezahlte er ein Lösegeld von achtzig Goldstücken, um ihn aus der Gefangenschaft zu befreien. Als der Dieb zu ihm zurück kam, empfing ihn der Patriarch so gnädig und so nachsichtig, daß ein Bürger der Stadt sagte: Es gibt nichts Gewinnbringenderes, als dem Patriarchen Unrecht zu tun!
Abt Stephan hatte so viel Geduld, daß er nur jene zu seinen Freunden zählte, die ihm Unrecht taten. Er entgalt Unrecht mit Dankbarkeit. Erlitt er einen Verlust aufgrund der Armut eines andern, erachtete er dies als größten Gewinn. Er hielt all seine Feinde für Förderer seiner Rettung.
Herausragend ist auch das Benehmen von Johannes dem Almosengeber, wie dies in seinem Lebensbericht steht. Ein Unhold schmähte einen Jüngling sehr und tat ihm Unrecht. Dieser war ein Verwandter des Heiligen. Mit Tränen in den Augen beklagte er sich beim Patriarchen. Der heilige Johannes wollte ihn trösten und sagte: Wie wagt er, dir Unrecht zu tun! Warte nur, ich will etwas tun, was alle in Alexandria überraschen wird. Bald darauf ließ er den Verwalter kommen und befahl ihm, von jenem Unhold keine Steuern zu beziehen und diesen von allen Gebühren zu befreien, dies aber dem Patriarchen in Rechnung zu stellen, um es der Kirche als Kredit zu geben. Ganz Alexandria war darob erstaunt. So sind die Beispiele der Großzügigkeit von Heiligen. Doch auch viele Frauen ahmten sie mit Gottes Hilfe in dieser großen Tugend nach.
Stavrophila: Als ich Gottes Gebot über die Feindesliebe im Evangelium hörte, hielt ich es für sehr unangenehm und dachte, nur wenige könnten dies erfüllen.
Wüstenvater: Die Erfüllung dieses Gebots ist eine große Errungenschaft. Es wurde übrigens schon im Alten Testament gegeben. Denn was anderes besagen die Gebote: Wenn du dem Rind oder Esel deines Gegners begegnest, die sich verlaufen haben, sollst du sie ihm wieder zuführen. Wenn du siehst, der Esel deines Widersachers ist unter der Last zusammengebrochen, so halte dich nicht fern von deinem Feind; du sollst ihm zusammen mit jenem aufhelfen (Ex 23,4–5). Und: Hungert dein Feind, so speise ihn mit Brot, und dürstet ihn, gib ihm Wasser zu trinken; so häufst du Kohlen auf sein Haupt, und der Herr wird dir vergelten (Spr 25,21–22).
Stavrophila: Es ist überraschend, daß ein Gesetz, das nichts zur Vollendung gebracht hat, eine solche Errungenschaft enthält und darbietet.
Wüstenvater: Das ist wahr. Eine schwache Seele, die einst durch die Finsternis der Leidenschaften geblendet war, erhebt sich unter großem Einsatz auf den Gipfel der Tugend. Doch du versuch, noch höher zu greifen: Du wirst wissen, daß du dich dieser Fäulnis vollständig entledigt hast, nicht wenn du für jemanden betest, der dich beleidigt hat, nicht wenn du Geschenke mit ihm austauschst, nicht wenn du ihn an deinen Tisch einlädst, sondern erst dann, wenn du wie für dich selbst für ihn leidest und weinst beim Vernehmen, daß er in geistiges oder körperliches Unglück gefallen ist (hl. Johannes Klimakos, Himmelsleiter, Stufe 9, Kap. 12).
Stavrophila: Wie weit bin ich von dergleichen Errungen-schaften doch entfernt! Und wann werde ich dorthin gelangen, wo so viele heilige Frauen und Männer diesen Weg mit ihrem Leben geöffnet haben?
Wüstenvater: Verzweifle nicht. Denk nicht, du könnest dies aus eigener Kraft erreichen. Bete vielmehr zu dem Einen, Der dies verordnet hat, damit Er es in dir erfüllen möge. Denn Er hört auf jene, die zu Ihm um Hilfe beten und Seinen Geboten gehorchen (hl. Gregor der Dialogist, Zum Evangelium, Kap. 35). Die Beispiele an Tugend der heiligen Väter sollten dich nicht einschüchtern oder dich nicht in Verzweiflung bringen. Ganz im Gegenteil können sie dich mehr als alles andere das Eine von Zweien lehren. Sie können in dir einen Eifer wachrufen, ein heiligmäßiges Leben zu führen. Oder sie können dich kraft der segensreichen Demut zu Selbstbezichtigung und zu einem tieferen Wissen über die Glückseligkeit führen (hl. Johannes Klimakos, Himmelsleiter, Stufe 26, Kap. 125). Glaub mir, Stavro-phila, es zeigt große Unreife, seine Unvollkommenheit nicht zu ertragen und sich aufgrund fehlender Duldsamkeit erschüttern zu lassen. Auch dies muß man in Sanftmut tragen, bis man mit Hilfe des Heiligen Geistes auf die höchste Ebene der Vollkommenheit gebracht wird. Doch bis dahin, muß man sorgsam sein und sich einsetzen.

Unter dem Kreuz soll man frohlocken

Mir steht es fern, mich zu rühmen als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus (Gal 6,14)
Der Eremit wollte Stavrophila in der erhabensten Lehre unterweisen und sprach zu ihr: Jetzt, Stavrophila, mußt du fraglos überzeugt sein, die höchste Tugend, die größte Herrlichkeit und die höchste Ehre besteht darin, das Kreuz nach dem Beispiel des Herrn und für den Herrn zu tragen. Ist es denn nicht eine Ehre für den Sklaven, aus dem gleichen Kelch wie der König und Herr zu trinken? Dies geschieht, wenn der Kelch des Kummers, den der Herr bis auf den Grund geleert hat, von Ihm auch andern zu trinken gegeben wird. Darum sagte Er zu den Aposteln, die zu Seiner Rechten und zu Seiner Linken sitzen wollten: Meinen Kelch werdet ihr trinken (Mt 20,23). Er lehrte sie, das Kreuz ist das Zeichen Seiner großen Liebe ihnen gegenüber. Das Unterpfand der ewigen Erbschaft wird sie zu Teilhabern an Seinem Kelch des Kummers machen. Die Apostel Petrus und Paulus erkannten diese Tugend aus dem Kelch des Kummers ganz und gar, als einer von ihnen sagte: Euch ist es im Blick auf Christus geschenkt worden, nicht allein an Ihn zu glauben, sondern auch für Ihn zu leiden (Phil 1,29). Und der andere schrieb: Freut euch, insoweit ihr der Leiden Christi teilhaftig seid, damit ihr euch auch in der Offenbarung Seiner Herrlichkeit jubelnd freut! Wenn ihr im Namen Christi geschmäht werdet: Glüsckselig seid ihr! Denn der Geist, der ein Geist der Herrlichkeit und Gottes ist, ruht auf euch (1 Petr 4,13–14). Dies ist die größte Ehre, die man haben kann in diesem Leben, und du, Stavrophila, solltest dich darob erfreuen.
Stavrophila: Du hast mich darin zurechtgewiesen, man sollte nichts aus Eitelkeit oder um des Lobes der Menschen willen tun, ja man sollte auf jegliche Weise sogar die Ehre von sich weisen, die an guten Werken hängt, selbst wenn wir nicht danach trachten. Doch wie vermag ich mich im Kreuze zu rühmen?
Wüstenvater: Es ist verboten, sich einer bevorstehenden Ehre zu rühmen, weil dies übel ist. Indes wird nicht jede Ehre verworfen: Wer sich rühmt, rühme sich des Herrn (2 Kor 10,17).
Stavrophila: Was heißt das, „sich des Herrn rühmen“?
Wüstenvater: Es besagt, sich selbst nicht in die Höhe zu heben, sondern auf Lob und Verherrlichung seitens Gottes zu warten und alles im Namen des Einen zu ertragen, Dessen Geschenk das Beharrungsvermögen selbst ist. Folglich wird aller Lobpreis Ihm gegeben, und alles wird auf Seine Verherrlichung und auf Seine Ehre ausgerichtet sein. Alle Herrlichkeit der Tochter des Königs ist inwendig (Ps 44,14), nicht äußerlich, nicht wie des Grases Blume (1 Petr 1,24). Sie kommt nicht von den Lippen der Menschen, sondern sie ist im Herrn. Denn der Herr ist der einzige Richter über das Gewissen. Ihm allein sollte man gefallen. Und Ihm zu gefallen ist die einzige und höchste Ehre. Wer Ihm gefällt, wird stets mit dem Sänger der Psalmen sagen: Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen gib die Ehre (Ps 113,9).
Stavrophila: Gott sei Dank, daß Er mich durch dich lenkt, nicht Lob für mich zu suchen, sondern für Ihn. Da das Kreuz ein Merkmal von Unehre und schändlicher Hinrichtung ist, kann Sich der Herr in der Tatsache verherrlichen, daß Er das Kreuz trug?
Wüstenvater: Er hat ja nicht nach Seinem Lob gesucht, und Er wollte nicht den Menschen gefallen. Allein wollte Er stets Gott damit verherrlichen. Immerhin solltest du wissen, Er trug das Kreuz als Merkmal Seiner Macht gemäß der Lehre des Propheten: Die Regentschaft wird auf Seinen Schultern sein (vgl. Jes 9,6). Das Merkmal von Christi Autorität und Herr-schermacht ist das Kreuz, denn mittels seiner hat der Vater Seinen Sohn erhöht. Und wie manche einen Heeresgürtel als Zeichen von Verdienst und andere einen Kranz tragen, ebenso hat der Herr das Kreuz getragen. Wenn du dies sorgsam bedenkst, wirst du erkennen, Er lenkt dich auf keine andere Weise als dadurch, das Kreuz zu tragen und Kummer auf dich zu nehmen. Wer sinnlich eingestellt ist, der ist Feind des Kreuzes (seliger Theophylakt, Zum 23. Kapitel des Lukas). Glaubst du, in der Tatsache, daß der Herr das Werkzeug Seiner Pein Selbst trug, liege etwa kein mystischer Sinn? Dies geschah so, auf daß das Holz des Kreuzes, welches der Retter als Siegeszeichen trug und auf dem Leib in unbesiegbarer Beharrlichkeit der Welt brachte, zum Szepter Seiner Herrschermacht wurde, welche alle Völker anbeten. Kraft Seines Beispiels bestärkt Er alle jene, die Ihm nachfolgen und denen Er zuruft: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und Mir nachfolgt, ist Meiner nicht wert (Mt 10,38). Kann man deshalb das Kreuz nicht in Dankbarkeit annehmen? Denn es wird ja verdankt durch den Einen, Der daran gekreuzigt wurde! Es gibt nichts Rühmlicheres, als Christi Schmach zu tragen (seliger Theophylakt, Zum 23. Kapitel des Lukas). Darum spricht Paulus: Ich will mich nur im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus rühmen (Gal 6,14). Und dies ist wahrlich die Stimme der Freude und der Rettung (hl. Leo, Homilie zum Leiden Christi).
Stavrophila: Es ist wahrlich eine große Ehre, das Kreuz zu tragen. Wie ein Kaiser in der Welt den einen mit Geschenken und den anderen durch Wohlwollen seine Gunst erweist, die ihm nahe sind, so schickt der Herr jenen Kreuze, die Ihm nahe sind, um zu offenbaren, wie viel sie Ihm gelten.
Wüstenvater: O wenn doch die Söhne der Welt, die weltlichen Ruhm und weltliche Ehren so brennend suchen und die auf Lüge und Torheit aus sind (Ps 39,6), dies nur begreifen würden. Für den Herrn das Kreuz zu tragen ist wahrhaftig rühmlicher, als Apostel, Lehrer oder Evangelist zu sein. Diese Unterscheidung steht höher als jegliche Herrschaft. Wer Gott liebt und aus ganzem Herzen danach trachtet, mit Ihm zu sein, der wird eilfertiger Fesseln und Kreuz zu tragen wählen, als im Himmel selbst zu sein. Ein Haupt ist so herrlich mit einer Krone von Edelsteinen nicht geschmückt, wie wenn es um Gottes willen mit Ketten und mit dem Kreuz beladen ist. Besser ist, um Gottes willen auf Erden zu leiden, als um Gottes willen gelobt zu werden (hl. Johannes Chrysostomos, Zum Epheserbrief, Kap. 8).
Stavrophila: Nicht alle erfassen dieses Wort, sondern nur die, denen es gegeben ist (Mt 19,11). Diese Wahrheit ist den Menschen unbegreiflich, sie ist nicht durch Fleisch und Blut geoffenbart, sondern durch Meinen Vater, Der im Himmel ist (Mt 16,17).
Wüstenvater: Du hast dies vor Weisen und Klugen verborgen, Unmündigen — jenen, die das Böse nicht kennen — aber offenbart (Lk 10,21). Was in seinen Augen unbedeu-tend, in den Augen Gottes aber großartig war, das begriff der Apostel Paulus, wenn er sagte: Sehr gerne will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne (2 Kor 12,9). Sodann vergleicht er sich mit andern und spricht: Sind sie Diener Christi? — Ich über die Maßen (2 Kor 11,23). Doch wie hat er sich dieses Vorrecht erworben? Hör aufmerksam zu: In Mühen umso mehr, in Todesgefahren oft. Von den Juden habe ich fünfmal vierzig Schläge weniger einen bekommen. Dreimal bin ich mit Ruten geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten und einen Tag und eine Nacht habe ich in Seenot zugebracht (2 Kor 11,23–25). Darin rühmt sich der Erwählte in Christus.
Stavrophila: Der Welt ist dies ja nicht völlig uneinsehbar. Haben denn nicht auch die Heiden gesagt: Große Werke zu vollbringen und großes Leiden zu erdulden ist nur den Römern vergönnt. Feuer läutert das Gold, Kummer läutert den Menschen; in Behaglichkeit ist kein Wert zu finden. Krieger werden berühmt wegen ihrer Verwundungen in der Schlacht, weil sie ihren Starkmut bei Gefahr zeigen. Generäle, die gefährliches Gelände verteidigen, schicken bewährte Krieger. Mentoren verlangen viel von jenen, die etwas erwarten lassen. Ebenso werden jenen große Kreuze gesandt, die auserwählt und Krieger Christi sind: Wer dazu berufen ist, wird ein solcher sich dann nicht im Herrn rühmen?
Wüstenvater: Wenn man sich in etwas rühmen sollte, dann soll es die Ehre aus der Beharrlichkeit um Gottes willen und aus der Suche nach dem Herrn sein. Nur dies und nichts anderes soll es sein. Wer wird mir denn die Kraft geben, die Stärke der Heiligen zu erlangen und mich in nichts zu rühmen, außer im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus? Mein Herr ist mein Ruhm. Er ist meine Herzensfreude. Ihn will ich rühmen und in Ihm will ich mich freuen. Wenn gerühmt werden muß, so will ich mich meiner Schwachheit rühmen (2 Kor 11,30). Sollen weltlich Gesonnene doch ihren Ruhm [im Austausch] gegenseitig annehmen. Doch ich will den Ruhm des Einen Gottes suchen. O mein Herr, Du bist der Einzige, der Barmherzige! Du bist mein Ruhm. Du bist mir alles. Nur Dir gebührt Ehre und Lob. Denn Du bist unsere Heiligung, unsere Kraft; Dir sei Dank auf ewig. Amen.

Über die Kreuzigung des Fleisches

Die Christus Jesus angehören, haben das Fleisch samt den Leidenschaften gekreuzigt (Gal 5,24)
Stavrophila nahm an, die Unterredung mit dem Einsiedler sei nun zu Ende und die Reise liege hinter ihr. Doch der Eremit sagte zu ihr: Bis jetzt bist du den Weg freudig gegangen. Vor dir steht aber noch ein schwierigerer Abschnitt als der erste.
Stavrophila: Welcher denn? Habe ich denn die Lehre vom Kreuz nicht erfüllt? Habe ich den Weg nicht durchschritten, wie er vor mir lag?
Wüstenvater: Du hast den Weg gemäß deiner Stärke durchmessen, den Bestimmungsort hast du aber noch nicht erreicht.
Stavrophila: Was braucht es noch dazu?
Wüstenvater: Dazu ist noch die Kreuzigung des Fleisches erforderlich. Christi Kreuzweg hat damit geendet, daß Er ans Kreuz genagelt wurde. Alles, was Er am Kreuz tat, bestand darin, jenen, die Ihm nachfolgen, den Weg zu zeigen, auf dem ihr irdisches Leben dem Kreuz entsprechen soll (seliger Augustinus, Handbuch, Kap. 51). Nicht alle Christen sind zur Kreuzigung bestimmt. Nur wenige Gotterwählte sind dessen würdig geworden. Andere haben um Christi willen anders im Martyrium den Tod angenommen. Die übrigen Gläubigen ahmen den Herrn nach, indem sie das Fleisch mit seinen Leidenschaften und Gelüsten kreuzigen. Sie verbleiben in der Gottesfurcht bis zur Zeit ihres Hinscheidens. Und du, Stavrophila, solltest es nicht ablehnen, um Christi willen zu sterben, wenn die Umstände es erfordern. Doch wird dies nicht verlangt, mußt du dich unnachgiebig der Abtötung der Leidenschaften und Gelüste des Fleisches widmen, ohne dich zu schonen. Wenn du aber nicht imstande bist, solcher Bestimmung zu folgen, wirst du keine Krone erlangen können. Trachte danach, wenn du zu Christus gehören willst!
Stavrophila: Ob ich zu Christus gehören will? Ich habe Ihm mein ganzes Leben hingegeben! Der Herr wird sich nicht entgegenstellen, daß ich zu Christus gehöre. Wer auch immer zu Ihm gehört, gehört nicht länger mehr einem andern. Es ist besser für mich, mein Dasein zu verlieren, als ohne Christus, den Retter, zu sein. Was bin ich ohne Ihn? Ein Zweig von einem Ast gerissen, ein Baum ohne Wurzeln, ein Leib ohne Seele. O nein, ich gehöre zu Christus. Auf Gott, den Herrn zu setzen ist mir gut (Ps 72,29).
Wüstenvater: Du sprichst, wie eine wahrhaftige Christin sprechen sollte. Doch wenn du aufrichtig erwünschst, wovon du sprichst, mußt du tun, was dich zu Christus gehören läßt.
Stavrophila: Doch was ist dies? Bereit bin ich und zögere nicht, Deine Gebote zu halten (Ps 118,60).
Wüstenvater: Wer Christus gehört, gehört nicht sich selbst.
Stavrophila: Was heißt das?
Wüstenvater: Hast du nicht gehört, was der Apsotel sagt? Die Christus Jesus angehören, haben das Fleisch samt den Leidenschaften gekreuzigt (Gal 5,24). Das heißt, wer sein Fleisch gekreuzigt hat, gehört wirklich Christus und nicht mehr sich selbst. Kann man sich sein eigen nennen, wenn man wie ein Gekreuzigter nicht mehr die Kraft hat, seine Glieder in die Richtung zu bewegen, wie es einem gefällt (hl. Cassian, Die Institutionen, Buch 4, Kap. 35)? Das Kreuz des Gläubigen muß darin bestehen, die fleischliche Lust niederzuhalten, wenn wir das Leiden des Gekreuzigten verherrlichen. Auf diesem Kreuz muß jeder Christ unverrückbar bleiben zeit seines irdischen Lebens, welches in Versuchungen zugebracht wird. Wer seinen Leib so nicht kreuzigt, gehört nicht zu Christus und hat Seinen Geist nicht in sich. Daraus, Stavrophila, besteht das Leben eines Christen in Frieden. Alle seine geistigen Regungen müßen sich mit der Wahrheit treffen. Dies nennt man Freude, geheiligte Liebe, rein und tugendhaft. Wenn aber der Verstand mit diesen Regungen armselig verfährt, peinigen und verstören sie die Seele und machen sie das Leben elend: Dann werden sie Verwirrung, Begierde und Lüsternheit genannt. Du wirst geheißen, dich inwendig in dir so sehr wie nur möglich zu keuzigen, unter Einsatz und mit Werken, bis dieses Vergängliche Unvergänglichkeit und bis dieses Sterbliche Unsterblichkeit anziehen wird (1 Kor 15,54; seliger Augustinus, Gegen die Ma-ni-chäer, Buch 1).
Stavrophila: Wie richtig wird doch das Fleisch, das die Seele schädigt, durch die Kreuzigung beurteilt! Das Fleisch ist verderblich, Freund dieser rasch vergänglichen Welt! Es ist dem himmlischen Leben Feind. Das Fleisch ist mein Freund und Feind, ein schmeichelnder Besucher und wie falsche Behaglichkeit. Das Fleisch erfreut sich unaufhörlich verbotener Frucht: Es ist Dreck, entehrende Kette, schweres Metall, unbezähmbares Tier, verrottende Materie: Es kämpft mit mir (hl. Gregor der Theologe, Über das Fleisch, Teil 5, S. 24, Moskauer Ausgabe). Ich widersetze mich nicht, daß das Fleisch gekreuzigt wird, weil es den Geist angreift: Tag für Tag mißbraucht es mich. Denn ich habe nach dem inneren Menschen Wohlgefallen am Gesetz Gottes. Aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Sinnes widerstreitet und mich in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes (Röm 7,22–25)?
Wüstenvater: Diese Befreiung kommt durch die Kreuzig-ung des Fleisches zustande. Das heißt, sofern du dich daran gewöhnst, deine weltlichen Glieder (Kol 3,5) abzutöten —, denn sie sind der Sitz der Lüsternheit und der Leidenschaft.
Stavrophila: Wenn Kreuzigung so nötig ist, möchte ich dies noch näher erklärt erhalten.
Wüstenvater: Hör zu: Es gibt zwei Arten Kreuze: ein äußeres und ein inneres. Das äußere besteht darin, sich Speise und Tranks zu enthalten und sich insgesamt gegenüber allen Reizen der Sinne zurückzunehmen: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen. Das andere Kreuz ist wertvoller und größer. Das innere Kreuz besteht darin, seine Gefühlsregungen zu überwachen und sie mit sanftem Herzen zu bezähmen: Es ist das innere Werk der Seele. Es ist das Zurückhalten eines wilden Tieres, die Dämmung von Ärger und Hochmut. Es ist das tägliche Ringen gegen deine Leidenschaften, indem du dich in strikter innerer Selbstprüfung lenkst und dabei mit deiner inneren Person denkst. Wer sündige Neigungen auf diese Weise unterdrückt, der weist seinen eigenen Willen zurück und unterwirft alle Wünsche der Autorität des Verstandes. So trägt er ein ehren-volles Kreuz vor Gottes Augen (seliger Augustinus, Über Heilige, Homilie 20).
Stavrophila: Jetzt begreife ich etwas besser, was Kreuzigung des Fleisches bedeutet. Doch denke ich, dies kann nicht ohne Nägel geschehen. Darum bitte ich dich, mir auch sie zu erklären.
Wüstenvater: Dies wissen zu wollen ist weise. Es gibt gei-stige Nägel, die das Fleisch ans Kreuz nageln. Sagt nicht der Prophetenkönig: Durchbohre mein Fleisch mit der Furcht vor Dir, denn ich fürchte mich vor Deinen Gerichten (Ps 118,120)? So soll das Fleisch mit der Gottesfurcht durchbohrt werden und sich Seinem Willen unterwerfen. Doch wenn man die Nägel der Gottesfurcht nicht verschmäht, sagt man rechtens: Mein Geist soll im Menschen nicht ewig mächtig sein, weil er Fleisch ist (Gen 6,3). Und wird das Fleisch so nicht ans Kreuz genagelt und von den Nägeln der Gottesfurcht durchbohrt, wird der Geist Gottes nicht darin sein. Wer damit genagelt wird, der wird getötet, damit er der Sünde tot ist, Gott aber lebendig. Auch die Liebe hat ihre Nägel: Liebe ist stark wie der Tod (Hld 8,6). Doch die Gewalt der Nägel soll dich nicht verängstigen! Denn darin kommt Liebe zum Ausdruck, die durchschlägt wie ein tödlicher Hieb. Laß die Seele durchbohren, laß das Fleisch mit diesen Nägeln der Liebe genagelt werden. Dann kannst du sagen: In bin durch und durch Liebe (hl. Ambrosius, Zu Psalm 119).
Stavrophila: Welch wunderbare Nägel, kraft deren wir die ersehnte Freiheit erlangen! Wohltuende Nägel, die das Fleisch vernichten, doch der Seele Wonne geben. Willkommene Nägel, die das Fleisch abtöten, doch den Geist verlebendigen. Aber welcher Hammer wird sie in mich treiben?
Wüstenvater: Gleicht Mein Wort … nicht einem Hammer, der Felsen zerschmettert (Jer 23,29)? Das Wort Gottes wird die Nägel der Gottesfurcht und der Liebe leicht in dich treiben. Und dank dessen wirst du dich nicht dem Unrecht zuwenden. Denn das Wort Gottes ist lebendig, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es ist durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, sowohl der Gelenke als auch des Markes, und ein Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens (Hebr 4,12).
Stavrophila: Wenn doch der Herr diese Nägel mit diesem Hammer nur in meinen Leib triebe, damit das Abbild Seines Todes darin dargestellt würde, auf daß meine Glieder nicht Werkzeuge der Ungerechtigkeit der Sünde werden (Röm 6,13)!

Über die Kreuzigung der Welt

Mir ist die Welt gekreuzigt und ich der Welt (Gal 6,14)
Wüstenvater: Dein Wunsch ist edel, Stavrophila. Doch nebst dem Fleisch gibt es noch etwas anderes zu kreuzigen.
Stavrophila: Was ist es? Sag es mir.
Wüstenvater: Die Welt und wofür sie steht. Der Herr Je-sus Christus wurde ans Kreuz erhoben: Kummer wird die Men-schen aus Palästina ergreifen, da erschraken die Fürsten Edoms; Zittern kam die Gewaltigen Moabs an (Ex 15,14–15). So werden auch die Teufel dich fürchten, wenn sie sehen, du bist der Welt gekreuzigt, dann kannst du wahrlich sagen: Mir ist die Welt gekreuzigt und ich der Welt (Gal 6,14). So muß der Christ sein. Immer sollte er diese Worte auf den Lippen haben. Was kann segensreicher sein als solche Gelassenheit? Sie ist die Grundlage eines Lebens in Segen (hl. Johannes Chrysostomos, Homilie über die Galater 6).
Stavrophila: Was heißt denn: Die Welt ist mir gekreuzigt und ich der Welt? Wie kann dies sein?
Wüstenvater: Du wirst der Welt gekreuzigt sein, wenn der Prinz der Welt kommt und nichts von sich in dir findet. Und die Welt wird dir gekreuzigt sein, wenn du keines seiner sündigen Verlangen annimmst. Die Liebe zum Kreuz des Herrn stützt das Leben. Doch die Liebe zur Welt ist der Tod. So ist es notwendig, daß du dich der Welt abtötest und daß die Welt dich abtötet (hl. Ambrosius, Galater, Kap. 6).
Stavrophila: Wenn doch die Welt mit all ihren Schikanen und all ihrem Verlangen in meinem Herzen nur welkte, so daß ich gekreuzigt und sie in mir vollständig abgetötet wäre, damit ich keine Begierden in ihr mehr habe, auf daß nichts in der Welt mich mit Wonne versieht und daß nichts Weltliches in mir wäre.
Wüstenvater: Wie sonst könnte die Welt in dir gekreuzigt werden als durch Ihn, Der die Welt ins Dasein brachte und für dich gekreuzigt wurde (seliger Augustinus, Über die heiligen Apostel). Ohne den Herrn kannst du nichts erreichen, doch mit Ihm ist alles möglich. Du kannst von der Hilfe in Gott abhängen und durch Gott. Der heilige Apostel hat dies zum Ausdruck gebracht, wenn er sagte: Mir ist die Welt gekreuzigt und ich der Welt (Gal 6,14). Siehst du, Stavrophila? Der Apostel sagt: Ich der Welt. Paulus war nicht imstande, dies selbst zu erreichen, sondern nur durch den Herrn Jesus Christus.
Stavrophila: Mit der Hilfe aus Gottes Segen will auch ich jetzt sagen: Die Welt ist mir gekreuzigt. Alles, was die Welt liebt — Genüsse des Fleisches, Ehren, Reichtum, flüchtiges menschliches Lob —, dies alles ist mir lästig. Die Welt wird in mir gekreuzigt. Ich will sie für tot nehmen. Ich liebe sie nicht, weil ich weiß, ihre Erscheinung wird sich verändern. Ich ersehne sie nicht, denn ich weiß, sie wird untergehen im Verderben. Darum renne ich vor der Welt davon wie vor Gestank. Ich schütze mich wie vor Schlamm und fürchte sie wie Dreck.
Wüstenvater: Das ist gut, doch noch immer nicht alles. Du mußt größere Fortschritte machen, so daß nicht nur die Welt in dir gekreuzigt ist, sondern auch du der Welt gekreuzigt bist. Was aber besagt dies? Richte dich darauf aus, so zu werden, daß die Welt dich für tot erachtet. Und selbst wenn du das Lob der Welt suchtest, würde die Welt dich nicht lieben und nicht nach dir suchen. Die Welt würde dich verachten, als ob du nicht zu ihr gehörtest. Oft geschieht es, wenn jemand die Welt nicht im Sinn behält, daß dann die Welt mit ihren weltlichen Angelegenheiten ihn an sie bindet. Für einen solchen ist die Welt schon zum Teil tot, doch er selbst ist der Welt noch nicht vollständig abgetötet. Denn selbst wenn er nach dem Himmlischen trachtet, ist er in ihre Angelegenheiten verstrickt, weil er immer noch für die Welt lebt. Der Apostel legt dies offen, wenn er sagt: Sofern ihr mit Christus den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerft ihr euch Satzungen, als lebtet ihr noch in dieser Welt (Kol 2,20)? Wenn man der Welt gestorben ist, weshalb soll man sich in die Angelegenheiten der Welt verstricken? Ist die Welt in deinem Herzen tot, dann überlaß sie den Toten dieser Welt. Im Gegensatz dazu, was die Welt als Kreuz erachtet, dem solltest du dich widmen. Nagle und binde dich ans Kreuz und nimm es in all deinen Absichten an.
Stavrophila: Das ist ein hochstehender Zustand und eines Apostels würdig. Ich glaube, dies meinte der Apostel Paulus, wenn er sagte: Wie Unrat der Welt sind wir geworden, ein Abschaum aller bis jetzt (1 Kor 4,13). In der Meinung der Welt war der Apostel so, daß er sich unnötigen Drecks entledigte, indem er sich der Welt entledigte. Zum Vorteil des Menschen ist die Welt unnütz, sie ist vollständig überflüssig wie Staub, den alle mit Füßen treten.
Wüstenvater: Ja, so ist es! Nicht nur die Apostel, sondern auch alle, die Gott dienen wollen, werden von der Welt verachtet und gehasst. Von alters her wurde das Stöhnen der Sklaven Gottes gehört: Erbarme Dich unser, o Herr, erbarme Dich unser, denn wir sind übervoll von Verachtung (Ps 122,3). Um Seine treuen Sklaven zu bestärken, sagte ihnen der Herr Jesus Christus, als Er aus dieser Welt aufbrach, um mit Seinem Vater zu sein: Wenn die Welt euch hasst, so bedenkt, daß sie Mich schon vor euch gehasst hat. Gehörtet ihr zur Welt, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben. Weil ihr aber nicht zur Welt gehört, sondern weil Ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt (Joh 15,18–19).
Stavrophila: Welche Gnade, diese streitsüchtige Welt in vol-lem Ekel zu verachten, welche die Auserwählten Gottes hasst. Wie süß ist es doch, die Welt in sich zu kreuzigen und sich durch die Welt kreuzigen zu lassen. Ich bitte dich, mir den höchsten Anreiz für eine solche Kreuzigung zu eröffnen, damit ich mich dadurch anregen lasse, daß mein Verlangen erfüllt wird und ich imstande bin, dies zu erreichen.
Wüstenvater: Dementsprechend wie du geistig imstande bist, die Weisheit Gottes zu begreifen, durch die alles geschaffen ist, wirst du auch fähig sein, dich gegenüber der fleischlichen Lust zurückzunehmen. Erachtest du die Welt als tot für dich, bist auch du der Welt tot. Dann kannst du sagen: Diese Welt ist mir tot und ich der Welt. Denn niemand, der Gottes Weisheit versteht, kann für die Welt leben. Dies ist die Sicht, welche jede vernünftige Seele gefangen nimmt: sich nach göttlichem Verlangen zu sehnen. Dementsprechend wie die Seele Reinheit erlangt, wie sie darin wächst, was geistig ist, und sich darin erhebt, so wird sie dem gegenüber tot sein, was fleischlich ist (seliger Augustinus, Über die heilige Dreifaltigkeit, Kap. 2). Was ich gesagt habe, sollte genügen als Bestärkung, so daß du die Welt für dich nicht als passend erachtest und daß du nichts in ihr suchst.
Stavrophila: Ja, so ist es! In der Welt gibt es nichts, was mir gefällt. Sie ließ mich, und ich ließ sie. Alles, was sie mir geben kann, wenn sie will, wird mir keine Freude bringen. Und wenn etwas Weltliches angenommen werden soll, wird es mich nicht stören. Mein einziger Wunsch besteht darin, Gott anzuhängen und mich mit Ihm eins zu werden.

Über die Kreuzigung zusammen mit Christus

Damit ich Gott lebe bin ich mit Christus gekreuzigt (Gal 2,19)
Stavrophila fuhr in der Unterhaltung mit dem Eremiten fort und sagte: Von ganzem Herzen wünsche ich mir, mit dem Herrn eins zu sein. Meine Seufzer gehen hin zu Ihm. Weshalb, sag es mir, bin ich bis jetzt nicht imstande, das zu erlangen, was ich mir wünsche? In der Nacht auf meinem Lager suche ich dich, den meine Seele liebt. Ihn suchte ich, doch ich fand ihn nicht (Hld 3,1). Warum ist das so? Wie lange werde ich nicht fähig sein, mich an Ihn zu hängen und eins mit Ihm zu sein?
Wüstenvater: Weil du den Herrn nicht dort suchst, wo du Ihn suchen solltest. Du suchst Gott in der Behaglichkeit: nämlich auf dem breiten Weg des Lebens unter Garantien. Doch Er weilt nicht in der Welt mit denen, die im Vergnügen leben. Du suchst Ihn auf dem Markt und in der Stadt. Du suchst Ihn in der Welt, doch Er ist nicht von dieser Welt (Joh 8,23). Hast du dein Fleisch gekreuzigt mit seiner Pein und mit seiner Lüsternheit, wenn die Welt dir schon gekreuzigt ist und du der Welt gekreuzigt bist, dann such nicht mehr als das, was dem Herrn gefällt. Steig auf den Berg der Myrrhe, erklimm Golgotha! Dort wirst du Gottes Lager finden, wo Er liegt und wo Er am Mittag in Seiner Liebe ruht! Dort wirst du Salomons Lager finden, erstellt aus dem Holz des Libanon, Sein Kreuz, die höchste der Zedern auf der Welt. Dort wirst du die Pfosten aus Silber finden und die Nägel, die Ihn an Sein Kreuz hefteten. Dort wirst du den Grund aus Gold finden und die Decke aus dem Purpur seines göttlichen Wesens (Hld 3,9–10). Denn das Kreuz des Herrn war schön und aus edlem Holz gemacht, geschmückt mit dem Königstitel im Purpurmantel. Dort wirst du seine Mitte mit Liebe bedeckt erblicken um der Töchter Jerusalems willen. Denn Er Selbst hat die Mitte des Kreuzes belegt, als Er gekreuzigt wurde wegen der kraftvollen Liebe, als Er Sich Selbst als Opfer hingab, aufgezehrt vom Feuer göttlicher Liebe, um die Töchter Jerusalems an Sich zu ziehen, damit sie Ihn lieben und Seinem Beispiel nachfolgen. So solltest auch du, Stavrophila, jene Hügel erklimmen, wenn du mit Christus eins sein willst. Folge Seinem Beispiel. Er wurde für dich ans Kreuz erhoben, damit du in Edelmut nicht nur höher als du selbst gehoben werden könnest, sondern höher als die ganze Welt, auf daß du das Übel der Welt sehest, wie es in der Schrift steht: Sehen werden sie ein weithin offenes Land (Jes 33,17).
Stavrophila: Das erwünsche ich mir von ganzem Herzen. Doch ich bitte dich, lehre mich, wie ich zum Kreuz erhoben werden kann, nicht nur im Leibe, sondern auch geistig.
Wüstenvater: Dies geschieht durch Kummer und Leiden, wenn man über die weltlichen Angelegenheiten hinaus erhoben wird. Wenn die Prüfungen, die den Leib wie Nägel bedrängen, dankbar angenommen werden im Wissen, daß sie die Süße des Lebens im Segen bringen.
Stavrophila: Wenn ich doch auch mit dem Herrn gekreuzigt würde, so könnte ich mich der ewigen Rettung erfreuen.
Wüstenvater: Wünschst du dir dies, gib Acht auf meine Worte. Bedenk jene, die am Kreuz gekreuzigt wurden. Ermiß, wie jemand, der zur Kreuzigung verurteilt ist, sich von jenen unterscheidet, deren er sich einst annahm; bedenk, wie er über jene erhoben wird, die immer noch auf Erden kauern. Wer zusammen mit dem Herrn Jesus Christus gekreuzigt wird, der nimmt sich von allen zurück, die auf Erden ein irdisches Leben leben. Er erhöht sich, indem er seine Gedanken zum himmlischen Leben erhebt und beherzt sagen kann: Unser Leben ist im Himmel! Wer ans Holz des Kreuzes genagelt ist, der achtet nicht mehr auf die Gegenwart, er besinnt sich nicht mehr auf sein Liebstes, er läßt sich nicht durch Kummer und Sorgen verstören, er läßt sich nicht durch das Verlangen nach Hab und Gut verletzen, er läßt sich nicht von Stolz, Anmaßung oder Neid gefangen nehmen, er läßt sich nicht durch Beleidigungen quälen, er denkt nicht an die Vergangenheit zurück und obschon noch Atem in seinem Leib ist, erachtet er sich gegenüber allem Sichtbaren für tot, weil er das Begehren seines Herzens dorthin voranschickt, wohin er auch selbst bald hinübergelangen wird. So sollst auch du dich in Gottesfurcht und Gottesliebe kreuzigen lassen und nicht nur gegenüber den fleischlichen Leidenschaften tot sein, sondern gegenüber allem Irdischen. Du sollst das Auge deines Verstandes vollständig dorthin wenden, wo zu sein du dir in jedem Augenblick erhoffst (hl. Cassian, Buch 4, Kap. 35).
Stavrophila: Denn was hab ich im Himmel und was lieb ich auf Erden außer Dir (Ps 72,25). Ich liebe den gekreuzigten Retter. Ich liebe Seine Liebe, aufgrund deren Er Sich ans Kreuz nageln ließ, ich halte mich an Ihn und Seine Liebe. Wenn ich dessen nur würdig bin! Meine Liebe läßt sich nicht sättigen, bis ich selbst mit den Nägeln der Liebe an Seine Liebe genagelt bin, so daß keine Macht und kein Schwanken mich von Ihm trennen kann.
Wüstenvater: Jetzt hast du die Wahrheit erlangt. Segens-reich sind deine Wünsche. Nicht Fleisch und Blut haben dir dies offenbart, sondern mein Vater im Himmel (Mt 16,17). Von diesem Geist erfüllt hat der Apostel Paulus gesagt: Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir (Gal 2,20). Sieh doch, wie göttliche Liebe jemanden zu großer Freude bringt. Sie verändert den ganzen Anblick der Geliebten, sie bestärkt in ihm die wahrhaftige Liebe, statt ihn der Anmaßung zu übergeben (Dionysius Aeropagita, Die göttlichen Namen, Kap. 4). Christus der Herr hatte so große Liebe, daß Er Sich Selbst entleerte und Knechtsgestalt annahm (Phil 2,7) und dann für den Menschen gekreuzigt wurde. Als der hl. Paulus in der Entrückung in göttlicher Liebe entbrannte, wurde er zum Teilhaber der göttlichen Liebe und konnte sagen: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Bedenke, wie vollkommen sein Leben war, und du wirst darüber staunen, wie gesegnet seine Seele war. Er übergab sich selbst ganz dem Kreuz und dem Herrn und tat alles nach Seinem Willen, ohne dabei zu sagen: Ich lebe für Christus, sondern: Christus lebt in mir, was noch höher ist (hl. Johannes Chrysostomos, Galater, Kap. 2).
Stavrophila: Ich bin erstaunt, daß er sagt: Nicht ich lebe mehr, sondern Christus lebt in mir. Das widerspricht sich doch: Ich lebe, und ich lebe nicht?
Wüstenvater: Du findest dies unsäglich, wenn er sagt: Nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Ein vom Baum geschnittener Ast, der einem andern Zweig aufgepfropft wird, ist dem ersten Baum vollständig tot. Doch jetzt lebt er im zweiten, dem er aufgepfropft ist, weil er neues Leben und neue Kraft erhält. Ebenso vertraut er sich selbst dem Herrn an und ist dem Holz des Kreuzes aufgepfropft, damit er seinem früheren, weltlichen Leben stirbt und von Christus ein neues Leben, neue Kraft und Tugend erhält, nur von Ihm. So war es mit dem hl. Paulus. Er lebte nicht mehr sich selbst, sondern in Christus, und Christus lebte in ihm. Denn wer der Welt gestorben ist, der weilt in Liebe. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Im Dasein des hl. Paulus gab es weder Lust noch seinen eigenen Willen mehr. In ihm lebte nur Jesus, der Herr. Er gab Ihm durch Seinen Segen die Kraft, bestärkte ihn und spornte ihn zu guten Werken an.
Stavrophila: Wie herrlich dies ist! Wie gesegnet würde ich mich erachten, wenn ich Gottes Segensgabe würdig wäre. Dies ist mein äußerster Wunsch. Dies ist meiner Seele brennendes Verlangen!
Stavrophila rief zum Herrn aus: O Du Lebensbaum, Du Stock der Wahrheit, pfropfe mich Dir auf, damit ich mir sterbe und in Dir lebe! Durchsteche mich mit den Nägeln der Gottesfurcht und mit Deiner Liebe. Vereine mich mit Dir durch Dein Kreuz in einer unauflöslichen und unzerstörbaren Einheit. Süß ist es mir, mit dir im Kreuz zu leben, süß ist es zu sterben. Laß Dich dazu herab, o Herr, mir dies zu gewähren. Denn Du hast mir das herabgesandt, was entfliehen wollte. Du hast mich überzeugt, als ich abweisend war. Du hast mich Unwillige an Dich gezogen. O himmlischer Bräutigam, Du hast Dir die Seelen mit Deinem Blut angelobt! Früher fürchtete ich mich vor dem Leiden, jetzt aber nährt mich das Leiden, und die Kreuzigung ist süß: Das Leben ist Christus und das Sterben Gewinn (Phil 1,21). Denn selbst wenn ich sterbe, werde ich nicht tot sein, weil ich Dich in mir habe (hl. Johannes Chrysostomos, Philipper). Meine Seele hat sich dem Tod überantwortet in der Kreuzigung, nicht um zu sterben, sondern um zu leben. Wie kann ich denn sterben, wenn ich dem Einen vereint bin, Der für mich gekreuzigt ward, Der mein Leben ist? Welche Macht kann der Tod über mich haben, wenn er abgetötet wurde, zumal unser Leben — Christus — am Kreuz den Tode verkostete? O Tod, wo ist dein Stachel? O Hölle, wo ist dein Sieg (1 Kor 15,55)? Ich habe keine Angst davor, denn der Tod ist getötet.
Du Leben meiner Seele, Du Seele meines Lebens! Wenn du den Tod verkostet hast, so bin ich bereit, mit Dir zu sterben. Wenn du herabgestiegen bist, um gekreuzigt zu werden, dann gib auch mir die Kraft, mit Dir gekreuzigt zu werden. Du mein einziger Segen, Du ewige Wahrheit, mein Jesus! Laß mich in Deiner Wahrheit mit Dir vereint sein, so bin ich Dir auf immer unzertrennlich. Laß mich sterben, so auferstehe ich von den Toten und lebe mit Dir ein neues, gesegnetes Leben.
Wüstenvater: Frohlocke, du Taube Christi! Hab die feste Hoffnung, du wirst den himmlischen Unterstand erreichen, um die Krone der Duldsamkeit zu erlangen. Wer mit Christus leidet, wird auch mit Ihm verherrlicht werden. Wer mit Ihm stirbt, wird mit Ihm von den Toten auferstehen. Er wird unter die Erben Gottes zählen und unter jenen weilen, die Ihm ins himmlische Königreich folgen. Er erniedrigte Sich Selbst und wurde gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuze. Darum hat Gott Ihn auch hoch erhoben und Ihm den Namen verliehen, der über jedem Namen ist (Phil 2,8–9). So wird Gott all jene hoch erheben, die mit dem Herrn leiden und die Weise Seines Leidens nachahmen.

Das Kreuz eint uns mit Christus, es macht uns wie Er

Ich bin bei ihm in der Trübsal (Ps 90,15)
Stavrophila sah sich den freundlichen Worten des Einsied-lers gegenüber. Da wollte sie noch mehr über die segensreichen Früchte des Kreuzes von seinen Lippen vernehmen.
Stavrophila: Ich bitte dich, mir die weiteren Vorteile des Kreuzes zu erläutern, damit ich das Kreuz begieriger trage, wenn ich davon gehört habe.
Wüstenvater: Die beste und leuchtendste Frucht des Kreu-zes ist vom Psalmisten aufgezeigt worden, und zwar mit den Worten: Nah ist der Herr denen, die bedrängten Herzens sind (Ps 33,19). Und an einer andern Stelle spricht Gott Selbst mit Seinen Lippen: Ich bin bei ihm in der Trübsal, ich reiß ihn heraus und bring ihn zu Ehren (Ps 90,15). Was ist höher und stärker gesucht, als in Gottes Gegenwart zu sein und in der Trübsal Seine Unterstützung zu erhalten? Gerade darum hat der gleiche Prophetenkönig sich in Pose geworfen, indem er sehr passend zu Gott sagte: Denn wenn ich auch wandle in Todesschatten, so will ich nichts Übles fürchten, weil Du bei mir bist (Ps 22,4).
Wie kann man sich vor dem Bösen fürchten, wenn man doch mit der endgültigen Güte zusammen ist? Wenn Gott für uns ist, wer ist gegen uns (Röm 8,31)? Schau, wie der keusche Joseph, der doch Gottes besonderer Unterstützung würdig war, in ein Loch geworfen, in die Sklaverei verkauft und in Ketten gelegt wurde. Die ewige Weisheit hat ihn nicht im Stich gelassen. Sie bewahrte ihn vor Sünde und gab ihm einen Stock der Königswürde. Siehst du jetzt, was die Worte bedeuten: Ich bin bei ihm in der Trübsal? Es ist, als ob Gott sagte: Ich habe Kummer in der Sorge, welche Meine ist. In Zeiten der Trübsal bin Ich bei ihm, und auch Er ist unzertrennlich bei Mir.
Stavrophila: Erlaube mir, dir jenen Zweifel zu unterbreiten, der dabei in den Sinn kommt. Ich befürchte, deine Lehre kommt jenen nicht zupass, denen Unrecht geschieht, die im Unglück sind und die sich oft beklagen, vergessen, gottverlassen und hilflos zu sein. Selbst der Psalmist hat ja ausgerufen: Gott, mein Gott, schau auf mich; warum hast Du mich verlassen (Ps 21,1)? Verlaß mich nicht, Herr. Mein Gott, weiche nicht von mir (Ps 37,22). Wie lange noch, Herr, wirst Du mich so ganz vergessen? Wie lange wendest Du Dein Angesicht von mir (Ps 12,1)? Warum vergißt Du unsere Armut und unsere Trübsal (Ps 43,25)? Wer wird glauben, Gott sei jemandem nahe, der sich so beklagt, verlassen zu sein?
Wüstenvater: Den Kummerbeladenen bleibt Gott nahe. Er hat Mitleid mit ihnen, doch Er offenbart Seine Gegenwart nicht immer. Bisweilen hört Er jenen, der in Trübsal ist, im Dunkel des Wetters (Ps 80,8), wo Er verborgen ist. Dann verbirgt Er sich einstweilen, um den Gerechten auf die Probe zu stellen. Er steht hinter der Wand unseres Hauses, Er schaut zu den Fenstern herein und späht durch die Gitter (Hld 2,9). Dort beobachtet Er, wie der verlassene Soldat sich auf seinem Schlachtfeld bewährt. Als der Wüstenvater Antonius der Große unter den Angriffen der Dämonen zu leiden hatte, wurde er von ihnen geschlagen und schrecklich verletzt. Während des Kampfes dachte er, der Herr habe ihn verlassen und aufgegeben. Als er die Helligkeit eines himmlischen Lichts erblickte und diese als Erscheinung des Herrn verstand, da rief er unter vielen Seufzern aus tiefstem Herzen aus: Wo warst Du denn, tapferster Christus? Warum kamst Du denn nicht zu Beginn, um meine Wunden zu heilen? Da hörte er die Antwort einer Stimme: Antonius, Ich war hier. Doch Ich wartete, um deinen Mut zu sehen. So ist der Herr mit den Kummerbeladenen, auch wenn Er Sich Selbst nicht zeigt. Aus dem Unglück selbst kann man Gottes Gegenwart erkennen. Denn wer könnte ohne Ihn bestehen, wer könnte widerstehen, wer wäre imstande, Trübsal zu ertragen?
Stavrophila: Wenn Gott in Schwierigkeiten mit mir ist, was soll ich da noch mehr suchen als Ihn? Denn siehe, die sich weit von Dir machen, kommen um … Mir aber ist Gott nah zu sein gut (Ps 72,27.28). Welches Unglück werden jene haben, die nicht mit dem Einen sind, ohne Den sie nicht bestehen können!
Wüstenvater: Ohne Zweifel ist es so. Soll ich dir noch ein weiteres Beispiel geben? Hiob hat alles verloren, das Gott ihm gegeben hatte. Doch er hatte Gott, Der alles gibt. Wie wurde doch dieser Mann gebrochen, wie stank er doch vor Eiter, wie war er verwundet und einst gesund! Als er alles verloren hatte, war er dennoch reich, weil er Gott hatte, und in Ihm besaß er alles.
Stavrophila: Wenn Gott mit mir ist, dann ist es besser für mich, im Kummer zu bleiben, als ohne Ihn fröhlich zu sein und ohne Ihn berühmt zu werden. Es ist besser für mich, zusammen mit Ihm im Kummer zu bleiben und Ihn im Feuer mit mir zu haben, als ohne Ihn im Himmel zu sein: Denn was hab ich im Himmel und was lieb ich auf Erden außer Dir (Ps 72,25)?
Wüstenvater: Jetzt hast du einen rechten Begriff davon, wenn du verstehst, Kreuz und Kummer einen die Seele mit Gott. Wie der Ring das Zeichen des Verlöbnisses ist, so ist das körperliche oder geistige Leiden, die um Gottes willen geduldig ertragen werden, ein wahrhaftiges Zeichen dafür, von Gott erwählt zu sein. Es ist, als ob das Leiden die Seele Gott verlobte. Gott ist dem Menschengeschlecht stets wohl gesonnen, doch zuweilen findet Er nichts im Menschen, was Seiner Barmherzigkeit würdig ist. Deshalb weist Er körperliches oder geistiges Leiden zu, um den Menschen Grund zu geben, Gott anzurufen. Denn die Heilige Schrift sagt ganz entschieden: Nah ist der Herr denen, die bedrängten Herzens sind (Ps 33,19). Und der Herr Selbst spricht: Er ruft zu mir, und ich erhöre ihn. Ich bin bei ihm in der Trübsal, ich reiß ihn heraus und bring ihn zu Ehren (Ps 90,15).
Stavrophila: Welch gnädige Barmherzigkeit Gottes! Wer kann da glauben, daß der Mensch — jener Wurm — durch Gottes Lobpreis so geehrt wird. Denn als ob Er Seine Geliebte suchte, bekennt der Herr: Ich hatte meine Freude mit den Menschen-kindern (Spr 8,31). O Herr, was ist der Mensch, daß Du ihn so hoch achtest und daß Du Dein Herz auf ihn setzest (Hiob 7,17)? Wie groß ist Deine Liebe gegenüber dem Menschen, daß Du ihm Kreuz und Trübsal geschickt hast, damit Du dadurch bei ihm bleibest und Dich mit ihm vereinigest? Welch wunderbares Geheimnis! Verhasst den Weisen dieser Zeit ist das Kreuz Wesen und Ring der Verlobung mit Gott. O wahrhaftiges Kreuz! Wie ist doch dein Wert vor jenen verborgen, die sich der Philosophie des Irdischen hingeben.
Stavrophila entflammte bei diesen Worten im Geiste und hüll-te sich in große Liebe zu Christus, dem Herrn, und zum Kreuz.
Um ihren Eifer noch mehr anzuspornen, sprach der Einsiedler: Es gibt noch etwas anderes im Kreuz, was Gottes Liebe zu den Menschen und die Liebe der Menschen Gott gegenüber aufrecht erhalten und mehren kann. Einklang und Einstimmigkeit unter den Menschen in ihren Gebräuchen ziehen sie zu gegenseitiger Liebe hin. Der Herr Jesus Christus ließ Sich von solcher Liebe entflammen gegenüber dem Menschengeschlecht: Er war in Gestalt Gottes und hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein. Aber Er machte Sich zu nichts und nahm Knechtsgestalt an (Phil 2,6–7). Was denkst du, weshalb hat Er dies getan? Ein Grund dafür war, daß Er imstande war, in den Menschen die Liebe zu erwecken, indem Er Sich in die gleiche Stellung wie sie brachte, um sie an Sich zu ziehen. Sag mir nun, welches Entgelt muß der Mensch dafür aufbringen? Muß er sich da nicht glühend dem Herrn gleich zu machen versuchen, so sehr er kann? Müßte Er nicht Sein Leben nachzuahmen und Seinen Fußstapfen nachzufolgen versuchen? Hat etwa nicht der himmlische Vater darum gesagt: Denn die Er vorher erkannt hat, die hat Er auch vorherbestimmt, dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu sein (Röm 8,29).
Stavrophila: Doch wie können wir dem Bild unseres Retters gleich werden?
Wüstenvater: Wenn wir in unserem Leben und in unserem Charakter offenbaren, wir eifern dem Leben des Retters nach. Wenn wir allerhand Verleumdungen und Erniedrigungen ertragen, wenn wir unter Bedürftigkeit — ja unter dem Tod selbst — leiden, dann wirst du dem Retter gleich geworden sein. Wie Er das Kreuz um deinetwillen annahm und daran starb, so solltest auch du tun, was Er für dich tat, indem du daran teilnimmst, das Kreuz zu tragen. Wie der Apostel sagt, heißt dies: Insoweit ihr der Leiden Christi teilhaftig seid (1 Petr 4,13). Wer das Leiden des Kreuzes erduldet, bindet sich wahrhaftig an die Leiden des Retters. Denn jedes Kreuz und jedes Leiden offenbart das Bild der Leiden des Herrn. Und dadurch kann der Mensch in vollständige Verbindung mit dem Einen treten, Der um seinetwillen gelitten hat. Niemand verspürt die Leiden Christi tiefer als jener, der etwas Ähnliches erduldet hat.
Stavrophila: Wer kann aussprechen die Großtaten des Herrn (Ps 105,2)? Wer kann über die wunderbare Weisheit von Gottes Liebe sprechen? Es ist eine große Ehre für den Krieger, die Waffen des Kaisers zu tragen. Der Braut gefällt es, in allem ihren Bräutigam nachzuahmen. Und für mich gibt es keinen größeren Lohn als Selbstentsagung und mein Kreuz in den Fußstapfen des Herrn zu tragen. Es ist mir keine Schande, das Kreuz zu tragen. Im Gegenteil will ich mich im Kreuz rühmen als einem Zeichen, das mich unter die Ränge der Krieger Christi stellt.
Wüstenvater: Dieses Lob wird nicht vergebens sein. Wer das Kreuz geduldig trägt, gleicht nicht nur dem Herrn, sondern der Herr Selbst leidet in ihm, indem Er mit ihm vereint ist. Wenn Er die Gläubigen mit Sich vereint, so nimmt Er alles auf Sich, was in einem jeden geschieht. Darum hat Er zu Saul gesagt, der damals die Kirche noch verfolgte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich (Apg 9,4)? Und am letzten Tag wird Er beim Gericht zu den Unbarmherzigen sagen: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch Mir nicht getan (Mt 25,45). So leidet Er Selbst in jedem Teil Seines Leibes, in jedem Gläubigen und gibt ihnen Kraft und Hilfe, damit es ihnen leichter fällt, das Kreuz zu tragen, weil sie den Herrn als ihre Stütze haben.
Stavrophila: Wer zum klugen Schluß kommt, der Herr ist jenen nahe, die in Trübsal sind, und der Herr leidet mit den Leidenden,der ist Christus durch das Kreuz verlobt. Das Kreuz wird ihm nicht qualvoll sein. Und ohne Zweifel wird er das Kreuz aus ganzem Herzen und in tiefer Liebe ersehnen. Nur einem Herz, das nicht liebt, schmecken Schwierigkeiten bitter und sind sie unangenehm zu ertragen. Doch einem liebenden Herz sind sie süß und trostreich. Bisweilen wird jemand so fest entschlossen im Wunsch, für den Gekreuzigten zu leiden, daß er sich erwünscht, im längst möglichen Leben aus Liebe zu dem Einen zu leiden, Der für uns gelitten hat, um Qual, Schwäche, Verleumdung, Unglück und andere Trübsal zu ertragen. Er erwünscht sich im Gegenteil kein Leben ohne Schwierigkeiten und Leiden, weil er glaubt, er gefällt Gott mehr, je größeres und je mehr Leiden er um Seinetwillen erträgt.
Wüstenvater: Nun kannst du in keinem Zweifel mehr sein, daß Gott in Seiner Liebe uns Kreuze schickt. Denn du nimmst ihre tröstende Wohltat wahr, welche die Liebe zu Gott ja schafft.

Das Kreuz ist ein verlässlicher Schutz für jene, die auf dem Meer des Lebens der Kirche segeln

Auf See hatte sie Trübsal erfahren und ist Stavrophila nahe-zu er-trunken. Danach hatte sie sogar Angst davor, an den Strand zu gehen. Der Einsiedler wollte ihr noch einige nützliche Unterweisungen geben und brachte sie ans Meer. Dort war von weitem ein großes Schiff zu sehen. Da fuhr der Eremit in der Unterhaltung fort: Wie du sehen kannst, Stavrophila, ist die See ein Bild für die Welt: Stürme, Winde und Wogen stehen für die Versuchungen, das Ungeschick und die Trübsal, wie sie die Menschen in diesem hiesigen Leben erfahren. Die gefährlichen Wirbel stehen für die falschen Lehrer, die Verführer und die Lästerer gegenüber der Kirche. Riffe unter Wasser sind die Mächtigen dieser Welt, die mit Tod und Desaster drohen. Die Wirbelwinde auf offener See sind des Menschen geschäftiger Stolz, wie er sich hoch in den Himmel erhebt, um dann in den Abgrund zu stürzen.
Ohne Schiff kann man nicht auf dem Meer segeln. Das Schiff steht für die eine, heilige, allumfassende und apostolische Kir-che. Kapitän über dieses geistige Schiff ist der allmächtige Gott, der Vater Selbst. Der Steuermann ist Sein einzig gezeugter Sohn. Die linde Brise ist der Heilige Geist. Schiffsleute aus der zweiten Reihe sind die Apostel in der Kirche, aber auch ihre Nachfolger, die Priester und die Kirchenlehrer. Die Reisenden auf dem Segelschiff sind alle rechtgläubigen Christen. Kiel und Rumpf des Schiffes ist der rechte Glaube an die Heilige Dreifaltigkeit. Die Flanken des Schiffes, sein Bug und sein Heck stehen für die Dogmata, für die Gebote Gottes, für die Überlieferungen der Kirche, für die apostolischen Regeln, für die ökumenischen Konzilien, ja im allgemeinen für die Entscheidungen der Kirche. Der Mast ist das heilige Kreuz, kraft dessen alle in der Kirche bestärkt und bestätigt werden. Die Segel sind die Liebe, der Anker ist die Hoffnung. Dieses geistige Schiff der Kirche bringt alle wahrhaftigen orthodoxen Christen aus allerhand Ländern über das Lebensmeer ins himmlische Jerusalem hinüber. Selbst wenn es vielen Stürmen und Wogen unterworfen wird, erleidet es doch nie Schiffbruch. Einerlei, wie viele Feinde und Verfolger sich gegen die heilige Kirche erheben, sie wird nicht überwunden werden, wie dies der Herr Selbst bestätigt: Ich werde Meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen (Mt 16,18).
Stavrophila: Was wird mit jenen geschehen, die sich von der einen, wahrhaftigen Kirche absondern und keine Gemeinschaft mit ihr haben wollen?
Wüstenvater: Sie sind jenen ähnlich, die in kleinen Booten über den großen Ozean segeln wollen und dann in den Wogen ihrer Verblendung ertrinken, oder sie fallen in die Hände der körperlosen Räuber.
Stavrophila: Werden alle gerettet, die auf dem Schiff der Kirche reisen?
Wüstenvater: Nur jene Christen, die ihren rechten Glauben in Verbindung mit guten Werken bringen, indem sie die Gebote des Herrn erfüllen, werden die Reise heil überstehen und das Königreich des Himmels erreichen. Doch auch wenn sie die Gebote bisweilen übertreten und sie brechen, trachten sie danach, ihre Fehler und Übertretungen auszumerzen in ehrlicher Reue und durch aufrichtige Beicht. Sie bessern sich nach Kräften. Aber die verstockten und unbußfertigen Sünder werden aus dem geistigen Schiff herausgeworfen, sei es durch ein kirchliches Gericht oder aufgrund des unsichtbaren Urteils Gottes. Wie Weizenähren werden einige von Gottes Geduld bis zur Ernte belassen. Glaube allein ohne Werke rettet ja nicht. Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot (Jak 2,26). Um christliche Werke zu haben und um christliche Tugenden zu erwerben, sollte man an die Worte des Apostels Paulus denken, der sagte: Ausharren habt ihr nö-tig, damit ihr die Verheißung davontragt, nachdem ihr den Willen Gottes getan habt (Hebr 10,36). Dulden gibt Kraft, wenn es eine Tugend vollzieht, und keine Tugend kann ohne Dulden bestehen. Denn es wurde ja gesagt: Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und zurückblickt, ist tauglich für das Reich Gottes (Lk 9,62; hl. Petrus von Damaskus, Buch 2, Kap. 5). Wer sich weigert zu dulden, der kann kein wahrhaftiges Kind der Kirche Christi sein.
Darum wird von einem kirchlichen Schriftsteller sogar gesagt, der Kirche sei der Name „Dulden“ gegeben, weil sie zu allen Zeiten unter Frohlocken duldet. Sie besteht aus der Stand-festigkeit der Gläubigen, und diese sind Christi Schloß und Riegel (hl. Clemens von Alexandrien, Unterweisungen). Jede christliche Kirche ist mit dem Kreuz geschmückt. Was bedeutet dies? Es besagt in erster Linie, die Erlösung des Menschengeschlechts wurde durch das Kreuz erwirkt. In zweiter Linie heißt es, nur wer die Kreuze aus Kummer und Sorgen geduldig erträgt, die Gott ihm schickt, wird in der Kirche Rett-ung erlangen gemäß dem Wort des Herrn Selbst: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und Mir nachfolgt, ist Meiner nicht wert (Mt 10,38).

Das Kreuz erhebt die Gläubigen bis ins bergige Jerusalem hinan

Der Eremit wollte Stavrophila die heilsame Kraft von Kreuz und Kummer noch genauer zeigen: Er fuhr im Gespräch fort.
Wüstenvater: Der Nutzen aus dem Kreuz kann groß und unterschiedlich sein. Wer das Kreuz im Leben frohgemut trägt, dem dient es als Treppe ins himmlische Jerusalem hinauf. Er-innerst du dich daran, Stavrophila, wie Gott dem Patriarchen Jakob in einem Traum ein Schaubild einer Himmelsleiter zeigte: Die Spitze der Leiter berührte den Himmel. Engel Gottes stiegen an ihr auf und nieder. Der Herr stand über ihr (Gen 28,12–13)?
Stavrophila: Ja, ich erinnere mich und bitte dich, erkläre mir den geistlichen Sinn dieses Schaubilds.
Wüstenvater: Dieses Schaubild ergibt unter anderem ein gutes Beispiel für Trübsal und Dulden, weil die Stufen für einen mühsamen Weg zum Himmel stehen, auf denen die Sorgsamen unter ihrem Einsatz und in Trübsal gen Himmel steigen. Andere werden von Mutlosigkeit und Faulheit niedergerungen und erreichen die Stufen nie, sondern werden ins Tal hinab gestossen.
Stavrophila: Ich möchte gern wissen, wie das Kreuz als Trep-pe zum Himmel dienen kann.
Wüstenvater: So sehr ein Kreuz und eine Trübsal den Men-schen bedrängt und belastet, so sehr erhebt sie ihn und bringt ihn näher zu Gott. Es ist wie mit den Wassern der Sintflut. Je mächtiger sie aufwallten und das Land belasteten, desto höher hoben sie Noahs Arche. Ebenso ist es häufig auch mit dem Kummer aus dem Kreuz. Je stärker er lastet und den Menschen bedrängt, desto höher erhebt er seine Seele über alles Irdische. So erhebt er den Menschen auch bei seinem Tod bis hinauf zu den Bergen des himmlischen Jerusalem.
Stavrophila: Erklär mir, wie Kreuz und Kummer als La-sten, welche der Mensch zeit seines Lebens zu tragen hat, den Menschen in den Himmel erheben?
Wüstenvater: Gib Acht! Ich will dir dafür ein klares Bei-spiel geben. Wenn die Vögel auf dem Boden sind, halten sie ihre Flügel gefaltet an sich. Fliegen sie auf, tragen sie die Flügel. Ebenso trägt der Mensch zeit seines Lebens auf Er-den Kreuz und Kummer. Doch wenn die Zeit kommt, die See-le vom Leib zu trennen, wird der Kummer aus dem Kreuz, das der Mensch in diesem schwierigen Leben erlitt, mit der Leichtigkeit von Flügeln erhoben bis in die Wohnstätten des Paradieses hinauf.
Stavrophila: Du hast das Kreuz in einem geistigen Sinn Treppe genannt. Was stellen also die Stufen und die Seiten der Treppe dar?
Wüstenvater: Die beiden Seiten stehen für zwei Tugenden: für den Glauben und für das Maßhalten. Die Stufen sind das Ausharren, Aufrichtigkeit, ausbleibende Mißgunst, Reinheit und andere Tugenden. Anhand dieser Stufen haben alle Hei-ligen, alle Mässigen und alle jene, die Gott lieben, die irdischen Versuchungen gemieden und sind in den Himmel eingetreten, indem sie ein Leben in Segen erbten im hohen Jerusalem.
Stavrophila: Segensreich sind jene Stufen, die in die ewige Glückseligkeit führen!
Wüstenvater: Ich sage dir auch, Kreuz und Kummer können als Wagen dienen, der ins bergige Jerusalem hinauffährt, wie das Gefährt, welches den Propheten Elias in den Himmel erhob.
Stavrophila: Wenn man Kreuz und Kummer in einem geist-lichen Sinne Wagen nennen kann, könntest du mir dessen Bedeutung dann erklären?
Wüstenvater: Im Alten Testament wurde der Prophet Eli-as in einem Wagen mit vier Pferden in den Himmel erhoben. In einem geistlichen Sinne können diese Pferde dafür genommen werden, daß sie die vier Haupttugenden — Mut, Weisheit, Reinheit und Wahrheit — darstellen. Im Neuen Testament hat der Herr Jesus Christus in Sich Selbst das Bild von vier Tugenden gegeben: Liebe, Gehorsam, Geduld und Demut. Die wahrhaftigen Gläubigen werden von diesen Tugenden in den Himmel hinauf getragen.
Stavrophila: Ich möchte noch mehr Erklärung.
Wüstenvater: Hör zu. Wie ich erwähnt habe, ist die erste Tugend im Neuen Testament die Liebe. Denn sie erhebt den Verstand auf den Berg (Gottes) und läßt den Menschen gegenüber Schwierigkeiten gleichgültig werden. Je mehr du liebst, desto leichter wirst du die Last des Kreuzes tragen. Die Liebe wird dich höher als der Himmel erheben, ja bis zum Geliebten hinauf. Denn die Himmel stehen den Liebenden offen.
Die zweite Tugend ist der wahrhaftige Gehorsam gegenüber Gottes Wille. Wer danach trachtet, inmitten von Kreuz und Kummer in allem Gottes Willen zu folgen, der wird leicht bis in die himmlische Wohnstatt hinaufsteigen. Wer die Reise längs des Kreuzwegs nicht kennt, solche werden wie Fußsoldaten folgen, die ihr Kreuz unter Schwierigkeiten tragen.
Die dritte Tugend ist die Geduld. In der Heiligen Schrift wird wiederholt erwähnt, sie sei der Seele unabdingbar, wenn jene nach dem Himmel greift: Wir müssen durch viele Drangsale in das Reich Gottes eingehen (Apg 14,22). Das schnell vorübergehende Leichte unserer Bedrängnis bewirkt uns ein über die Maßen reiches, ewiges Gewicht von Herrlichkeit (2 Kor 4,17). Durch eure Standhaftigkeit werdet ihr euer künftiges Leben gewinnen (Lk 21,19). Wer ausharrt bis zum Ende, der wird gerettet (Mt 10,22).
Die vierte Tugend ist die Demut. Wer ohne sie in den Himmel gelangen will, der wird mit Sicherheit ins Tal hinabsteigen. Deshalb sei demütig, und du wirst aufsteigen. Das Bild dieser Tugend wurde dir von unserem Herrn Jesus Christus Selbst gegeben: Er hat Sich Selbst erniedrigt, als Er vom Himmel herabstieg und mit dem Tod am Kreuz geschändet wurde. Und kraft Seiner Demut ist Er wieder in den Himmel eingegangen: Der hinabgestiegen ist, ist Derselbe, Der auch hinaufgestiegen ist über alle Himmel hinaus, damit Er alles erfülle (Eph 4,10). Wer einen andern Weg wählt, der wird niedergeworfen.
Stavrophila: Selig, wer auf dem Gefährt des Kreuzes hinaufsteigt. Denn solche werden das himmlische Jerusalem und die glückselige Unsterblichkeit erreichen.

Das Kreuz öffnet die Pforten zum himmlischen Königreich

Für Stavrophila kam die Zeit, vom Herrn für alle Schwierig-keiten und für den Kummer, den sie auf Erden erlitt, den Lohn zu empfangen. Der Einsiedler zeigte ihr im Geiste das himmlische Jerusalem und begann zu sprechen.
Wüstenvater: Schau hier: die Stadt des großen Königs. Siehst du, Stavrophila, wie sie in wunderbarem Licht erscheint. Seine Grundfesten stehen auf heiligen Bergen (Ps 86,1). Ihr Lichtglanz war wie der eines kostbaren Edelsteins, wie kristallklarer Jaspis. Eine Mauer hat sie, groß und hoch; sie hat zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel, und Namen sind darauf geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels. Ihr Mauerwerk besteht aus Jaspis und die Stadt aus reinem Gold, gleich reinem Glas (Offb 21,11.12;18.21). Welche Freude ist dort, welche Fröhlichkeit! Jerusalems Tore hallen wider von Jubelgesängen (Tob 13,18).
Stavrophila rief in unsäglicher Freude aus: Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Du Herr der Heerscharen! Es sehnt sich und schmachtet meine Seele nach den Vorhöfen des Herrn. Denn besser ist ein Tag in Deinen Vorhöfen als tausend andere (Ps 83,2–3,11). Herr, ich liebe die Pracht Deines Hauses und den Ort der Wohnung (Ps 25,8).
Wüstenvater: Frohlocke und danke Gott. Denn dir und allen, die Kreuz und Kummer hier auf Erden geduldig getragen haben, wird ewige Freude verliehen anstelle von Traurigkeit und Sorge. Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen, und es wird keinen Tod mehr geben, auch keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal wird es mehr geben; denn das Frühere ist vergangen (Offb 21,4). Dann, Stavrophila, wirst du trunken vom Überfluß Deines Hauses und vom Strom Deiner Wonne wirst du voll sein (Ps 35,9). Frohlockend mit den andern Heiligen wirst du sagen: Wie wir vernommen, so haben wir es gesehen in der Stadt des Herrn der Heerscharen, in der Stadt unseres Gottes (Ps 47,9).
Stavrophila: Werden die Pforten jener Stadt für mich aufgehen, wie die Türen des himmlischen Palastes sich für die weisen Jungfrauen öffneten?
Wüstenvater: Das Kreuz ist der Schlüssel zum Königreich des Himmels. Es öffnet das Paradies. Wer Kreuz und Kummer während des zeitlichen, irdischen Lebens geduldig ertragen, wer ausgeführt hat, was der Herr verordnet hatte, wird die Worte erfüllt sehen: Bittet, und es wird euch gegeben; sucht, und ihr werdet finden, klopft an, und es wird euch aufgetan (Mt 7,7). Kraft der Gnade Gottes werden die Pforten des Paradieses leicht für dich aufgehen.
Nach diesen Worten des Eremiten, hatte Stavrophila ein Schau-bild im Geiste, daß die Pforten der himmlischen Stadt sich auftaten. Sie sah viele Heilige dastehen. Sie standen vor dem Thron und vor dem Lamm, in weiße Gewänder gekleidet (Offb 7,9).
Wüstenvater: Wer sind die in den weißen Gewändern und woher sind sie gekommen (Offb 7,13)?
Stavrophila: Mein Herr, Du weißt es.
Wüstenvater: Das sind die, welche aus der großen Bedräng-nis kommen; sie haben ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht. Darum stehen sie vor dem Thron Gottes und dienen Ihm bei Tag und Nacht in Seinem Tempel. Und Der auf dem Thron sitzt, wird Sein Zelt über ihnen aufschlagen. Sie werden keinen Hunger und keinen Durst mehr leiden; weder die Sonne noch irgendwelche Glut wird sie treffen. Denn das Lamm in der Mitte wird sie weiden und zu den Quellwassern des Lebens führen, und Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen (Offb 7,14–17). Dies alles — nämlich das Gleiche wie für die Heiligen — erwartet dich, Stavrophila. So kannst du mit ihnen sein und die Krone empfangen, die dir vom Herrn bereitet ist.
Nach all dem Kummer verschied die von Gott Auserwählte im Herrn, und ihre Seele trat frohlockend in die Vorhöfe des Herrn zur endlosen Glückseligkeit ein, welche die einzig wahre und unabänderliche Glückseligkeit ist, die man nicht selbst schaffen kann, sondern die einzig vom Schöpfer erlangt wird.
Im Vergleich mit dieser Glückseligkeit ist jeglicher Trost ein Kummer, jegliches Glück ein Leiden, jegliche Süße Bitternis und alles Schöne unbedeutend. Es ist unmöglich, mit Worten darzustellen, was die gläubige Seele sieht, hört, schmeckt und umfasst in der endlosen Freude bei den Lebendigen: Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben (1 Kor 2,9).

Dieses Buch legt uns das grundlegende, von alters her überlieferte Verständnis dessen dar, was es heißt, „sein Kreuz zu tragen“. In der Zeitepoche der Europäischen Aufklärung geschrieben, setzt es einen kräftigen Akzent gegenüber einer Auffassung, die „Leiden“ nur als als Hindernis zur Selbstverwirklichung oder als Illusion auffasst. Der Geist dieser hiesigen Welt, läßt viele vergessen, daß wir als Christen unser hiesiges Leben auf das Jenseits ausrichten, „denn wir haben hie keine Bleibende Statt“ (Hebr 13, 14). — Das Programm der Selbstverwirklichung hat den Glauben an Jesus Christus vielerorts erschwachen lassen, und viele Menschen fallen in tiefste Verzweiflung, wenn sie sich Schwierigkeiten, Unbilden, Krankheiten, Todesfällen und Schmerzen zu stellen haben. Denn darin vermögen sie Gottes liebende Vorsehung am Werke nicht mehr zu sehen, weil ihr Leben nicht mehr auf das Jenseits ausgerichtet ist. Etliche Menschen, die dieses Buch gelesen haben, liessen sich dazu veranlassen, ihre grundlegenden Glaubensansichten über Gott, über Jesus Christus unsern Herrn, über Sein Leiden, über den Schmerz und über Fährnisse im Lichte des Glaubens an Ihn wieder zu überdenken. Wer aber der Welt lebt, solche werden diesem Buch mit Ablehnung begegnen. Denn unleugbar wird es ihnen schwer verständlich, ja schwer erträglich sein. Es wird ihnen zu weit gehen in dem, was sie noch ertragen können. Und dennoch gilt auch für sie: Unter diesem Zeichen wirst du siegen!

VERÖFFENTLICHT MIT DEM SEGEN S. E. MARK, ERZBISCHOF VON BERLIN UND DEUTSCHLAND

Orignalsprache:
Russisch
Herausgegeben:
Edition Hagia Sophia