Predigt an der heiligen Plaschtschaniza ( Mt 27, 1-44; Lk , 23, 39-43; Mt , 27, 45-54; Joh , 19, 31-37; Mt , 27, 55-61)

Wie ein Saatkorn in die Erde gesenkt wird, um neues Leben beginnen zu lassen, so ist Christus, der Heiland, heute begraben, um uns das neue Leben der Auferstehung zu schenken.
Vergangen ist das Leiden am Kreuz und es herrscht jetzt die Ruhe. Vergan¬gen ist der Hohn der Menge, der Spott der Ältesten und Priester, vorüber sind die Schmähungen der Kriegsknechte. Dem Heiland wird jetzt ein ehren¬volles Begräbnis zuteil, wie es bei Wohlhabenden üblich ist. Sein gemarterter Leib wird mit kostbarem wohlriechendem öl gesalbt. Man hüllt ihn in ein weißes Grabtuch und bestattet ihn in einem neuen Grab im Garten. Jetzt umgeben ihn keine Feinde mehr, sondern nahestehende Freunde — Ihm zur Ehre, noch nicht zum Ruhm. Der Ruhm steht noch bevor, er kommt erst mit dem Wunder der Auferstehung von den Toten zu neuem Leben.
Laßt uns indessen auf den Leidensweg Christi zurückblicken und der Tage in Jerusalem nach dem feierlichen Einzug des Heilandes gedenken — der Stun¬den, die Er durchlebte, nachdem Ihn die Feinde im Garten von Gethsemane ergriffen hatten. Es ist schwer, ruhig daran zu denken — an das empörende Unrecht der Menschen gegenüber Christus, Der sie sättigte, von Krankheiten heilte und mit der frohen Botschaft vom ewigen Leben und dem himmlischen Vater tröstete. Unser Herz wird beklommen bei dem Gedanken an die Leiden des Herrn, wenn wir uns erinnern, wie sie Ihn ergriffen, beleidigten, schlugen, auspeitschten, an das Kreuz nagelten und töteten. Es ist gewiß schwer, doch wir wollen uns bemühen, dies alles ruhig und gefaßt zu überdenken.
Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint dieser Leidensweg im Licht anstei¬gender Erfolge der Feinde Christi, die mit einem Triumph enden. Christi Feinde erreichen ihre Ziele und töten Ihn. In Wirklichkeit aber ist es Chri¬stus, Der Sein Werk tut und Sein Ziel erreicht. Um dies zu verstehen, fragen wir: „Welches Ziel hatte Christus?“ Wir können darauf mit Gewißheit ant-worten: „Sein einziges Ziel war die Erlösung der Menschen — unsere Er¬lösung.“
Er schreitet auf Seinem Leidensweg vom Gericht des Pilatus nach Golgatha genauso wie auf seinem früheren Lebensweg — im Wirken für unser Heil. Sein Heilswerk begleitet Ihn auf Seinem ganzen Leidensweg. Laßt uns einige Einzelheiten betrachten:
An dem Tage, an dem Judas den Feinden Christi seine Dienste anbietet und dreißig Silberlinge empfängt, schüttet eine Frau ihr kostbares Salböl auf die Füße Christi und empfängt die Vergebung ihrer Sünden.
Während die Feinde des Sohnes Gottes sich versammelt haben und bereit sind, sich unter der Führung des Judas auf den Weg zu machen, um den Herrn zu ergreifen, vollzieht sich das heilige Abendmahl — die Stiftung des Sakraments der Einheit des Menschen mit Gott, das den sterblichen Menschen das Leben schenkt, des Sakraments des Dankens und der Kommunion mit Christus — der heiligen Eucharistie. Seitdem wiederholt sich dieses Sakrament überall bis auf den heutigen Tag beim Vollzug der göttlichen Liturgie zur Heilung und Erlösung der Menschen.
Jetzt verengt sich der Leidensweg Christi immer mehr und zu der von außen drohenden Gefahr tritt das innere Ringen.

Christus in Gethsemane. Er weiß, was Ihm bevorsteht. Seine heilige Natur empört sich gegen das Meer von Schmutz, Lüge, Neid, Haß und Sünde, dessen Wogen Ihn überschütten wollen. Ferner protestiert Seine menschliche Natur, von Gott zu gesundem Leben und Glück geschaffen, gegen die schmerzlichen Qualen, die Leiden am Kreuz und den Tod. Und der Herr Jesus Christus fleht in Todestrauer zu Seinem himmlischen Vater: „Mein Vater, ists möglich, so gehe dieser Kelch von mir.“ Doch so groß ist die Kraft Seines Gehorsams Seinem Vater gegenüber, daß Er nach diesem Gebet ausruft: „Doch nicht, wie Ich will, sondern wie Du willst!“ Mit diesem Gebet wird der innere Kampf in der heiligen Seele des Herrn überwunden. In Seinem Einverständ¬nis mit dem Bevorstehenden sagt Er dem Vater: „Dein Wille geschehe.“
So geht das Lamm Gottes weiter, um die Sünden der Welt auf sich zu neh¬men. In diesen letzten Stunden Seines Lebens fährt Er fort, zu lehren und Wohltaten zu erweisen: Er hält die Hand mit dem Schwert des Apostels Petrus auf, ermahnt zum Frieden, heilt den verwundeten Kriegsknecht, ent¬lockt mit einem Blick den Augen Seines sündigen Jüngers die Tränen der Reue, tröstet die weinenden Frauen und erbittet bei Gott, dem Vater, Ver¬gebung für die, die Ihn gekreuzigt haben.
Christus am Kreuz.
Wir verstummen in Ehrfurcht. Das Kreuz Christi ist ein großes Geheimnis, und wir sind viel zu schwach, um in Worten seine ganze Tiefe und Kraft zu erschließen.
Von christlichen Künstlern ist vielfach das Kreuz umgeben von den Heer¬scharen der Engel dargestellt worden, die den Gekreuzigten stumm anschauen. Wenn selbst die Engel erschreckt verstummen, wie sollten dann wir uns zu dem Geheimnis des Kreuzes äußern? Laßt uns unsere Worte den Propheten und der heiligen Kirche entnehmen! „Er ist um unsrer Missetat willen ver¬wundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf Ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch Seine Wunden sind wir geheilt“, sagt der Prophet Jesajas vom Geheimnis des Kreuzes. Die heilige Kirche läßt uns zunächst vor dem Gekreuzigten erzitternd verstummen, wenn sie sagt, daß „alle Kreatur erbebte im Schrecken, als sie Dich, Christus, am Kreuz hängend erblickte“. Dann aber singt sie über die Auferstehung: „Dein Tod ist unser Leben.“ Laßt uns diese Worte gläubig aufnehmen und unserem Herrn Jesus Christus danken, Der uns Leben, Heilung und Vergebung geschenkt hat durch Sein Kreuz.
Einiges vom Heilswirken Christi am Kreuz ist augenscheinlich: ein Räuber bereut seine Sünden, empfängt die Vergebung und wird ins Paradies einge¬lassen, der Hauptmann wird gläubiger Christ. Der Lieblings jünger Christi, der Apostel Johannes, erhält vom Herrn den Auftrag, die heilige Jungfrau Maria als Mutter bei sich aufzunehmen. Damit wird Johannes Christi Bruder, und Christus steht uns noch näher als vorher, denn Er wird Bruder eines Menschen und dadurch unser aller Bruder. Damit ist die Prophezeiung erfüllt, die im Namen Christi verkündet: „Ich will verkündigen Deinen Na¬men Meinen Brüdern“ (Hebr. 2, 11—13).
Seht, wie der Herr auf dem scheinbaren Gipfelpunkt Seiner Feinde, die Ihn töten, Sein Hilfswerk an den Menschen fortsetzt. Er wirkt unser Heil nicht trotz der Taten Seiner Feinde, sondern durch diese Taten. Ihre Taten richten sich gegen sie selbst. Der Tod Christi wird Ursache ihrer Niederlage und zugleich das Mittel zu unserer Erlösung. Der Herr besiegt den Tod durch Sein Sterben.
Wir nähern uns einem großen tröstlichen Geheimnis. Zu seinem besseren Verständnis möge die Überlegung dienen, daß Er in Seinem Erdenwandel
alle Stadien der normalen menschlichen Entwicklung durchlaufen hat. Als Kindlein ist Er geboren, als Knabe herangewachsen und in Seiner Vollkraft als Mann hat Er gewirkt. Er nahm den Tod, der für jeden Menschen unaus¬weichlich ist, um unsretwillen freiwillig auf sich, als eine Stufe Seines irdi- dischen Daseins. Wie die Geburt für Christus den Eintritt in das Erdenleben inmitten der damals lebenden Menschen bedeutete, war der Tod für Ihn das Tor in die uns wenig bekannte geheimnisvolle Region, in der die Seelen der Verstorbenen wohnen.
Ohne Seinen Leib schritt der Herr als Gott zu denen, die der Tod ihrer Leiber beraubt hatte. Die heilige Kirche glaubt an diesen Abstieg in das Totenreich, den sie als „Niederfahrt zur Hölle“ bezeichnet. Prophetisch durchschaut die Kirche dieses Geschehen, von dem sie kündet: „Als Du zum Tode herabstiegst, Unsterbliches Leben, hast Du die Hölle mit dem Leuchten der Gottheit zer¬stört, als Du die Gestorbenen aus der Unterwelt erwecktest, riefen alle himm¬lischen Kräfte: Lebensspender, Christus, unser Gott, Dir sei Ehre.“
Licht und Leben hat Christus den Verstorbenen durch Seinen Tod ge¬schenkt.
Doch die Zukunft des erlösten Menschen besteht nicht in einem Leben der Seele ohne Leib im Lichte Gottes. Nach dem göttlichen Plan soll der Mensch nicht nur als bloßes Geistwesen, sondern seelisch-leiblich, wie er erschaffen wurde, leben. Hierzu mußte Christus die Seelen aus der Region, in der sie sich befanden, in eine andere himmlische Welt herausführen. So wie Christus durch den Tod zu den Seelen der Verstorbenen hinabstieg, ist Er aus dieser Region durch die Auferstehung herausgetreten.
Vor uns ist die Plaschtschaniza — das Abbild Christi im Grabe. Er mußte auferstehen, und Er ist auferstanden. Durch Seine Auferstehung hat Er uns das Tor zum ewigen Leben aufgetan. Nach dem Tode erwartet uns nicht eine kalte Wüste, sondern das Licht Christi.
Christus,, Sohn Gottes vor aller Zeit, inkarnierte sich und wurde wahrer Mensch — Märtyrer, Held und Sieger. Gegen die Ränke der Feinde hat er Seinen Sieg vollendet. Er hat ihren scheinbaren Triumph in ihre Niederlage und Seinen Sieg verwandelt.
Laßt uns daher Mut fassen und uns darum mühen, Ihm näher zu kommen durch Glauben und Leben, Gebet und Werke, Denken und Tun.
Wer mit Christus ist, ist mit dem Sieger.
Wer mit Christus ist, besiegt mit Ihm alles, was finster, sündig und tot ist, und erlangt die Seligkeit des ewigen Lebens.
Metropolit Ioann von New York und den Aleuten,
Exarch des Patriarchen in Nord- und Südamerika

 


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Jahr:
1966