Predigt zum Fest des Schutzes der Allerheiligsten Gottesgebärerin (Hebr. 9:1-7; Lk. 10:38-42, 11:27-28) (14.10.2021)

Liebe Brüder und Schwestern, als die Hauptstadt der Christenheit von feindlichen Heeren aus dem Norden umzingelt war und kaum noch Hoffnung auf Rettung vor den barbarischen Horden bestand, betete das Volk die ganze Nacht in der Blacherna-Kirche, in welcher sich der Gürtel sowie der Mantel der Mutter des Herrn als Reliquien befanden. Mit anwesend waren auch der heilige Andreas, Narr um Christi willen, sowie sein Schüler Epiphanios. Etwa gegen 4.00 Uhr morgens sah der heilige Andreas die Mutter Gottes begleitet vom heiligen Johannes dem Täufer und vom heiligen Apostel Johannes dem Theologen durch die Lüfte schreiten. Als sie über dem Altar standen, nahm die Mutter Gottes Ihr Omophorion (Kopf- und Schulterbedeckung) ab und hielt es über dem ganzen Volk, wobei Sie inständig für dasselbe betete. Hierbei umringte Sie eine große Schar von Engeln und Heiligen. Darauf fragte der Heilige seinen Schüler, ob er dieses Gesicht auch sehe, worauf dieser erwiderte: „Ich sehe es, und ich zittere“. Kurz darauf war die Kaiserstadt durch die Kräfte der Natur vor dem Ansturm der Heiden gerettet, die sich dann aber selbst im nachfolgenden Verlauf der Geschichte zum christlichen Glauben bekehrten. Bemerkenswert ist zudem, dass die Nachfahren der damals dank der Fürsprache der Gottesmutter in die Flucht geschlagenen Aggressoren dieses Ereignis als geistlichen Wendepunkt ihrer eigenen Geschichte betrachten und das Fest der Obhut der Gottesgebärerin bis heute hoch in Ehren halten. Nirgendwo sonst gibt es nämlich so viele Gotteshäuser, die diesem Festtag geweiht sind. Ungezählt sind außerdem die Kirchengebäude, welche den um sie herum gebauten Dörfern ihren Namen gaben (Pokrovka, Pokrovskoe u.ä.). Auch in der Diaspora gibt es inzwischen zahlreiche Kirchen, die unter dem Schutz der Mutter Gottes stehen. Eine davon befindet sich heute sogar mitten in der Hauptstadt Deutschlands. Nichtsdestoweniger gab es zuvor und danach unzählige Fälle, in denen die Mutter Gottes einzelnen Personen erschienen war und ihnen himmlischen Beistand in schwerer Not brachte. Warum wird an diese nicht in Form eines Festtags erinnert? Worin unterscheidet sich denn dieses Ereignis, dass es als Grundlage für einen derart bedeutenden Festtag zu dienen vermochte? - Sicher hätten auch andere Ereignisse entsprechende Würdigung im Kirchenkalender finden können, in dem es aber nun mal nur 365/366 Tage gibt. Der Festtag des Schutzes der Gottesmutter ist aber dank des Mitwirkens des heiligen Andreas, der es später mit seinem Schüler vor den Menschen bekundet hatte, besonders prädestiniert. Der Narr um Christi willen war einige Zeit vorher in einem für diese Breitengrade ungewöhnlich harten Winter mit der Seele aus seinem halberfrorenen Körper in den Himmel entrückt worden (vgl. 2 Kor. 12:1-5). Dort erblickte er die Engel und viele Heilige, nur die Mutter unseres Herrn traf er dort nicht an. Auf seine zum Ausdruck gebrachte Verwunderung hin wurde ihm gesagt, die Mutter des Herrn sei zumeist auf Erden, um dort den Menschen in ihren Nöten beizustehen. Damit ist dieser Festtag ein hervorragendes Anschauungsbeispiel dafür, dass wir neben der Realität der diesseitigen Welt auf gar keinen Fall die (übergeordnete) jenseitige Realität außer acht dürfen. Das ist es ja gerade, was uns zu Christen macht (s. Phil. 3:20; Hebr. 13:14). Es ist das Kriterium, das den Glauben vom Aberglauben (s. Mt. 6:30), das Leben nach dem Geist vom Trachten des Fleisches (s. Röm. 8:3-13) und die Kinder Gottes von den Menschenkindern (s. Gen. 6:1-4; Röm. 8:14-17) unterscheidet. Und so feiern wir heute nicht bloß ein historisches Ereignis, das vor langer Zeit mal auf Erden stattgefunden hat (und das im geschichtlichen Kontext auch kaum noch nachhaltige Bedeutung mehr hat, da Konstantinopel inzwischen längst gefallen ist), sondern heben den himmlischen Schutz der Mutter Gottes hervor, den Sie den Gläubigen zu allen Zeiten und an allen Orten zukommen lässt. Doch immer wieder entdecken wir unter den Bewertungen orthodoxer Beiträge über die Mutter Gottes oder Heilige im Internet fast schon rechthaberisch anmutende Kommentare wie: „Wir sollen nur zum Herrn Jesus Christus beten, sonst zu niemandem!“ oder „Wir dürfen niemanden anbeten, außer Gott allein!“ - Was antworten wir ihnen? … Wie mir scheint, ist diese Sichtweise darauf gegründet, dass ihre Verfechter zwar gläubig sind, wahrscheinlich auch moralisch leben und viele gute Werke verrichten, aber keine Vorstellung von dem besitzen, was ein Leben in Christo, ein Leben im Geist Gottes ist. Andernfalls würden sie die Anwesenheit Gottes in ihren „Gottesdiensten“ spüren. Wie lässt es sich sonst erklären, dass man vielerorts inzwischen sogar während des „Vaterunser“ sitzenbleibt (!) und dort in der Predigt über alles Mögliche, nur nicht vom Reich Gottes geredet wird (vgl. Kol. 3:2). Es ist zwar (bei manchen zumindest) ein aufrichtiger Glaube an Gott, der aber Gottes reale Anwesenheit ausschließlich in der künftigen Welt verortet. Hier in dieser Welt kann man Gott vielleicht noch Fürbitten (veraltet für Audiobotschaften) schicken, aber einen Absender angeben ist dabei überflüssig. Eine lebendige Gemeinschaft mit dem Himmlischen Vater findet nicht statt. Kein Wunder, wenn das „Abendmahl“ nur aus Wein und Brot besteht und demnach somit nur die Erinnerung an ein symbolisches (irdisches) Ereignis darstellt, das mal vor zweitausend Jahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat. Symptomatisch ist auch, dass Gebete für die Entschlafenen dort nicht existieren. Aber „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden“ (Mt. 22:32; Mk. 12:27; Lk. 20:38). Das manifestiert sich in den Gottesdiensten unserer Kirche, in der jeden Tag das Gedächtnis eines oder mehrerer Heiliger gefeiert wird, vornehmlich in der Göttlichen Liturgie, an der alle Glieder am Leib Christi teilnehmen – auch die, welche nicht mehr physisch mit uns sind. Durch Raum und Zeit mögen wir vorübergehend von ihnen getrennt sein, nicht aber im Geiste des Herrn, der dem Leib Christi innewohnt (s. 1 Kor. 12:13). Das ist der „Himmel auf Erden“ (hl. Johannes von Kronstadt, +1908), der „Rat der Heiligen“ (s. Ps. 88:8). Nur in der Kirche Christi können wir die lebendige Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus Christus, Seiner Allreinen Mutter, den Engeln, den Heiligen und allen bereits entschlafenen Vätern, Müttern, Brüdern und Schwestern erfahren. Das am heutigen Festtag zu gedenkende Ereignis, - bezeugt durch einen ausgewiesenen Heiligen und bestätigt durch das Zeugnis seines frommen Mitstreiters, - dokumentiert eindrucksvoll die Einheit der unsichtbaren mit der sichtbaren Kirche, der triumphierenden mit der kämpfenden. In der Kirche Christi – zum Ausdruck gebracht durch die Mysterien und die Liturgie – vollzieht sich schon in dieser Welt die Einheit von Himmel und Erde. Durch die Kirche gehören auch wir zur geistlichen Verwandtschaft Christi (s. Mt. 12:46-50; Mk. 3:31-35; Lk. 8:19-21), denn nur durch die Zugehörigkeit zum Leib Christi sind wir Kinder Gottes (s. Joh. 1:12; 1 Joh. 3:1-2,10; 4:4; 5:2; Röm. 8:14-17; 9:8; Gal. 4:6-7; Hebr. 2:13-14). Wir alle lieben und ehren doch unsere irdischen Mütter, die uns das biologische Leben gegeben haben. Wie kann es aber sein, dass einige unserer Brüder und Schwestern die Mutter des Herrn nicht lieben und nicht ehren?!.. Wie kann man denn groß Weihnachten feiern, wenn man dabei völlig außen vor lässt, wer uns den „Urheber des Lebens“(Apg. 3:15), ja, das „Leben“ selbst (Kol. 3:4) geboren hat?! Hierin sehe ich eine zutiefst schizophrene Haltung. Vor allem angesichts der überbordenden „geschlechtergerechten“ Sprache, die inzwischen selbst vor der Heiligen Dreifaltigkeit und dem Vaterunser keinen Halt macht, ist es unerklärlich, warum der Mutter Gottes nicht der Ihr gebührende Platz (s. Lk. 1:28-30,41-45,48) im Glaubensleben mancher Christen eingeräumt wird. Die Allerheiligste hat von allen Menschen den größten Anteil an unserer Errettung. Darüber hinaus ist sie unsere Beschützerin – nicht bloß in irdischen Angelegenheiten wie Not, Gefahr und Krankheit, sondern vornehmlich im geistlichen Leben. Wer ein Leben nach dem Geist führt (s. Röm. 8:1-17), der weiß aus eigener Erfahrung, wie wirkungsvoll die Fürsprache der Gottesmutter vor dem Herrn für reuige Sünder ist. Sämtliche Krisen werden von Gott nur dazu zugelassen, damit die Christen sich an ihre Sünden erinnern und aufrichtig Buße tun. Wenn die Menschen diese Bereitschaft zeigen, wird Gott sie gestärkt aus jeder Prüfung hervorgehen lassen und sogar mehr Gutes daraus entstehen lassen als wir es uns jetzt vorstellen können: „So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle. Dem aber, Der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Kirche und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Eph. 3:17-21). Die Nachfahren der früheren Angreifer aus dem Norden wissen Gottes unergründliche Weisheit und Barmherzigkeit jedenfalls zu schätzen. Amen.
Jahr:
2021
Orignalsprache:
Deutsch