Predigt zum 21. Herrentag nach Pfingsten (Gal. 2:16-20; Lk. 8:26-39) (14.11.2021)

Liebe Brüder und Schwestern, die heutige Lesung aus dem Galaterbrief, vor zweitausend Jahren verfasst, hat für uns heute nichts an Aktualität verloren, auch wenn die historischen Begleitumstände natürlich ganz andere sind. Damals herrschte unter den Judenchristen in der Diaspora noch immer die Meinung vor, die seligmachende Gerechtigkeit käme durch das Gesetz Mose. Deshalb sieht sich der Apostel Paulus zu einer Wortwahl veranlasst, die an Deutlichkeit nicht zu überbieten ist: „Ich aber bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, Der mich geliebt und Sich für mich hingegeben hat“ (Gal. 2:20). Und zum Abschluss fügt er hinzu: „Denn käme die Gerechtigkeit durch das Gesetz, so wäre Christus vergeblich gestorben“ (2:21). Aus dieser kurzen Sequenz erkennen wir zwei zentrale Aspekte unseres Glaubens, ohne die unser Glaube nicht das wäre, was er ist. Der Apostel unterstreicht, dass das Gesetz in der Vergangenheit eine vorbereitende Funktion hatte. „So hat das Gesetz uns in Zucht gehalten bis zum Kommen Christi, damit wir durch den Glauben gerecht gemacht werden. Nachdem aber der Glaube gekommen ist, stehen wir nicht mehr unter dieser Zucht“ (Gal. 3:24). Ein überaus treffender Vergleich: Dadurch, dass der Zuchtmeister sein Ziel erfüllt hat (nämlich die Kinder richtig großzuziehen), hat er sich selbst überflüssig gemacht. So ist es auch mit dem Gesetz. Aber wie sollen wir verstehen, dass der Apostel „durch das Gesetz dem Gesetz gestorben“ ist?.. Der Apostel führt den Vergleich einer Frau an, die an ihren Mann gebunden ist, solange er lebt. Wenn er aber stirbt, ist sie frei vom Gesetz und kann danach einem Anderen gehören, ohne eine Ehebrecherin zu sein. Der „Andere“ ist in dem Fall unser Herr Jesus Christus. Denn: „So seid auch ihr, meine Brüder, durch das Sterben Christi tot für das Gesetz, so dass ihr einem Anderen gehört, Dem, Der von den Toten auferweckt wurde; Ihm gehören wir, damit wir Gott Frucht bringen“ (Röm. 7:4). Und weiter sagt er: „Jetzt aber sind wir frei geworden von dem Gesetz, an das wir gebunden waren, wir sind tot für das Gesetz und dienen in der neuen Wirklichkeit des Geistes, nicht mehr in der alten des Buchstabens“ (7:6). Für den Apostel persönlich war es in der Tat so, dass er „mit Christus gekreuzigt“ worden ist. Er war ja vorher ein gesetzestreuer Jude gewesen und übertraf in seiner Treue zum jüdischen Gesetz alle seine Altersgenossen, setzte sich mit größtem Eifer für die Überlieferungen der Väter ein, so dass er maßlos die Kirche Gottes verfolgt hatte (s. Gal. 1:13-14). Doch er löste sich von diesem Erbe, nachdem es vor den Toren von Damaskus zu einem Wendepunkt kam, der sein ganzes Leben und darüber hinaus den Lauf des Weltgeschehens veränderte: Gott offenbarte ihm Seinen Sohn, berief ihn durch Seine Gnade (s. Apg. 9:1-22; Gal. 1:15-16). Trotzdem liebte er sein Volk (vgl. Röm. 10:1), das in weiten Teilen an den gesetzlichen Überlieferungen festhielt. Und so fing er ihnen an zu beweisen, „dass Jesus der Messias ist“ (Apg. 9:22). Wie wir wissen, war die Verkündigung Christi wie eine Kreuzigung für den Apostel, aber nur so konnte er für Gott leben. Auch wir müssen ihm nacheifern, damit wir nicht zu Feinden des Kreuzes Christi werden (s. Phil. 3:17-18; 4:9) und wir nicht für uns leben, sondern damit Christus in uns lebt. Das bedeutet, dass auch wir mit Christus gekreuzigt werden sollen, sodass wir von der Sünde befreit werden (s. Röm. 6:6). Denn nur so wird uns „das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus“ freimachen „vom Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm. 8:2). Die Nachfolge Christi ist die Erfüllung des Gesetzes (s. Deut. 18:15-16; vgl. Mt. 5:17). Das neue „Gesetz“ aber heißt Liebe (s. Röm. 13:8-10). Das oben Gesagte dürfte ausreichen, um jene zu überzeugen, die bisher aus Unwissenheit einem „Christentum light“ anhingen. Wenn sie aufrichtig sind, wird Gott ihnen den Eintritt in die lebendige Gemeinschaft der Kirche nicht verwehren. Die anderen, die „Irdisches im Sinn“ haben (Phil. 3:19), werden sich auch weiterhin auf ihren „Glauben an Gott“ berufen. Ja, und? - entgegnen wir ihnen. Auch die Eingeborenen in Papua-Neuguinea glauben auf ihre Weise, weil der Mensch von Gott so geschaffen worden ist, dass er an etwas Höheres glaubt und zu ihm strebt. Aber anders als die Naturvölker im südamerikanischen Regenwald, auf den Andamanen-Inseln oder auf Südsee-Atollen haben wir die Offenbarung von Gott erhalten, Der sogar zu uns gekommen ist, damit wir Ihn „im Geist und in der Wahrheit“ anbeten können (Joh. 4:23-24). Und Christus, Der, wie wir heute gelernt haben, uns geliebt und Sich für uns hingegeben hat (s.o.), möchte Sich uns allen offenbaren. Er erwartet aber von uns, dass wir nach Höherem streben und nicht Irdisches sinnen. Darin liegt unsere Rettung. „Unsere Heimat aber ist im Himmel. Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter, Der unseren armseligen Leib verwandeln wird in Gestalt Seines verherrlichten Leibes, in der Kraft, mit der Er Sich alles unterwerfen kann“ (Phil. 3:20-21). Ihm gehören wir, damit wir Gott Früchte bringen (s.o.). Wer diese Ausrichtung in seinem Leben partout vermissen lässt, kann sich selbst auch noch so oft als „gläubig“ bezeichnen, sein Dasein vor Gott wird aber dennoch völlig fruchtlos bleiben (vgl. Mt. 3:10; 7:19; Lk. 3:9). Davor will uns die Kirche behüten. Sie ist der Ort, erfüllt von der Gnade Gottes, wo auch wir – und zwar jeder – Gott Früchte bringen können, „hundertfach oder sechzigfach oder dreißigfach“ (Mt. 13:23; vgl. Mk. 4:20). Sonst gleichen wir den Gadarenern, die den Glauben zwar nicht offen verleugnen, den zu ihnen gekommenen Herrn aber auffordern, Sich aus ihrem Leben zu entfernen. Amen.
Jahr:
2021
Orignalsprache:
Deutsch