Über das Paradies der russischen Seele
Am 19. Oktober /1. November feiern wir das Gedächtnis des Hl. Johannes, des Wundertäters von Kronstadt, der von der Kirche im Jahre 1964 verherrlicht wurde. Der Aufsatz des großen Theologen der Serbishcen Orthodoxen Kirche, des seligen Archimandriten Justin (Popovi¡c´), die wir aus diesem Anlaß hier zur Veröffentlichung bringen, wurde vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges geschrieben, also runde dreißig Jahre vor der Verherrlichung des heiligen Wundertäters von Kronstadt. Die orthodoxen Serben verehrten den Hl. Vater Johannes wie auch den Märtyrer-Zaren Nikolaus II., bereits in den 20-ger Jahren. Daher soll es unsere Leser nicht erstaunen, daß Vater Justin, der übrigens selbst heute bereits von vielen als heiligmäßig verehrt wird, Vater Johannes als Heiligen bezeichnet, ja mehr noch – als Apostel, lange bevor dieser offiziell verherrlicht wurde. Die Heiligkeit eines Heiligen ist eine geistliche Realität und wird als solche von denjenigen unmittelbar erlebt, die dem Heiligen noch zu Lebzeiten begegnen oder mit ihm nach seinem Ableben im Gebet in Beziehung treten. Im Akt der Verherrlichung konstatiert die Kirche in der feierlichen Einigung der kämpfenden Kirche mit der himmlischen Kirche lediglich dieses unmittelbare Verständnis der Heiligkeit.
Der Mensch ist das einzige Wesen in allen Welten, das sich vom Hades bis zum Paradies erstreckt. Folgt dem Menschen auf all seinen Wegen, und ihr werdet sehen, daß sie entweder ins Paradies oder in die Hölle führen. Im Menschen gibt es nichts, das nicht entweder durch das Paradies oder durch den Hades vollendet werde. Das Spektrum der menschlichen Gedanken, der menschlichen Gefühle, der menschlichen Neigungen ist größer als das der Engel und auch das der diabolischen Mächte. Weiter als das der Engel, weil der Mensch sogar bis zum Teufel fallen kann; ausgedehnter als das diabolische, weil er sich sogar bis Gott erheben kann. Und dies bedeutet: Sowohl das menschliche Gute als auch das Böse sind unendlich, ewig, denn das Gute führt in das ewige Reich des Guten, das Paradies, und das Böse in das ewige Reich des Bösen, den Hades.
Der Mensch ist stets eine ewige Wesenheit, möchte er dies wahrhaben oder nicht. Wenn er Gutes tut, was für ein Gutes dies auch sein mag, so ist der Mensch ewig, weil jedes Gute essentiell mit dem ewigen Göttlichen Guten in Verbindung steht. Und wenn er Böses tut, was für ein Böses dies auch sein mag, so ist der Mensch ebenfalls ewig, denn alles Böse ist durch sein geheimes Wesen mit dem ewigen diabolischen Bösen verbunden. Der Mensch kann niemals auf ein endliches Wesen, ein vergängliches, ein sterbliches reduziert werden. Sogar wenn er es wünschte, so kann der Mensch keinen vollen Selbstmord verüben, denn die Tat des Selbstmordes ist ihrem Wesen nach böse, und als solche trägt sie die Seele des Selbstmörders in das ewige Reich des Bösen. Seiner Natur nach sind das menschliche Selbstgefühl und sein Selbstbewußtsein unsterblich, unvergänglich, ewig. Seinem eigentlichen Wesen nach ist der Mensch zur Unsterblichkeit und Ewigkeit verurteilt. Nur kann diese Unsterblichkeit, diese Ewigkeit von zwiefältiger Natur sein: gut oder böse, göttlich oder diabolisch. Dem Menschen ist die Freiheit und das Recht gegeben, zwischen diesen zwei Arten von Unsterblichkeit zu wählen, zwischen diesen zwei Ewigkeiten. Er kann die eine oder die andere wählen, aber er kann sich von der Unsterblichkeit und Ewigkeit nicht lossagen, denn eben auf die Unsterblichkeit und Ewigkeit hin ist sein Wesen angelegt. Er verfügt über kein inneres Organ, noch ein äußeres Mittel, mit Hilfe derer er das, was unsterblich und ewig ist, aus sich ausmerzen oder vernichten könnte. Für solch ein Ansinnen müßte er etwas Unsterblicheres als das Unsterbliche und etwas Ewigeres als das Ewige besitzen. Aber solches hat er nicht.
Wann beginnt die menschliche Unsterblichkeit? Sie beginnt ab dem Augenblick der Empfängnis des Menschen im Mutterleib. Und wann beginnt das Paradies oder die Hölle des Menschen? Sie nehmen ihren Anfang mit der freien Wahl des Menschen – entweder des Göttlichen Guten oder des diabolischen Bösen, Gottes oder des Teufels. Und sowohl das Paradies als auch die Hölle des Menschen beginnen hier, auf Erden, um sich nach dem Tode in jenem Leben, in jener Welt fortzusetzen. Daher redet der Heiland definitiv und klar über das ewige Leben sowohl des Gerechten als auch des Sünders: des Gerechten im Himmel, und des Sünders im Hades. Dem Menschen ist die unsterbliche schöpferische Kraft verliehen, die Kraft, eine Ewigkeit für sich zu schaffen, so wie er sie haben möchte. Darin liegt die schreckliche Erhabenheit des menschlichen Wesens. Darin liegt sein Fluch und sein Segen. Wunderbar und schrecklich ist es, Mensch zu sein, denn der Mensch ist mit allem und in allem ewig. Ewig ist er auch seinem Leibe nach, denn dieser wird am Tage des Weltgerichts auferstehen.
Was ist denn das Paradies? Das Paradies ist das Gefühl Gottes. Wenn der Mensch Gott in sich fühlt, dann ist er schon im Paradies. Wo Gott ist, dort ist auch das Reich Gottes, dort in das Paradies. Von der Zeit an, als Gott Logos auf die Erde herabstieg und Mensch wurde, ist das Paradies die unmittelbarste und menschlichste Wirklichkeit geworden. Denn wo der Herr Christus ist, dort ist das Paradies. Wenn der Mensch empfinden und erfahren möchte, was das Paradies ist, so möge er nur seine Seele mit dem Guten des Evangeliums, der Liebe, der Gerechtigkeit, der Wahrheit, dem Gebet und den übrigen evangelischen Tugenden erfüllen. Indem er die Tugenden des Evangeliums praktiziert, integriert der Mensch die göttliche Wahrheit, das göttliche Gute in sein Wesen und erlebt so das Paradies bereits hier auf Erden.
Was ist nun der Hades? Der Hades ist das Gefühl des Teufels. Wenn der Mensch in sich den Teufel fühl, dann ist er bereits in der Hölle. Denn dort, wo der Teufel ist, dort ist auch die Hölle. Vor dem Teufel kommen immer die Sünden, und nach ihnen die Hölle. Jede Sünde strömt in die menschliche Seele ein wenig Böses ein, welches sofort seine kleine Hölle um sich formt. Wenn der Mensch die Sünden in sich vermehrt, sich an sie gewöhnt, dann wächst seine kleine Hölle zu einer immer größeren an, bis sie seine ganze Seele einnimmt. Was ist denn der Hades, wenn nicht das Reich der Sünde, des Bösen, des Teufels? Dort, wo die Sünde herrscht, beginnt bereits der Hades. Die Sünde ist vom Teufel, daher führt sie auch den Menschen in das ewige Reich der Sünde und des Bösen, in die Hölle.
Sowohl das Paradies als auch die Hölle sind in erster Linie psychische Zustände, psychische Erlebnisse, subjektiv und individuell, und erst danach transzendentale Realitäten in einer anderen Welt. Man kann sagen, daß auf der Erde sowohl das Paradies als auch der Hades den irdischen Umständen zufolge relativ und begrenzt sind, aber sowohl das eine wie das andere führen den Menschen nach seinem Tode in sein jeweiliges ewiges Reich – in das Reich Gottes oder das Reich des Teufels. Sowohl das menschliche Gute, als auch das menschliche Böse sind auf Erden nur eine Einführung und Vorbereitung für das ewige Leben des Menschen, entweder im Reich des ewigen göttlichen Guten, im Paradies, oder im Reich des ewigen diabolischen Bösen, im Hades.
Auch die russische Seele hat ihr Paradies und ihre Hölle. Nirgends ist die Hölle schrecklicher und nirgends das Paradies wunderbarer als in der russischen Seele. Nicht ein Mensch fällt so tief, bis zur letzten Hölle, wie der russische Mensch; aber genauso steigt kein Mensch so hoch hinauf, über alle Gipfel hinaus, wie der russische Mensch. Die Geschichte bezeugt: Die russische Seele bewegt sich zwischem der schwärzesten Hölle und dem lichtesten Paradies. Mir scheint, daß von allen Seelen auf Erden die russische die gruseligste Hölle und das bezauberndste Paradies besitzt. In dem Drama der russischen Seele treten nicht nur die Engel des Himmels, sondern auch die Teufel der Hölle auf. Die russische Seele ist das dramatischste Schlachtfeld, auf dem Engel und Dämonen einen unerbittlichen Kampf kämpfen. Um die russische Seele streiten sich eifersüchtig Welten, kämpfen Ewigkeiten, führen sogar Gott und Satan Krieg.
Was macht nun das Paradies der russischen Seele aus? Das Paradies der russischen Seele stellen die Gotträger und Christusträger der russischen Erde dar, die russischen Heiligen: vom Hl. Vladimir bis zum Patriarchen Tichon, dem Bekenner. Ungeheuer groß, wunderbar, endlos ist das Paradies der russischen Seele, denn gewaltig, wunderbar und endlos ist die Heiligkeit der ruhmreichen Heiligen der russischen Erde. Jeder Heilige ist nichts anderes als ein zurückgegebenes Paradies. Und das bedeutet, daß die Seele der Sünde, dem Tod und Teufel entrissen und mit Gott, seiner Heiligkeit und Ewigkeit vereint ist.
Wo befindet sich das Paradies der russischen Seele? Da ist es – im Hl. Sergij von Radone¡z und Hl. Mitrofan von Vorone¡z, im Hl. Filipp von Moskau und Vladimir von Kiev, im Hl. Serafim von Sarov und Johannes von Kronstadt, in jedem Asketen, in jedem Märtyrer, in jedem Bekenner, in jedem Gerechten russischer Erde. Wunderbar ist Gott in den russischen Heiligen. Schaut, wie wunderbar göttlich Er in Vater Johannes von Kronstadt ist! So wunderbar, daß Vater Johannes wahrhaft ein Heiliger der russischen Erde ist.
In neueren Zeiten schuf die russische Seele ihr vollkommenstes Paradies in der Gestalt des ehrwürdigen Vaters Johannes von Kronstadt. Zweifellos, daß er ein Paradies für die gemarterte russische Seele war. Wie? Durch seine Askesewerke lud er den Herrn Christus in sich ein, und mit Ihm das ganze Paradies und die ganze himmlische Anmut. Es ist eine bekannte Tatsache: Jede evangelische Wahrheit bringt ein wenig vom Paradies in die menschlichen Seele; und wenn sie sich alle im Menschen versammeln, dann bricht hier das ganze Paradies an, mit allen seinen ewigen Vollkommenheiten. Wo sind die evangelischen Tugenden so lebendig, so aktiv, so unsterblich wie in den Christusträgern? Daher stellen sie das Paradies Christi auf Erden dar.
Und erneut: Was ist das Paradies? Nichts anderes als das verwirklichte Evangelium, das gelebte Evangelium. Und mehr noch: das Paradies – das ist der vom Menschen erlebte Herr Christus in der Fülle seiner Gottmenschlichen Persönlichkeit. Nach Art der apostolischen Erfahrung: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir (Gal. 2, 20). Und Christus lebt im Menschen durch seine gottmenschlichen Tugenden. Diese Tugenden dringen ständig in die Seele und verdrängen allmählich Sünde, Böses, Tod und Teufel aus ihr, so daß dort das Gute, die Liebe, die Wahrheit, die Unsterblichkeit und Gott herrschen.
Glaubt meiner Hypothese: Der Hl. Johannes von Kronstadt ist das Paradies für die russische Seele. Laßt euer Denken von seinem heiligen Denken durchdringen. Ist es etwa nicht ein Paradies für eure Gedanken? Vertieft eure Gefühle in seine heiligen Gefühle. Sind sie etwa nicht ein Paradies für eure Gefühle? Laßt eurer Herz von seinem heiligen Herzen berühren. Ist es etwa nicht ein Paradies für euer Herz? Seine evangelische Barmherzigkeit, seine evangelische Sanftmut und Liebe – sind sie etwa nicht ein ewiges Paradies und ewige Freude eurer Seele?
Man darf nicht vergessen: Wo Christus herrscht, dort ist das Paradies. Herrscht Er in deinen Gedanken – schau, dann bist du im Paradies! Herrscht Er in deinen Gefühlen, deinen Wünschen, deinen Werken – schau, du bist im Paradies! Eine andere Bezeichnung für Paradies ist Königreich Gottes. Der heilige Gottesstreiter von Kronstadt spricht: “Wenn Gott in allen Gedanken, Wünschen, Absichten, Worten und Taten des Menschen ist, dann kommt das Reich Gottes zu ihm; er sieht dann in allem Gott: in der Welt der Gedanken, in der Welt der Werke und der Welt der Stofflichkeit.” (Erzpriester Ioann Ilji¡c Sergiev, Mein Leben in Christus, Bd. 1, Moskau 1894, S. 101).
Furcht erfaßt unser Herz: Die Hölle ist in uns, die Hölle ist um uns. Wie sollen wir unsere Hölle in ein Paradies verwandeln? Indem wir aus ihr alle Sünden, alle Laster, alle Dämonen ausrotten und das evangelische Gute, die asketischen Tugenden und Kräfte des Evangeliums ansiedeln. Umso mehr das Evangelium ins Leben gebracht wird, in einem umso größeren Umfang wird das Leben zum Paradies. Diese Welt war einst ein Paradies, aber die Menschen verkehrten sie freiwillig in die Hölle. Doch die Heiligen errichten wieder das Paradies kraft ihrer wundertätigen Heiligkeit. Der heilige Gottesstreiter von Kronstadt tat dies sein ganzes Leben lang: Zuerst bereitete er das Paradies in seiner Seele und dann stellte er es durch sein heiliges Leben in den Menschen um sich herum wieder her. Dort, wo der Christusträger von Kronstadt haltmachte, dort verwandelte sich die Erde ins Paradies. Von dort, wo er eintrat, floh das Böse und das Gute kehrte ein.
Durch seine evangelischen Heldentaten stellt er allerorten das Paradies in der russischen Seele wieder her. Richtet er etwa nicht das Paradies in der russischen Seele wieder auf, wenn er Wahnsinnige heilt, den Teufel aus ihnen austreibt? Wißt ihr noch: Er heilte einen Besessenen, der sehr an jenen Gerasener erinnert. Er heilte eine besessene Frau, und zwar durch die gebieterischen, evangelischen, allmächtigen Worte: “Fahre aus!” Und weiterhin: Er heilte einen Menschen, in dem offensichtlich der Teufel Wohnung genommen hatte (I.K. Surskij, Vater Ioann von Kronstadt, Belgrad 1938, S. 203, 240, 255-256).
Irrsinn ist der allerschrecklichste Fluch, welchen die Sünde auf die menschliche Natur herabzieht. Aber der Heilige von Kronstadt heilt die Menschen auch vom Irrsinn. Erschütternde Beispiele solcher Wunderheilungen beschreibt I.K. Surskij in seinem Buch. Es genügte, daß der Heilige zu Gott betete, damit der böse Geist des Irrsinns den Menschen verließ. Heilung vom Wahnsinn – ist dies etwa nicht eine Rückführung des Menschen in den Zustand vor dem Fall, den paradiesischen Zustand? Und die Wunderkraft des Beters von Kronstadt war gleich der apostolischen. Nicht nur heilte er persönlich von den verschiedensten Krankheiten, sondern dassellbe vollbrachte auch sein Gewand. So wurde vor einigen Jahren eine geisteskranke Frau durch sein Halstuch geheilt. Zeugen dessen befinden sich unter uns. Erinnert euch dies nicht an die Apostelgeschichte, wo von Wundern die Rede ist, die durch das Kopftuch des Apostels Paulus gewirkt wurden?
Unzählig sind die Wunder des Kronstädter Wundertäters. Wer könnte sie aufzählen? Er heilt von allen nur möglichen Krankheiten. Vor uns ziehen evangelische Wunder vorüber, eines erstaunlicher als das andere. Verweilen wir nur bei zweien, die wie aus dem Evangelium in unsere Zeit versetzt scheinen. Da ist eines: Der heilige Wundertäter heilte aus der Ferne den Sohn, zu dessen Vater er spricht: “Geh, dein Sohn ist gesund!”. Das andere ist ein Wunder, an dem der Vater einer kranken Tochter beteiligt war, der nun hier unter uns weilt. Der Heilige heilte seine Tochter aus der Ferne, nach der Weise des Evangeliums, indem er zum Vater sprach: “Es geschehe Ihnen nach Ihrem Glauben!”. (I.K. Surskij, ebenda, S. 244-246).
In vielem erinnert der Kronstädter Wundertäter an den Hl. Nikolaus, den Wunderwirker. Denn er erschien selbst während seines irdischen Lebens auf Entfernung und heilte von verschiedenen Gebrechen: Geisteskrankheiten, Diphtherie, Stummheit.
Wir Orthodoxe brauchen nicht zwei Tausend Jahre zurückzugehen, um evangelische Wunder zu schauen. Hier sind sie, unter uns, denn der Apostel von Kronstadt vollbringt Evangeliumswunder vor unseren Augen. Er erweckt sogar tote Kinder. Ist dies etwa nicht ganz so, wie im Evangelium? Manifestiert sich vor unseren Augen nicht die vielgestaltige göttliche Kraft, welche der Heiland seinen apostolischen Nachfolgern gab und immer noch gibt, wenn Er ihnen befiehlt: Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, reinigt Aussätzige, treibt böse Geister aus! (Mt. 10, 8).
Mit seinem evangeliumsgleichen Leben und Wirken schreibt der Kronstädter Apostel fast ein fünftes Evangelium. Darüber hinaus hat er noch die Gabe der Hellsicht: Er liest die Gedanken der Menschen, er sieht in der menschlichen Seele das, was nur der allsehende Gott sehen kann.
Worin liegt das Geheimnis solch eines evangelischen, apostolischen Wundertäters, und worin besteht seine Kraft? In dem gelebten Evangelium, in der Erfüllung durch die evangelischen Gebote. Der Asket von Kronstadt wurde ganz Erbarmen in evangelischer Barmherzigkeit, er wurde ganz Demut in evangelischer Demut, er wurde ganz Gebet im evangelischen Gebetsgeist, er wurde ganz Liebe in der Evangeliumsliebe, er wurde ganz Heiligkeit in evangelischer Heiligkeit. Und so wurde er erfüllt von wunderbarer und wundertätiger göttlicher Kraft, einer Kraft, der weder Sünde, noch Tod, noch Teufel widerstreben können.
In dem ehrwürdigen Vater Johannes von Kronstadt ist das Ideal des Christen verwirklicht: die Vergöttlichung. Weil in der Vergöttlichung die Rettung ist! Der Mensch kann sich nicht genug wundern über die Größe dieses Gottesstreiters russischer Erde. Er ist das wandelnde Evangelium. Durch ihn strahlt jenes evangelische Wunder, welches am Tage des heiligen Pfingsten in dieser Welt erschien, und nun wandelte es unter uns in seiner bezaubernden Persönlichkeit. Unsere Berufung ist die Heiligkeit. Nach dem Hl. Apostel Paulus ist der Christ dazu berufen, heilig zu sein. Wenn wir Christen sind, so bedeutet dies, daß wir Anwärter auf Heilige sind. Der Unterschied zwischen uns und den Heiligen besteht nicht in der Natur, sondern im Willen und in der Entschlossenheit.
Die Orthodoxie hat ihre spezifische Apologetik. Sie ist die Heiligkeit. Und ihre spezifischen Apologeten. Sie sind die Heiligen. Die Orthodoxie verteidigt sich apologetisch am erfolgreichsten durch Heiligkeit. Weil durch die Heiligkeit des Heiligen der Herr Christus Sich manifestiert, Sich verkündet, Sich erläutert. Wunderbar ist Gott in Seinen Heiligen. Wunderbar ist Er auch in Seinem heiligen Knecht, dem Vater Johannes von Kronstadt, so wunderbar, daß er unwiderstehlich alle lebendigen Herzen und alle erwachenden Gewissen an sich zieht. Braucht man nach dem Asketen von Kronstadt noch neue Beweise der Allwahrheit und Erlösungskraft der Orthodoxie suchen? Der, welcher Augen hat, zu sehen, kann in dem Apostel von Kronstadt die ganze Kraft und Allmacht der Orthodoxie sehen. Der, welcher Ohren hat, zu hören, kann hören, daß Gott auch heute noch durch den neuen Apostel Sein ewiges Evangelium verkündet.
Mich berührt besonders die Barmherzeigkeit des heiligen Apostels von Kronstadt. Er war von Erbarmen erfüllt für alle und alles. Bewegt von evangelischer Mildtätigkeit, gab er den Armen alles, was er hatte. Einmal gab er sogar seinen Mantel und seine Schuhe weg, und ausgezogen und barfuß kehrte er nach Hause zurück (I.R. Surskij, ebenda, S. 20). Und sein Erbarmen erstreckte sich auf alle Wesen. Er hatte jenes “erbarmungsreiche Herz”, worüber der Hl. Isaak der Syrer so rührend sprach. Jedem beliebigen Menschen muß man mit Erbarmen begegnen, zärtlich und voller Liebe. Folgende Maßregel empfiehlt der Heilige von Kronstadt: Wenn Du irgendeinen Menschen siehst, so sage dir: “Der Herr Selber war in allem diesem Menschen gleich, außer der Sünde” (Mein Leben in Christus, S. 205).
Dieses zärtliche Mitleid schöpfte der Heilige aus seinem Gebetsgeist. Man kann kühn behaupten: Er lebte und atmete im Gebet. Daher redet er sehr viel über das Gebet als den Atem der Seele. Auf die Frage, wie er seine freie Zeit verbringe, antwortete er: “Ich bete, ich beste ständig. Ich verstehe einfach nicht, wie man die Zeit ohne Gebet verbringen kann. Wahrhaftig, das Gebet ist der Atem der Seele” (I.K. Surskij, ebenda, S. 174).
Der ehrwürdige Vater Johannes von Kronstadt ist der paradiesische Ausweg für die russische Seele aus all ihren Schwierigkeiten. Und nicht nur für die russische, sondern für jede Seele, für jede menschliche Seele überhaupt. Gibt es ein Problem, sei es ein russisches, serbisches, menschliches, welches nicht in ihm seine paradiesische, seine endgültige, seine ewige Lösung finden würde? Gibt es solch einen schwierigen und tragischen Gedanken, welcher in ihm nicht seine paradiesische Fortführung, Vertiefung, Unsterblichkeit finden würde? Gibt es solch ein quälendes und schwer lastendes Gefühl, welches in ihm nicht seine paradiesische Verklärung, Erleuchtung, Erfrischung finden würde? Eine bittere Frage unserer chaotischen Zeiten ist: Wie kann die russische Seele ihr verlorenes Paradies wiedergewinnen? Nur durch eines: Wenn die russische Seele mit all ihren Schmerzen, Problemen, ihrem Unheil und ihren Wunden dem Apostel von Kronstadt glaubt und sich ihm, Vater Johannes, hingibt, damit er sie durch das gegenwärtige Chaos und in die Ewigkeit der Wahrheit und Gerechtigkeit Christi führe. Das, was für die russische Seele gilt, gilt auch für die serbische: Nur jene von den Heiligen Geführte können der Hölle entfliehen und ins ewige Paradies des Lebens Christi eintreten. Tatsächlich errichtet die Seele in sich das Paradies, wenn sie mit den Heiligen verkehrt und in der Gebetsgemeinschaft mit ihnen lebt. Weil die Heiligen die Sünden, die Laster und Leidenschaften, welche die Seele zur Hölle machen, aus ihr hinausdrängen und sie stattdessen mit göttlicher Wahrheit, Liebe und Gerechtigkeit erfüllen, wodurch sie ins Paradies verwandelt wird.
Das ganze Leben und das ganze Wirken des heiligen Gottesstreiters von Kronstadt zeigen uns und lehren uns, wie der Mensch das Paradies in sich und in der Welt um sich schaffen und die Hölle in sich und in der Welt um sich vernichten kann. Wenn wir das Evanglium des Hl. Johannes von Kronstadt in einem Gedanken zusammenfassen wollten, dann würde er lauten: Durch Sünden und Laster schafft der Mensch die ewige Hölle in sich, aber durch evangelische Tugenden schafft er sein ewiges Paradies.