Die Neumärtyrer Rußlands
Die Neumärtyrer Rußlands
Der Bekenner des Russischen Landes:
Vor 70 Jahren - Wiederherstellung des Patriarchenamtes in Rußland
Seine Heiligkeit, Patriarch Tichon, Bekenner unter den Neomärtyrern Rußlands
Wie bereits in der letzten Ausgabe des "Boten" (6/1987) vermerkt, erfolgte vor 70 Jahren - am Fest der Einführung der Allerheiligsten Gottesgebärerin in den Tempel - die Inthronisierung des neugewählten Patriarchen Tichon. Jetzt darüber zu schreiben, bedeutet aber keineswegs, eines längst vergangenen Ereignisses zu gedenken, das etwa an Aktualität verloren hätte...
In zwei aufeinanderfolgenden Nummern publizierte die sowjetische Zeitschrift "Nauka i religija" (Wissenschaft und Religion) unter dem Titel "Im Umbruch - Das Kirchenkonzil von 1917-1918" (Nr. 11 u.12/1987) einen umfangreichen Artikel zu diesem Ereignis in dem Ton, wie er für eine atheistische Propagandazeitschrift charakteristisch ist. Auch die "Zeitschrift des Moskauer Patriarchats" (kurz: ZMP Nr.11/1987) reagierte. Da heißt es: "Wir gratulieren herzlich unseren Brüdern und Schwestern, den Kindern der Russischen Orthodoxen Kirche, und allen Landsleuten..." - nein, nicht zum Fest der Einführung der Allerheiligsten Gottesmutter in den Tempel, auch nicht zur 70 -Jahrfeier der Wiederherstellung des Patriarchenamtes (weder das eine noch das andere wird erwähnt), vielmehr gratuliert der Patriarch Pimen in seinem Sendschreiben zur Entstehung der gottlosen Herrschaft, des Systems also, welches in der Kirchenverfolgung über zweihundert Bischöfe vernichtete, zehntausende im Priester- und Mönchsstand, unzählige Neomärtyrer im ganzen Volk, - welches vor dem Krieg in unserem leidenden Vaterland die Zahl der orthodoxen Gotteshäuser von ca. 70 000 auf etwa 400 (niemand kennt die genaue Zahl) reduzierte, wobei nur 4 Bischöfe im Amt verblieben mit einer Handvoll eingeschüchterter Priester. Und wenn am Ende des Krieges mehr als 23 000 Kirchen durch die Anstrengungen des Volkes wiederhergestellt waren, so war diese Staatsmacht bald nach ihrer Konsolidierung wieder darauf aus, Kirchen zu schließen. In zwei Jahren 1959-61 wurde die Hälfte geschlossen. Im Jahre 1961 waren es nur mehr 11 742, und weiter: 1966 - 7523, 1971 - 7274, 1976 - 7038, 1981 - 7007, 1986 - 6794 Kirchen (wie jetzt eine "führende Persönlichkeit" dieser Macht verlauten ließ1. In dem Sendschreiben aber heißt es: "Wir begrüßen innigst und gratulieren den führenden Persönlichkeiten unseres Sowjetischen Staates und wünschen ihnen von Herzen Erfolg und Gottes Segen in ihrem Mühen zum Wohl unseres geliebten Vaterlandes und des Friedens in der ganzen Welt..." u.s.w. Im Geleitwort zur Ausstellung "Tausend Jahre Kirche in Rußland" (Hrsg. Evangelische Akademie Tutzing) schreibt Patriarch Pimen : "Nach dem Fall der Zarenherrschaft im Februar und der Einführung der sozialistischen Ordnung im Oktober 1917 wurde die Wiederherstellung des Patriarchats, der höchsten kanonischen Form der Kirchenordnung, möglich"2. Anders gesagt, der Sowjetmacht verdankt Rußland die Wiederherstellung des Patriarchenamtes...
Betrachten wir die Wiederherstellung des Patriarchenamtes in der historischen Perspektive und im Lichte der heutigen Zeit. Denn wahrlich: bedeutsam ist die Wiederherstellung des Patriarchenamtes in Rußland just in den Tagen der Entstehung einer gottlosen, antichristlichen Staats-macht, und groß ist der geistliche Weg des Martyriums des ersten Patriarchen nach der Wiederherstellung.
217 Jahre war der Patriarchenstuhl nicht besetzt. Als die Kathedra des Patriarchen im Jahre 1700 verwaiste, ließ Zar Peter I. die Neuwahl eines Patriarchen nicht mehr zu. Zum Jahre 1721 arbei-tete er mit dem Erzbischof Theophan Prokopowitsch die Grundlage zur völligen Abschaffung des Patriarchenamtes aus. Die Kirche wurde in die Staatskonzeption Peters so einbezogen, daß über dem Synod ein Staatsbeamter - der Oberprokuror - stand, keine geweihte Person, sondern ein Laie.
Ein solcher Bruch der inneren Kirchenordnung mußte schwere Folgen für das ganze Volk haben: "...die bolschewistische Gewaltherrschaft und die von ihr zum Gesetz erhobenen Unmenschlichkeiten haben wir als eine Strafe Gottes für den Bruch der kanonischen Reinheit der Kirche angenommen"3 - schrieb nach der Revolution Metropolit Antonij (Chrapovickij). Gerade er, der spätere Ersthierarch der Russischen Auslandskirche, war es gewesen, der - nachdem er sich in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts bereits als 7-jähriger für die Wiederherstellung des Patriarchenamtes in Rußland begeistert hatte - den Kampf für die Wiederherstellung der kanonischen Ordnung in der Russischen Kirche aufnahm. Wie kein anderer fühlte Vladyka Antonij, daß die Kirche sich in der Lage eines Verwundeten befand, dem auch noch die Hände gefesselt sind4. Als Mitglied des Hl. Synod erarbeitete Vladyka Antonij eine Resolution zur "Ordnung des inneren Lebens der Orthodoxen Russischen Kirche auf der Grundlage der kanonischen konziliaren (sobornyj) Leitung, bei voller Autonomie der Kirche in allen eigenen kirchlichen Angelegenheiten"5. Er war der Meinung, daß die Wiederherstellung des Patriarchenamtes durch die staatliche Anerkennung eines der rangältesten Hierarchen als Patriarchen (sei es des St.-Peters-burger Metropoliten als dem der Hauptstadt, sei es des Moskauer Metropoliten als dem, wo die Patriarchen-Kathedra stand) geschehen sollte. Der neue Patriarch könnte dann das Kirchenkonzil zusammenrufen. Wichtig war Vladyka Antonij daran, daß der Staat in dieser Weise selbst ein Recht zurückgeben würde, das er unrechtmäßigerweise der Kirche genommen hatte, und so Reue zeigen würde. Vladyka Antonij sah, daß die Regierung des Imperators, einschließlich des Zaren und des Oberprokurors K.P.Pobedonoscev, seinen Bestrebungen entgegenstand. Beschuldigungen und Verurteilung waren Vladyka Antonij fremd, doch den Weg, zu dem der Staat sich in der schwierigen historischen Situation entschied, hielt er für grundfalsch. Deshalb schrieb er in seinem Antrag noch im Jahre 1905, daß in den Umfragepunkten und dem Vortrag K.P.Pobedonoscevs über die Reform der Kirchenverwaltung in Rußland auf kanonischer Grundlage "der wichtigste Gedanke verschwiegen wird: die Wiederherstellung des Patriarchenamtes". "Wer kann bestreiten, daß das tägliche Leben der russischen Herde, alle antikanonischen Grundbestandteile in der Kirchenverwaltung, die Abkapselung der Priesterschaft zu einer Kaste, das Fehlen der von unserem Glauben geforderten Gemeinschaft mit den anderen orthodoxen Nationalkirchen - daß all diese Entstellung der Orthodoxie mit dem Fall des Patriarchenamtes begann? Wer kann bestreiten, daß das Patriarchenamt keineswegs aus den Gründen abgeschafft wurde, die im Reglement (Peters I.) angeführt werden als eine bewußte Lüge (und doch werden sie in der Schule auswendiggelernt), sondern nur zu dem Zweck, den wichtigsten Verteidiger der Kirchenordnung zu beseitigen, der sich mit der häretischen und heidnischen Ordnung des neuen Lebens nicht in Übereinstimmung bringen läßt. Wahrlich, hier erfüllte sich das prophetische Wort des Herrn: 'Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden auseinandergehen' (Matth. 26,31). Völlig zwecklos sind jetzt alle möglichen Debatten über irgendwelche Konzile, über eine Wiedergeburt der geistlichen Schulen, über die Wiedergeburt der Gemeinden, solange es keinen Patriarchen gibt"6 - schreibt Vladyka Antonij und sagt im weiteren die Entstehung des "Erneuerertums" voraus.
An gleicher Stelle zeigt Vladyka Antonij anhand von Beispielen die Methoden der vorliegenden Gesetzgebung und faßt zusammen: "...die synodale Gesetzgebung zeichnet sich, angefangen vom Reglement Peters I., dadurch aus, daß in ihr ganz bewußt alles nicht zu Ende ausgesprochen wird, oder umgekehrt zuviel herumgeredet wird, weil es unmöglich ist, direkt und offen eine derartige Versklavung der Kirche zum Gesetz zu machen"7.
Was die Behauptungen betrifft, das Patriarchenamt sei eine Art "Papsttum", antwortete Vladyka Antonij so: "Kann denn von papistischen Ansprüchen des Patriarchen die Rede sein bei der Erniedrigung des Glaubens selbst, in dem der letztere sich im 18. und 19. Jahrhundert befand? Im Gegenteil, die Regierung würde genötigt sein, sich ständig darum zu bemühen, daß die Patriarchen ihrer Rechtsverpflichtungen tiefer bewußt werden und nicht alles und jeden fürchten sollten, daß sie lauter und kühner ihre Stimme im Land erheben sollten, wenigstens in rein geistlichen, rein moralischen Fragen des Lebens. Und natürlich, nur unter der Bedingung einer solchen Kühnheit würden auch die übrigen Hirten ihr verbrecherisches Schweigen aufgeben...". Weiter spricht Vladyka Antonij von der Bereitschaft der Geistlichkeit jede beliebige Staatsmacht "zu verherrlichen"8. Vom "Lobpreis" einer gottfeindlichen Staatsmacht spricht Vladyka Antonij zwar nicht direkt, aber die Worte, die er zwölf Jahre vor ihrer Machtergreifung schrieb, verwirklichen sich heutigentags: so ist in Rußland, wie es scheint, der Thron des Patriarchen wiederhergestellt, dieses "wichtigsten Verteidigers der Kirchenordnung, der sich mit der häretischen und heidnischen Neuordnung des Lebens nicht in Einklang bringen läßt" (s.oben), aber im Namen des Patriarchen wird jetzt ein solches "neues Leben" hochgepriesen, von dem sich Peter I. nicht einmal träumen ließ!
Vladyka Antonij ging es nicht um die äußere Lage der Kirche, ihren äußeren Glanz, sondern um die Heilung einer geistlichen Pervertierung, die von innen her die Grundlagen des pastoralen Geistes untergräbt. Und auch das ist heute aktuell, wie vieles andere oben Gesagte.
...Am Tage des Entschlafens der Allerheiligsten Gottesgebärerin - dem 15. August 1917 - wurde in der Entschlafens-Kathedrale des Kreml das Allrussische Konzil der Russischen Orthodoxen Kirche eröffnet. Wenige Tage darauf hören wir: "Das Vaterland geht zugrunde. Nicht irgendein von uns unabhängiges Unglück ist der Grund dafür, sondern der Abgrund unseres geistigen Falls... Das Volksgewissen ist durch anti-christliche Lehren benebelt. Es geschehen unerhörte Taten von Frevel und Sakrileg; an verschiedenen Orten werden die Hirten aus den Gotteshäusern getrieben... die Schrecken eines Bürgerkrieges stehen vor der Tür..."9. In einem anderen Appell: "Wollt ihr etwa euer Wohlergehen auf den Trümmern und dem Aschenschutt des Heiligen Rußland aufbauen? Oder glaubt ihr euer persönliches Glück mit dem Untergang des Vaterlandes zu erkaufen? Für einen Treuebrecher, einen Verräter gibt es kein Glück. Grauenvoll ist das Glück eines Kain!"10. Das wurde noch vor der Machtergreifung durch die Kommunisten gesprochen.
Die neuen Machthaber vergriffen sich sogleich an der Freiheit des Wortes. So begann der Aufstand der Junker in Petrograd und Moskau, von dem Lenin sagte: "im Namen der Pressefreiheit wurde der Junkeraufstand organisiert, der Krieg in Petrograd und Moskau erklärt"11. Der Aufstand flackerte am 27. Oktober auf und dauerte eine Woche. Am 30. Oktober beschloß das Konzil die Wiederherstellung des Patriarchenamtes - am Wendepunkt der Epoche, unter dem Donner der Geschütze... Mit Recht durfte das Konzil befürchten, daß es von den Kommunisten auseinandergetrieben würde. Unaufschiebbar war die Schaffung der Grundlagen für die Zukunft der Kirche. Eine Zeit neuer Prüfungen war angebrochen, und das Konzil war sich dessen bewußt geworden. Jetzt endlich zeitigte das Werk Vladyka Antonijs - des Vorkämpfers für die Wiederherstellung des Patriarchenamtes - Früchte und wurde von Erfolg gekrönt (von "Nauka i religija" wird er mit unverhohlener Feindseligkeit als "inoffizieller Führer und eigentliches Idol" des Landeskonzils bezeichnet12. Im ersten Wahlgang (am 30.10.) erhielt Vladyka Antonij 101 Stimme, der Erzbischof Kyrill von Tambov - 27, der Metropolit von Moskau Tichon - 23. Am folgenden Tag (dem 31.10) waren mit dem Ziel der Bestimmung dreier Kandidaten zum Losentscheid drei Namen pro Wahlzettel erbeten. Nur Vladyka Antonij erhielt die vorausgesetzte absolute Mehrheit (159), zweiter und dritter Kandidat wurden später der Metropolit Tichon und der Erzbischof Arsenij von Novgorod und Staraja Russa.
Nach einer feierlichen Liturgie in der Erlöserkirche nahm Metropolit Vladimir von Kiev (der spätere Erstmärtyrer unter den russischen Hierarchen) das am Fuße der eigens dazu in die Kirche gebrachten Ikone der Gottesmutter von Vladimir stehende Kästchen, in dem drei Zettel mit den Namen der drei Kandidaten lagen, und segnete damit das versammelte Volk. Ein Starez, der Einsiedler der Zosima-Pustyn' Aleksij, zog das Los, welches auf den Metropoliten von Moskau Tichon fiel.
Die Inthronisierung wurde am Fest der Einführung der Allerheiligsten Gottesmutter in den Tempel gemäß einem neuerarbeiteten Ritus feierlich vollzogen. Aus den Reden der Teilnehmer dieses Ereignisses wird deutlich, daß bei der Inthronisierung in der Entschlafenskathedrale in der Trommel der Kuppel noch ein metergroßes, vom Artilleriebeschuß stammendes Loch klaffte. Der neueingesetzte Patriarch Tichon vermerkte die Bedeutung Vladyka Antonijs für die Wiederherstellung des Patriarchenamtes und ließ ihn durch den Gesang "auf viele Jahre" ehren. Vollendet war die Einsetzung auf den Patriarchenstuhl - der große Fürsprecher für das Russische Land war erschienen. Das Konzil bestimmte unter den Rechten und Pflichten des Patriarchen: "Insbesondere hat der Patriarch...die Pflicht zur Fürsprache vor der staatl. Macht"13. Der steile, sich emporwindende und steinige Aufstieg des Märtyrers für das Heilige Rußland, des Bekenners und Hohenpriesters Tichon nach Golgatha hatte begonnen.
Die Wiederherstellung der kanonischen Ordnung in der Russischen Orthodoxen Kirche war das Allernötigste als Antwort der Kirche Christi, der bisher ungekannte Prüfungen bevorstanden. Und im Ganzen wurde die Antwort gegeben. Ihr Träger wurde Patriarch Tichon.
Am Tage seiner Wahl wandte er sich an die Kirche. Er gedachte der Buchrolle, die dem Propheten Hesekiel von Gottgegeben worden war und in welcher "Klagen und Seufzen und Wehe" niedergeschrieben war (Hes. 2,10), und sagte: "Von jetzt an ist mir die Sorge für die Kirchen Rußlands auferlegt, und es steht mir das Sterben für sie durch alle Tage bevor", und er legte alles Vertrauen auf den Herrn und Seine Allerreinste Mutter, von deren Ikone das Los genommen worden war. Am Tage der Inthronisation bei der Entgegennahme des Patriarchenstabes sagte Patriarch Tichon u.a.: "... das Bischofsamt ist vornehmlich ein Dienst der Liebe. Der Oberhirte findet das verlorene Schaf und hebt es auf seine Schultern. Wahrlich, das Patriarchenamt wird in Rußland in einer unheilschwangeren Zeit wiederhergestellt, inmitten von Feuer und todbringendem Geschützdonner. Wahrscheinlich wird es auch selbst vielfach gezwungen sein, Maßnahmen des Verbots zu ergreifen, um die Ungehorsamen zur Vernunft zu rufen und die Kirchenordnung wiederherzustellen. Aber wie in alter Zeit der Herr dem Propheten Elias nicht im Sturm, nicht im Erdbebeben, nicht im Feuer, sondern in der Kühle, im Säuseln des stillen Windhauchs erschien, so wird auch jetzt auf unsere kleinmütigen Vorwürfe: 'Herr, die Söhne Rußlands haben Deinen Bund verworfen, Deine Altäre zerstört, die Heiligtümer der Kirchen und des Kreml' beschossen, Deine Priester gemordet', als Antwort das stille Wehen Deiner Worte hörbar: 'noch haben 7000 ihre Knie vor dem zeitgenössischen Baal nicht gebeugt und sind dem wahren Gott nicht untreu geworden'. Und es ist, als spräche der Herr zu mir so: 'Gehe hin, und finde die, um derentwillendas Russische Land vorerst noch steht und sich hält! - Aber verlasse auch die verirrten Schafe nicht, die dem Verderben geweiht sind, zur Schlachtung - wahrhaft armselige Schafe. Weide sie und nimm hierzu diesen Stab, den Stab des Wohlgefallens. Mit ihm suche das verlorene Schaf, das fortgetriebene führe zurück, verbinde das verwundete, festige das kranke, rotte das fette und wilde aus, weide sie gemäß der Wahrheit'. Hierin möge mir der Erste Hirte Selbst beistehen durch die Gebete der Allerheiligsten Gottesgebärerin und der Heiligen Hierarchen Moskaus. Gott segne uns alle durch Seine Gnade. Amen"14.
Man muß sich darüber klar werden, daß zwischen dem Allerheiligsten Patriarchen Tichon, dem Bekenner und Märtyrer der Russischen Kirche einerseits und der heutigen Realität des Patriarchenamtes anderereseits eine abgrundtiefe Kluft gähnt. Gerade deshalb versucht man jedoch, die Kluft wenigstens für das Auge zu kaschieren. Die Wiederherstellung des Patriarchenamtes wird in der "Zeitschrift des Moskauer Patriarchats" (11/87) nur unter der Rubrik "Zur 70-Jahrfeier des Großen Oktober" erwähnt, im Artikel "Die Russische Orthodoxe Kirche unter neuen historischen Bedingungen". Dieser Aufsatz des Rektors der Moskauer Geistlichen Akademie, des Erzbischofs Alexander, ist eine Beispiel für die wiederholten Versuche, die "Richtigkeit" der bedingungslosen Zusammenarbeit mit dem Sowjetregime zu "beweisen". Diese Grundhaltung wird hier willkürlich dem Patriarchen Tichon zugeschrieben, was nur auf Kosten von Fälschungen möglich ist: so erwähnt der Artikel mit keinem Wort die Tatsache, daß die Patriarchenwahlen deshalb in der Erlöserkirche stattfanden, weil der Kreml im Geschützfeuer der Bolschewiken lag. Die Reden des Patriarchen werden nicht zitiert, dafür aber seine Erklärung vom 16. Juni 1923 an das Oberste Gericht der RSFSR, die der Artikel als "Sendschreiben" (!) des Patriarchen ausgibt. Dabei bleibt unerwähnt, daß diese Erklärung im Gefängnis des GPU (später NKWD, MGB, KGB) unterzeichnet wurde, mit der Bitte aus dem Arrest freigelassen zu werden. Dort war der Patriarch jeglicher realer Informationen beraubt und befand sich unter grausamem psychologischen Druck, da er annahm, die Anhänger des "Erneuerer"-Schisma würden in der Kirche die Oberhand gewinnen.
Später heißt es in dem Artikel, daß "nach dem Ableben des Allerheiligsten Patriarchen Tichon im Jahre 1925 die Erneuerungs-Schismatiker eine äußerst unschöne Rolle spielten" (S.6). In Wirklichkeit spielte diese prosowjetisch eingestellte Gruppierung ihre unheilschwere Rolle nicht nach dem Ableben des Patriarchen, sondern gerade während seiner Haftzeit und in den Prozessen gegen die Priester, ab 1922. Sie wurde erst dann überflüssig, als es zu Ende der 20-ger Jahre den Machthabern gelungen war, das Moskauer Patriarchat selbst auf ähnliche Bahnen zu lenken15.
Der Patriarch trug den Schmerz um die Kirche Christi, die durch die Tücken des Widersachers von innen zerrissen wurde, in seinem Herzen, aber für die ZMP gestaltet sich dies (ohne Erwähnung der Gefängnishaft und der Erneuerer) alles sehr einfach und heißt dann "Respekt für die vom Volk getroffene historische Wahl": "In der Epoche des Neuaufbaus war es notwendig, das eigene Wertsystem mit den vom historisch konstruktiven und aktiven Teil des russischen Volkes gewählten Werten, d.h. mit den Werten der siegreichen Revolution, in Beziehung zu bringen"16. Bis zu seinem Ableben wurde tagtäglich auf den Patriarchen Druck ausgeübt.
Eine Woche nach dem Ableben des Oberhirten (am Tage der Verkündigung des Jahres 1925) wurde in der sowjetischen Presse ein sog. "Vermächt-nis" des Patriarchen Tichon abgedruckt, dessen Entstehung geheimnisumwoben ist. Eine ganze Reihe von Tatsachen lassen dieses Dokument als zweifelhaft erscheinen. Und das Kirchenvolk nahm das "Vermächtnis" nicht als echt an. Nicht einmal Metropolit Sergij gestattete sich einen Hinweis auf dieses Dokument, als er 1927 die Position angenommen hatte, welche das Moskauer Patriarchat jetzt dem Patriarchen Tichon zuschreiben möchte. Das Moskauer Patriarchat zitierte das "Vermächt-nis" bis zum Jahre 1944 nicht. Jetzt aber wird es in der ZMP hingestellt als "neuer Schritt in die Richtung" - "die eigenen traditionellen Werte mit den Werten des Sozialismus unter dem Vorzeichen eines positiven Dialogs in Beziehung zu bringen" (S.6). Mehr noch, der Patriarch Tichon habe mit seiner Abfassung "durch die Autorität und Überzeugungskraft des Ersthierarchen den Edelmut der Ziele der Sowjetsystems unterstrichen und so dem orthodoxen russischen Volk geholfen, sich den religiösen Sinn der revolutionären Veränderungen und den positiven Gehalt der heroischen Anstrengungen der neuen Sowjetmacht klarzumachen" (s. 6)!
Das ist wohl der Höhepunkt der Lüge: soll also die Rede von den "titanischen Anstrengungen" im jetzigen Sendschreiben des Moskauer Patriarchen im Geiste des Patriarchen Tichon sein...?! Wer das annimmt, der muß sich nicht nur von dem Heiligen Neomärtyrer lossagen, sondern auch alle Neomärtyrer des "falschen Bewußtseins" anklagen, dessen, daß sie "die edelmütigsten Bestrebungen" der neuen und gottlosen Herrschaft nicht "wertschätzten"... So wird die innere Trennungslinie der Russischen Kirche offenbar, dergegenüber niemand die Augen verschließen kann, der wirklich an Christus als den Weg, die Wahrheit und das Leben glaubt.
Wieviel wert sind die Einflüsterungen dieses Geistes, der ständig seine "friedensstiftende Tätigkeit" unterstreicht? Der Autor des Artikels im ZMP weist uns auf das Sendschreiben vom 18. März 1918 hin und sagt hierzu: "Der Allerheiligste Patriarch Tichon ruft dazu auf 'das Heimatland nicht auseinanderzureißen' - ein unter der roten Fahne vereinigtes Land" (S. 5). Der Text ist in Rußland nur Auserwählten zugänglich, und der Autor, der zu ihnen gehört, mag ihn nicht zitieren. Warum wohl? Betrachten wir ihn näher: "... Menschen sind aufgetreten, die sich vom Glauben lossagten, Verfolger der Kirche Gottes, und sie haben dem Volk Frieden gegeben. Aber ist dies der Friede, für den die Kirche betet, den das Volk ersehnt?... Der Bruderkrieg im Innern ist nicht nur nicht beendet, sondern verschärft sich mit einem jeden Tag. Der Hunger verstärkt sich... Es mehren sich Raub und Mord... Wird der erklärte Frieden diese zum Himmel schreienden Mißstände abschaffen? Weh', denn es erfüllen sich die Worte des Propheten: 'Sie sprechen Friede, Friede, und da ist doch kein Friede...' Dieser Frieden, der im Namen des russischen Volkes unterzeichnet wurde, wird nicht zu einem brüderlichen Zusammenleben der Völker führen. Es gibt in ihm keine Ansätze für eine Befriedung und Aussöhnung, sondern die Samen der Bosheit und des Menschenhasses sind darin gesät. In ihm keimen neue Kriege und Schrecken für die ganze Menschheit..."17.
Dieser kurze Vergleich zeigt, zu welcherart Falsifikation gegriffen wird, um nur die angebliche "Nachfolge" des Moskauer Patriarchats im Erbe des Patriarchen Tichon "vorzuweisen".
Das Wort des Patriarchen über die "friedens-stiftende Tätigkeit" auf den Wegen der Gottlosen hat sich bewahrheitet - bis hin zu dem längsten Krieg, den das Sowjetregime je führte: dem afghanischen Krieg. Über diesen schweigen sich bis heute die "Friedensstifter" aus, ja sie widersetzten sich seiner Erwähnung im "Weltkirchenrat" (in Vancouver)... Doch bis heute klingt über sieben lange Jahrzehnte der Ruf des echten Patriarchen der Russischen Kirche zu uns:
"Zu dir aber hin entbrennt in Mitleid mein Herz bis in den Tod, du verführtes, unglückliches russisches Volk. 'Durch Tränen vergehen meine Augen, meine Eingeweide wallen' (Klagelied des Jeremias 2,11) angesichts deiner bitteren Schmerzen und in der Vorahnung noch größerer Leiden..."18. Dieses Mitleid bestimmte das Martyrium des Patriarchen, des Schutzengels der Russischen Kirche.
Hier sei noch vermerkt, daß am 5/18. April 1918 das Konzil bestimmte: "Festgesetzt seien in ganz Rußland auf den Tag des 25. Januar, bzw. auf den darauffolgenden Sonntag (Abend), alljährliche Gedenkgottesdienste für alle in der jetzigen schlimmen Zeit der Verfolgungen gestorbenen Bekenner und Märtyrer" - ebenso sollten alljährlich "dort, wo es Bekenner und Märtyrer gab, die für den Glauben und die Kirche ihr Leben ließen, Prozessionen zu ihren Grabstätten abgehalten werden, wo feierliche Totengottesdienste zu halten sind, mit einer Verherrlichung ihres heiligen Gedenkens durch das (gepredigte) Wort"19. Ebendiese Konzilsbestimmung war der Beginn der Verherrlichung der Hll. Neomärtyrer und Bekenner.
Was den "Bruderkrieg" anbelangt, so sprach hierüber noch vor Beginn des Allrussischen Konzils bereits der Geheiligte Synod (22.7. u. 2.8. 1917). Und auch durch das Konzil war bereits lange vor der Wahl des Patriarchen gesagt worden: "Ihren geheiligten Geboten treu, nimmt die Orthodoxe Kirche am Kampf politischer Parteien nicht teil. Und doch kann sie jetzt, ebenso wie in den Tagen des priesterlichen Märtyrers, des Patriarchen Hermogen, nicht gleichgültige Zuschauerin des Zerfalls und Verderbens der Heimat sein... Der Bruderzwist muß verhindert, der Brudermord endgültig beseitigt sein... Die Staatsmacht darf nicht parteilich sein, sondern muß die des ganzen Volkes sein. Das ganze russische Volk umfassend kann jedoch nur eine Macht sein, die sich vom Licht des christlichen Glaubens leiten läßt"20.
Es trifft zu, daß der Patriarch die Weiße Bewegung nicht segnete, weil er die Kirche nicht mit der Politik vermischen wollte. Aber in der ZMP gründet man sich darauf, um den Patriarchen Tichon nach dem eigenen Bilde und Gleichnis "umzuschnei-dern": er habe sich so für "ein unter der roten Fahne vereinigtes Land" verwandt (s.oben)... Was schrieb nun aber der Patriarch selbst, etwa zum Jahrestag des Umsturzes an den "Rat der Volkskommissare"?
"Ihr habt das ganze Volk in einander verfeindete Lager gespalten und es in einen Bruderkrieg von nie gekannter Grausamkeit gestürzt. An die Stelle der Liebe Christi habt ihr unverhohlen den Haß gesetzt, und anstatt Frieden zu schaffen, habt ihr künstlich die Klassenfeindschaft entfacht. Für diesen Krieg, den ihr erzeugt habt, ist kein Ende abzusehen, weil ihr bestrebt seid, mit den Händen der russischen Arbeiter und Bauern dem Gespenst der Weltrevolution zum Sieg zu verhelfen.
Nicht Rußland war es, das den Schandfrieden, den ihr mit dem äußeren Feind geschlossen habt, brauchte, sondern ihr, die ihr euch zum Ziel gesetzt habt, den inneren Frieden endgültig zu zerstören. Niemand fühlt sich außer Gefahr; alle leben in ständiger Angst vor Durchsuchung, Beraubung, Aussiedlung, Verhaftung, Erschießung. Zu Hunderten werden wehrlose Menschen gegriffen, monatelang schmachten sie in Gefängnissen, ja man richtet sie hin, oft ohne jede Untersuchung und Gericht, sogar ohne das von euch eingeführte vereinfachte Gerichtsverfahren. Es werden nicht nur solche hingerichtet, die sich euch gegenüber etwas haben zuschulden kommen lassen, sondern auch solche, von denen auch ihr wißt, daß sie völlig unschuldig sind und nur als 'Geiseln' genommen wurden, diese Unglücklichen werden ermordet aus Rache für Verbrechen, die von Menschen begangen wurden, welche nicht nur nicht deren Gleichgesinnte sind, sondern oft sogar eure eigenen Anhänger oder euch von der Überzeugung her Nahestehende. Bischöfe, Priester, Mönche und Nonnen werden hingerichtet, obwohl sie völlig unschuldig sind, einfach aufgrund der allgemeinen Bezichtigung irgendeiner verschwommenen und unbestimmten "konterrevolutionären Einstellung". Die unmenschliche Hinrichtung wird für die Orthodoxen noch dadurch erschwert, daß sie der letzten Tröstung vor dem Tode - der Wegbereitung durch die Heilige Kommunion - beraubt werden, und dadurch, daß die Leiber der Getöteten den Verwandten zum christlichen Begräbnis nicht freigegeben werden.
Ist all das nicht der Gipfel sinnloser Grausamkeit seitens derer, die sich als Wohltäter der Menschheit ausgeben und angeblich früher selbst viel seitens einer grausamen Administration zuleiden hatten?
Doch es genügte euch nicht, daß ihr die Hände des russischen Volkes mit Bruderblut befleckt habt; unter dem Deckmantel verschiedener Bezeichnungen - Kontributionen, Requisitionen und Nationalisierungen - habt ihr es zum offenen und unverhohlenen Raub angestiftet... durch die Möglichkeit einer leichten und straflosen Bereicherung habt ihr sein Gewissen vernebelt und in ihm das Bewußtsein der Sünde erstickt...
Ihr habt Freiheit versprochen... Die Freiheit ist ein hohes Gut, wenn sie richtig verstanden wird, als Freiheit vom Bösen, die die anderen nicht bedrängt, die nicht zu Willkür und Zügellosigkeit ausartet. Aber gerade diese Freiheit habt ihr nicht gebracht: die von euch gegebene Freiheit besteht in allerlei Schmeichelei an die niederen Leidenschaften der Menge, in Straflosigkeit für Mord- und Raubtaten. Alle Äußerungen sowohl der bürgerlichen, als auch der höheren geistigen Freiheit der Menschheit werden von euch erbarmungslos unterdrückt. Ist denn das Freiheit, wenn niemand ohne Sondererlaubnis sich seine Lebensmittel transportieren, eine Wohnung mieten oder vermieten oder seinen Wohnort wechseln darf? Ist das Freiheit, wenn Familien, bisweilen sogar die Einwohnerschaft ganzer Häuser vertrieben und ihre Habe auf die Straße geworfen wird, wenn die Bürger künstlich in Kategorien aufgeteilt, von denen dann bestimmte (Kategorien) dem Hunger und der Beraubung preisgegeben werden? Ist das etwa Freiheit, wenn niemand offen seine Meinung äußern darf, ohne befürchten zu müssen, daß er der Konterrevolution angeklagt wird? Wo ist die Freiheit des Wortes und der Presse, wo - die Freiheit kirchlicher Predigt? Schon haben viele mutige kirchliche Prediger ihren Mut mit ihrem Märtyrerblut bezahlt... die Presse ist, außer der eng bolschewistischen völlig erstickt. Besonders schmerzvoll und grausam ist die Verletzung der Freiheit in Sachen des Glaubens. Kein Tag vergeht, ohne daß in euren Presseorganen die ungeheuerlichsten Verleumdungen gegen die Kirche Christi und ihre Diener erschienen, Spöttereien und bösartige Gotteslästerungen. Ihr verhöhnt die Diener des Altars... Ihr legtet eure Hand auf das kirchliche Eigentum, daß von Generationen gläubiger Menschen gesammelt wurde, und bedenkenlos handeltet ihr deren letztem Willen zuwider. Ihr habt eine Reihe von Klöstern und Hauskirchen geschlossen, ohne jeden Anlaß. Ihr habt den Zugang zum Kreml', diesem heiligen Erbgut des ganzen gläubigen Volkes, gesperrt21. Ihr zerstört die herkömmliche Form der kirchlichen Gemeinschaft - die Pfarrei, vernichtet die Bruderschaften und andere kirchlich-wohltätige und erzieherische Einrichtungen, ihr treibt Diözesanversammlungen auseinander, mischt euch in die innere Verwaltung der Orthodoxen Kirche ein. Ihr werft die geheiligten Bilder aus den Schulen hinaus und verbietet, den Kindern den Glauben zu lehren, und beraubt sie so der für eine orthodoxe Erziehung notwendigen geistlichen Nahrung.
... Ja, wir durchleben eine furchtbare Zeit unter eurer Herrschaft, und lange noch wird die Seele des Volkes nicht ausgeheilt sein von dieser Herrschaftsperiode, die das Bild Gottes in ihr verdunkelte und ihr als Siegel das Bild des Tieres einprägte.
... Wir wissen, daß unsere Anklage bei euch nur Zorn und Unwillen hervorrufen wird, und daß ihr darin nur einen Anlaß suchen werdet, uns des Widerstandes gegen die Staatsgewalt zu beschuldigen, aber je höher euer 'Turm der Bosheit' sich erheben wird, desto sicherer wird das von der Wahrheit unserer Anklagen zeugen.
Es ist nicht unsere Sache, in Dingen irdischer Macht Richter zu sein, jede Herrschaft, die von Gott zugelassen ist hätte unseren Segen auf sich gezogen, wenn sie wahrhaftig 'Gottes Dienerin' wäre, zum Guten für die Untertanen und 'nicht ein Schrecken für das gute Werk, sondern für das böse' (Röm. 13, 3-4). Jetzt aber wenden wir an euch, die ihr eure Macht gebraucht zur Verfolgung der Nächsten, zur Ausrottung von Unschuldigen, unser Wort der Ermahnung: feiert den Jahrestag eurer Machtausübung mit der Freilassung der Gefangenen, mit dem Ende des Blutvergießens, der Gewalt, der Verwüstung, der Bedrängung des Glaubens..."22.
Auch dieses Sendschreiben zum ersten Jahrestag der Sowjetmacht klingt im Verlaufe aller sieben Jahrzehnte! Sollen wir es mit der Huldigung zur 70-Jahrfeier vergleichen...?
In ZMP wird kein Wort über das Anathema gesagt, das der Patriarch im Januar 1918 verkündete. "Nauka i religija" jedoch zitiert das Anathema als Versuch das "Dekret über die Trennung von Kirche und Staat" vorwegzunehmen: "Verfluchun-gen der Sowjetmacht, ihre öffentliche und direkte Anathematisierung, Aufwiegelung des fanatischsten Teil der Gläubigen gegen sie, Provozierung von 'Märtyrertum'..."23. Betrachtet man jedoch die Verwendung des Anathema - ohne Vorurteile - , so ist es ja nur auf Orthodoxe aufwendbar, worauf der Patriarch auch hinweist. Hier werden von der Hl. Kommunion Personen ausgeschlossen, die in der Orthodoxen Kirche getauft waren, sich jedoch zu Mördern und gottlosen Verfolgern der Kirche verwandelt hatten. Der Ausschluß klärt nur ihr Verhältnis zur Kirche und ruft gleichzeitig die Verblendeten zur Reue. Der Ausschluß "der Sowjetmacht" als solcher von der Kommunion ist einfach ein Absurdum. Doch der Verfasser des Artikels in "Nauka i religija" spielt nicht nur mit dem Unwissen, sondern verwischt auch die Gründe für die Veröffentlichung eines solchen Sendschreibens. Nach den ersten Worten - "eine schwere Zeit hat heute die Hl. Orthodoxe Kirche Christi im russischen Land zu durchleben..." - ist der gesamte zweite Absatz ausgelassen: "Vergessen und verachtet sind die Gebote Christi über die Nächstenliebe - tagtäglich dringen Nachrichten über grausame und bestialische Morde an unser Ohr, deren Opfer unschuldige Menschen, ja oft sogar solche sind, die auf dem Krankenlager liegen, deren einzige Schuld unter Umständen darin besteht, daß sie ehrlich ihre Pflicht gegenüber dem Vaterland getan und alle Kräfte zum Dienste Gottes an ihrem Volk eingesetzt haben. Und all dies geschieht nicht nur im Schutz der nächtlichen Dunkelheit, sondern bei hellichtem Tage mit bislang unerhörter Frechheit und rücksichtsloser Grausamkeit, ohne jegliches Gericht und unter Mißachtung jeglichen Rechtes und Gesetzlichkeit. Dies gesachieht in unseren Tagen fast in allen Städten und Dörfern unserer Heimat: sowohl in dem Zentren als auch in den entfernten Randgebieten (in Petrograd, Moskau, Irkutsk, Sewastopol u.a.)".
Nach dieser Auslassung zitiert der atheistische Autor weiter "Das alles läßt unser Herz überströmen von tiefer, schmerzlicher Traurigkeit und zwingt uns, an diesen Abschaum der Menschheit ernste Worte der Anklage und Zurechtweisung zu richten nach dem Wort des Hl. Apostels: 'Die gefehlt haben, weise vor allen zurecht damit auch die anderen Furcht bekommen' (1 Tim. 5, 20). Kommt zu euch, ihr Wahnsinnigen..." und wiederum verdecken die Pünktchen Worte, die deutlich auf die Umstände hinweisen: "hört auf mit euren Blutbädern". Zitieren wir noch weiter, wobei das Ausgelassene in Kursiv erscheint: "Denn das, was ihr tut, ist nicht nur ein schreckliches Werk; das ist wahrhaftig das Werk Satans, für das ihr das ewige Feuer im künftigen Leben, nach dem Tode und den schrecklichen Fluch der kommenden Generationen im gegenwärtigen irdischen Leben verdient. Mit der uns von Gott verliehenden Macht verbieten wir euch, zu den heiligen Mysterien Christi zu treten, sprechen das Anathema gegen euch aus, soweit ihr noch christliche Namen tragt und zumindest durch eure Geburt zur Orthodoxen Kirche gehört.
Wir beschwören auch euch alle, ihr treuen Kinder der Orthodoxen Kirche Christi, in keinerlei Gemeinschaft mit solchem Auswurf des Menschengeschlechtes zu treten: 'schafft den Übeltäter aus eurer Mitte' (1 Kor. 5, 13). Schwerste Verfolgungen branden gegen die Hl. Kirche Christi: (es folgen einige Beispiele)... Wo sind die Grenzen dieser Schmähungen der Kirche Christi? Wie und wodurch kann man diesen Ansturm ihrer Feinde gegen sie beenden?
Wir rufen euch alle auf, ihr gläubigen und treuen Kinder der Kirche: erhebt euch zur Verteidigung unserer geschmähten und unterdrückten Heiligen Mutter. Die Feinde der Kirche ergreifen die Macht über Sie und Ihren Besitz mit der Kraft todbringender Waffen, doch ihr widersteht ihnen mit der Kraft eures Glaubens, eures gewaltigen Aufschreis des ganzen Volkes, der diesen Rasenden Einhalt gebietet und ihnen zeigt, daß sie kein Recht haben sich als Vorkämpfer für das Wohl des Volkes auszugeben, als Urheber eines neuen Lebens nach dem Gebot des Volksinteresses, denn sie handeln dem Gewissen des Volkes direkt zuwider.
Und wenn es notwendig wird für die Sache Christi zu leiden, dann rufen wir euch, geliebte Kinder der Kirche auf, mit uns zusammen zu leiden, mit den Worten des Hl. Apostels: 'was soll uns trennen von der Liebe Christi? Trübsal, Bedrängnis, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr oder Schwert?' (Röm. 8, 35).
Und ihr, meine Brüder im Bischofs- und Priesteramt, säumt nicht eine Stunde in unserer geistlichen Tätigkeit, sondern ruft eure Kinder mit glühendem Eifer zur Verteidigung der Rechte der Orthodoxen Kirche auf, die jetzt mit Füßen getreten werden, schafft unverzüglich christliche Gemeinschaften, ruft dazu auf, daß die Gläubigen nicht durch Nötigung sondern aus freien Stücken in die Reihen der geistiger Kämpfer eintreten, die der äußeren Macht die Kraft ihrer heiligen Begeisterung entgegenstellen..."24.
Es ist nicht schwer einzusehen, daß die Behauptungen des Verfassers der atheistischen Zeitschrift, demzufolge von niemandem irgendwelche Rechte verletzt wurden und der Patriarch lediglich zur Verteidigung "des Rechtes der Kirche, auch weiterhin ohne Kontrolle über grenzenlose Eigentümer zu verfügen"aufrief, eine Lüge ist. Der Patriarch "hetzte" niemanden auf und "provo-zierte" niemanden, als er zum geistlichen Widerstand aufrief. Das Wichtigste aber ist, daß die Anführer und Ausführenden der Blutbäder ausgeschlossen wurden. Es ist wichtig zu bemerken wie in unseren Tagen der "Offenheit" (glasnost') das Wort der Wahrheit des Heiligsten Patriarchen verdreht wird und dadurch Mörder verteidigt werden. Übrigens legen die Atheisten bei allem kirchlichen Unverständnis solcher Worte mit der Behauptung, das Anathema falle auf die Sowjetmacht, ein ganz klares Verständnis dafür dar, wer die Anführer der Blutbäder waren, die so elegant verschwiegen wurden. Solidarisieren sie sich nicht mit diesen Mördern, indem sie sie bis zum heutigen Tage durch Lügen schützen? Bemerkenswert ist auch, wie weitgehend die atheistische Zeitschrift und die "Zeitschrift des Moskauer Patriarchats" in den Methoden der Verdrehung der Wahrheit übereinstimmen. Wir werden hier schon nicht mehr von den folgenden Erschießungen bei Prozessionen im Frühjahr 1918 sprechen.
(Schluß folgt)
Priester Nikolai Artemoff
Priester Nikolai Artemoff
1 der Vorsitzende des "Rates für religiöse Angelegenheiten" K.M. Chartschew in "Nauka i religija" 11/1987, S.23
2 Katalog zur Ausstellung, Tutzing 1987, S. 12.
3 Bischof Nikon, Lebensbeschreibung des Seligsten Antonij... 17 Bde. (russ.), Bd. 3, S.20.
4 a.a.O., S. 17.
5 a.a.O., S. 28-29.
6 a.a.O., S. 36
7 a.a.O., S. 43
8 a.a.O., S. 44 f
9 Appell des Konzils vom 24.8.1917, s. Dokumentensammlung von L. Regelson, Die Tragödie der Russischen Kirche 1917-1945, (russ. Samisdat, u. Paris 1977) S. 208.
10 a.a.O., S. 210.
11 a.a.O., S. 215
12 vgl. NiR 11/87, S. 14 u. 16.
13 Dokument vom 8.12.1917, in: L.Regelson, S. 221.
14 Prot. M. Pol'skij, Neomärtyrer Rußlands,(russ.), Jordanville 1949, Bd. 1, S. 93
15 Die im Solovki-Kloster inhaftierten Bischöfe entlarvten die lügnerischen Erklärungen der "Erneuerer" über die angebliche Religionsfreiheit in der UdSSR (s. Bote Nr. 3/87, S. ), die weitgehend den Behauptungen gleihcne, die wir heuite von Vertretern des Moskauer Patriarchats hören. Die Verbindung von orthodoxen dogmatischen-kanonischen Grundsätzen mit den Standpunkten der "Erneuerer" ist eine Neuerung, die von Metropolit Sergij und seinen Anhängern allmählich eingeführt wurde. Hierbei werden die Formen der Orthodoxie beibehalten (worauf sich der Artikel in ZMP 11/87 besonders beruft), gleichzeitig aber die gottlose Lüge angenommen und die sowjetischen Fiktionen in den Geist der kirchlichen Gemeinschaft eingeführt. Dieses kann man als einen "Fortschritt der Lüge", als deren Verfeinerung bezeichnen. Was das Erneuerertum betrifft, so sollte folgende atheistische Bewertung bedacht werden: "Die Altkirchler waren unter dem Druck des Lebens selbst gezwungen, zu den Positionen der Erneuerer hinüberzuwechseln. Dies haben sie auch getan, aber unter ihrem eignenen kirchlich-administrativen Banner... die Masse der Gläubigen konnte den Erneuerern ihre frühere 'Sünde', nämlich das 'Verderben des Glauben' und die 'Verdrehung der Orthodoxie' durch ihre kirchlichen Reformen, nicht verzeihen. Die Altkirchler aber erklärten den Gläubigen lauthals (sie stellten ja diesen Fehler der Erneuerer in Rechnung), daß sie die 'Bewahrer des althergebrachten Glaubens seien', damit eroberten sie das Vertrauen der Gläubigen...
Die orthodoxe Patriarchatskirche nahm die von den Erneuerern vorbereitete Position ein. Der Übertritt der Patriarchatskirche auf die neuen Positionen war erzwungen: die Kirche mußte sich an die neuen Bedingungen anpassen, um sich von dem Verderben zu retten und ihre Daseinsberechtigung zu wahren. Diesen für die Kirche rettenden Weg bahnten die Erneuerer..." schreibt A. Schischkin (Das Wesen und die kritische Beurteilkung des Erneuerer-Schismas der Russischen Orthodoxen Kirche, s. L. Regel'son, S. 514f.). Wir haben es somit nicht mit einer eindeutigen, sondern zutiefst zwiespältigen Frage zu tun, die im Nebel der sowjetischen fiktionalen 'Wirklichkeit' ständig verwischt wird. Um diese verlogene Zwiespältigkeit zu verbergen, wurde es für den Verfasser des genannten Artikels notwendig, die Erneuerer erst nach dem Ableben des Allerheiligsten Patriarchen Tichon einzuführen.
16 ZMP 11/87, S. 5
17 Sendschreiben des Patriarchen Tichon über den Frieden von Brest, s. L. Regel'son, S. 234.
18 a.a.O., S.234.
19 a.a.O., S. 237.
20 am 1.9.1917, s. L. Regel'son, S. 211.
21 "Nauka i religija" beschreibt den letzten Ostergottesdienst in der Entschlafens-Kathedrale, der in der Nacht des 4/5. Mai bereits nur mit einer Sondergenehmigung zelebriert werden konnte (NiR 11/87, S. 17-18).
22 26.10.1918, s. L. Regel'son, S. 252-255.
23 Nauka i religija 12/87, S. 40
24 Vergleich und Ergänzung der Texte auf Grundlage von L. Regelson, S. 225 f., M. Polskij, B.1, S. 94 f., "Svjatejschij Tichon, Patriarch Moskovskij i vseja Rossii", Jordanville 1965, S. 78 ff.