Feodosij, Erzbischof von Astrachan' und Enotaj. Schreiben an den Generalsekretär des ZK der KPdSU M.S. Gorbacev mit der Bitte, zur Tausendjahrfeier der Taufe Rußlands das Kiever Höhlenkloster wieder zu öffnen, 20.10.87

Feodosij, Erzbischof von Astrachan' und Enotaj.
Schreiben an den Generalsekretär des ZK der KPdSU M.S. Gorbacev mit der Bitte, zur Tausendjahrfeier der Taufe Rußlands das Kiever Höhlenkloster wieder zu öffnen, 20.10.87
An den Generalsekretär des ZK der KPdSU Michail Sergeevic Gorbacev Kopien an: Seine Heiligkeit, den Heiligen Patriarchen Pimen; den Episkopat der Russischen Orthodoxen Kirche; den Vorsitzenden des Rates für kirchliche Angelegenheiten K.M. Charcev .

Sehr geehrter Michail Sergeevic!
Im Jahr 1961 wurde das dem Entschlafen der Gottesmutter geweihte Kiever Höhlenkloster, das wichtigste Heiligtum und das älteste Kulturzentrum unseres Volkes - angeblich für Restaurierungsarbeiten - geschlossen.
Seit dieser Zeit ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, und das Kloster steht immer noch ohne sichtbare Restaurierung. Sein wichtigstes Heiligtum und der Stolz unserer vaterländischen Architektur, die Entschlafenskathedrale, ist verfallen, die Näheren Höhlen sind in verwahrlostem Zustand, in den Entfernteren Höhlen sind viele Stellen mit Brettern vernagelt. Besonders erschreckend ist für das Herz des Gläubigen: wohin man auch schaut - überall sieht man geistige Verwahrlosung.
Die Reisebegleiter führen Touristen umher und erzählen beredt Märchen über die Mönche, die heiligen Reliquien und die Kirche, womit sie bei den Touristen Gelächter hervorrufen und bei den Gläubigen gerechte Empörung.
In den Höhlen liegen die heiligen Reliquien völlig vernachlässigt und in Unordnung. Einige von ihnen sind irgendwohin verschwunden., und in den Grabnischen ist nur die Aufschrift geblieben. In den einzelnen Nischen sind die Gebeine auf einen Haufen durcheinandergeworfen, irgendwie, unbedeckt, entblößt.
Hier gehen Polen, Franzosen, Deutsche, Amerikaner, Schweden, Spanier vorbei und betrachten sie mit verständnislosem Blick - ihnen ist unser Heiligtum möglicherweise unbegreiflich, aber bei sich daheim lachen sie nicht über den Staub ihrer Vä-ter, und sie erlauben auch niemandem, das zu tun.
Der Kiever Fürst Svjatoslav sagte einmal: "Tote kennen keine Schande".
Er hat recht. Die Schande, mit der die Toten von unseren Reiseführern überhäuft werden, em-pfinden die Toten nicht, aber sie wendet sich zu-rück und fällt reichlich, doppelt und dreifach, auf uns, die Lebenden.
Der zeitgenössische Schriftsteller V. Solouchin schreibt: "Ein Mensch, der fähig ist, ein Grab zu schänden, ist auch imstande, auf Lebende zu spucken. Ein Mensch, der fähig ist, seine eigene Mutter zu schmähen, macht kaum vor der Erniedrigung und Beleidigung fremder Mütter halt. Mehr noch, der Mensch, der fremde Gräber verwüstet, kann nicht sicher sein, daß man nicht auch sein eigenes Grab zerstören wird".
Als der persische König Darius in das Gebiet der Skythen einfiel, lieferten diese ihm keine Schlacht. Auf die Frage des Darius, warum sie vor ihm davonliefen, antwortete ihm ihr Anführer, daß sie nicht davonliefen, sondern nicht mit ihm kämpfen wollten, weil sie nichts vor ihm zu schützen hätten - keine bearbeiteten Felder, keine Häuser, keine Städte, und hier fügte er hinzu: "Aber wir haben die Gräber unserer Väter; versucht, sie zu zerstören, so werdet ihr wissen, ob wir uns mit euch schlagen oder nicht".
Die Gräber der Väter waren immer, zu allen Zeiten, bei allen Völkern geheiligt, auch bei den Skythen. Warum wissen nur wir das nicht? Und warum tritt man nur bei uns das Geheiligte mit Füßen?
Nach der Schließung des Höhlenklosters habe ich es mehr als einmal besucht. Und jedesmal wurde meine Seele betrübt und erfüllte sich mit Bitterkeit bei all dem, was ich dort sah und hörte.
Einige nehmen fälschlicherweise an, daß alle diese beschämenden Handlungen nichts anderes seien als atheistische Propaganda und Kampf gegen die Religion. Aber ich sehe in all dem ein Sakrileg und - nicht zuletzt - eine Beleidigung der Gefühle der Gläubigen.
Wie Exkursionsführer bestätigen, besuchen das Kloster sechs- bis achttausend Touristen pro Tag, und in den Sommermonaten erreicht diese Zahl sogar 14.000 und mehr. Insgesamt sind jährlich etwa zwei Millionen Menschen dort. Und all diese Menschen hören das unwürdige Geschwätz einiger bösartiger Führer. Welch tödliches Gift träufeln sie in menschliche Seelen!
Durch Gottes Gnade feiert die Russische Orthodoxe Kirche und unser ganzes Land im nächsten Jahr - 1988 - die tausendjährige Wiederkehr der Taufe Rußlands.
Dies ist ein großes und heiliges Datum für jeden von uns. Werden wir dieses Datum in der Kiever Lavra mit den Märchen der Touristenführer begehen, oder geben wir vielleicht endlich unseren ehrwürdigen Ahnen das ihnen Gebührende und erweisen uns als ihre würdigen Söhne?
Soweit mir bekannt, verleugnet keiner der jetzigen aufrichtigen Historiker, daß die Taufe der Rus' wohltuend auf die Entwicklung unseres Volkes gewirkt hat: auf seine Kultur, seine Sittlichkeit, Politik, Wirtschaft, Familienleben und viele andere Aspekte seines Daseins.
Wir würden größte Undankbarkeit erweisen, erinnerten wir uns in den Tagen dieser ruhmreichen Feierlichkeiten nicht mit guten Worten derer, die nun in den Kiever Höhlen ruhen - der bescheidenen Mönche und ehrlichen Eiferer, die , ohne sich zu schonen, unserem Volk das Licht des Schrifttums , das Licht des Friedens, der Liebe und der Einigung der Heiligen Rus' brachten. Wir wären ihrer nicht würdig, wenn wir die Lavra in diesen Tagen in Ruinen und Staub liegen ließen.
In der Lavra lebten und arbeiteten unsere ersten Chronisten, Gelehrten, Ärzte, Baumeister und Maler: Nestor, Iakov, Nikon, Ioann, Agapit, Damian, Alipij. Mit der Lavra waren hervorragende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Literaten, Gelehrte, Künstler verbunden: Elisej Pleteneckij, Zacharija Kopytenskij, Iov Boreckij, Petr Mo-gila, Innokentij Gizel' und viele andere. Hier schöpfte das ukrainische Kosakentum seien geistige Kraft, das nicht nur die Ukraine, sondern auch Rußland vor den Einfällen der Tataren, Türken und den damaligen Aggressionen aus dem Westen schützte.
Ich habe gehört, daß sich bereits Laien und Geistliche mit der schriftlichen Bitte an Sie gewandt haben, zum tausendjährigen Jubiläum das Kiever Höhlenkloster wieder zu öffnen, das übrigens zu diesem Datum in unmittelbarer Beziehung steht. Ich wage es, meine Stimme den ihren zuzugesellen. Denn mit vollem Recht meine ich, daß es äußerst unhöflich von uns wäre, diejenigen, die die Ursache der Feierlichkeiten sind, nicht zu der historischen Feier zu laden.
Mit der Eröffnung des Kiever Höhlenklosters würden Sie, Michail Sergeevic, nicht nur der Russischen Orthodoxen Kirche, sondern dem ganzen Land ein wunderbares Geschenk machen. Und dankbar werden wir den Herrn um den Frieden der ganzen Welt, um Ihre Gesundheit und langes Leben bitten und Ihnen Erfolg wünschen in allen guten Dingen und friedensschaffendem Beginnen.
Nebenbei möchte ich bemerken, daß nicht nur die obengenannte Lavra geöffnet werden müßte, sondern der kirchlichen Obrigkeit  müßte auch die Möglichkeit gegeben werden, die Klöster, die sich in unserem Besitz befinden, zu erhalten, da sich einige von ihnen schon lange deshalb in erbärmlichem Zustand befinden, weil die Paßbehörde denen, die in diese Klöster eintreten wollen, den Zuzug aufs äußerste beschränkt.
So gelingt es beispielsweise nur mit großen Schwierigkeiten, anstelle von zehn bis zwölf verstorbenen Mönchen oder Nonnen eine oder zwei Personen anzumelden.
In einer besonders schwierigen Lage befindet sich das Florovskij Frauenkloster in Kiev und die Lavra von Potschaev. Ich glaube aufrichtig, daß Sie, Michail Sergeevitsch, alles Ihnen Mögliche tun werden für den Sieg der Wahrheit und für ein würdiges Begehen der ruhmreichen Tausendjahrfeier der Taufe Rußlands.
In aufrichtiger Verehrung
Feodosij, Erzbischof von Astrachan' und Enotaj

Als Ergänzung zu dem Schreiben von Erzbischof Feodosij veröffentlichen wir auch einen Brief in derselben Angelegenheit von Alexander Ogorodnikov, Redakteur des neuen "Bulletins der christlichen Gesellschaft":
An die Christen zur Unterstützung des Schreibens von Erzbischof Feodosij
Heute, am Vorabend des großen schicksalvollen Datums der Tausendjahrfeier der Taufe der Rus', da die Kirche unfrei und durch eine diskriminierende Gesetzgebung lediglich auf die Kultausübung reduziert ist, da Kirche geschlossen und zerstört sind, ist es wichtig und an der Zeit, sich ei-ner der blutigsten Wunden der russischen Orthodoxie, des Kiever Höhlenklosters, zu erinnern, das im Jahr 1961 geschlossen wurde.
Die in der Zeit der blutigen Stürme auf die Rus' von den Tataren nicht verbrannte, von den faschistischen Okkupanten nicht zerstörte Lavra hat sich unter der progressivsten Ideologie in einen Ort der Heiligtumsentweihung verwandelt. Vom Augenblick der Klosterschließung an riß eine spontane Volkskampagne für die Wiedereinsetzung in die geheiligten Rechte nicht ab. Noch 1977 wandten sich zwölf Mönche, ehemalige Klosterinsassen, an das Präsidium des Obersten Rates der UdSSR mit der schmerzvollen Bitte um Öffnung des Klosters, der Wiege der russischen Orthodoxie und Kultur. Auf ihre Initiative reagierte die christliche öffentliche Meinung und die Gläubigen der Stadt Kiev. Der Episkopat der Russischen Orthodoxen Kirche wagte es nicht, zur Verteidigung der mißachteten kirchlichen Ehre und der verletzten christlichen Rechte aufzutreten. Die Hierarchie unterstützte auch nicht die Aktionen zur Verteidigung des geraubten Kirchenbesitzes. Im Gegenteil: sie versuchte, sie mit Mitteln der kirchlichen Disziplin zu unterbinden, und deckte so durch Demagogie die atheistischen Machthaber.
Unter diesen Umständen begrüßen wir den Akt kirchlicher Tapferkeit ganz besonders, de im Brief des Erzbischofs Feodosij von Astrachan' und Eno-taj an das Staatsoberhaupt, M. Gorbatschev, mit der Bitte um die Öffnung des Kiever Höhlenklos-ters, des Taufbeckens der Kiever Rus', zutagetritt.
Er setzte sich über das aufgezwungene Konkordat hinweg, das dem Episkopat durch die Sowjetmacht aufgedrängt wurde. Es sprach das gefesselte bischöfliche Gewissen. Die besondere Bedeutung des Briefes von Erzbischof Feodosij liegt gerade darin, daß zum ersten Mal nach langer Zeit der Ruf nach Öffnung der Lavra und die Verurteilung derer, die die Nationalehre schänden, von der Höhe eines Bischofsstuhls herab ertönt.
Der Aufruf des Erzbischofs Feodosij ist für uns ein Beispiel für den heiligen Dienst der Kirche. Er bedeutet die Wiedergeburt der von unserem Episkopat verlorenen Gabe, das sozial Böse zu entlarven. Als lebendiges Wort echten Glaubens durchbricht dieser Aufruf die Schranken der Zensur und erinnert uns an die hohe Pflicht, der russischen Orthodoxie zu dienen, indem er Sorge um den geistlichen Zustand des Volkes und Schmerz um das Schicksal des Vaterlandes ausdrückt. Er weckt un-ser sittliches Bewußtsein und appelliert an unsere Würde als Staatsbürger.
Wir wenden uns an die treuen Kinder der Kir-che und auch an all die, denen das Kulturgut der Nation und die geistige Freiheit teuer sind, mit der Bitte, die heilige Stimme zu hören und das Schreiben von Erzbischof Feodosij zu unterstützen.
5. Januar 1988 A. Ogorodnikov
Redaktion des "Bulletins der christlichen Gesellschaft"