Patriarch Tichon
Patriarch Tichon (Fortsetzung):
Die Bolschewiki bekämpften die Kirche mit allen Mitteln, angefangen von Intrigen bis hin zu Blutvergießen. Bekannt ist der Brief Lenins an Molotov für das Politbüro betreffs des Kampfes gegen die Kir-che. Auf diesen Brief existiert ein Verweis in der "vollständigen" Lenin-Ausgabe, den Brief selbst jedoch schlossen die wachsamen Herausgeber der 55 Bände allerdings aus. Eine Abschrift aus dem Archiv vom 19.3.22 wurde im Westen und im Samizdat publiziert 25. Der Brief vom 19.3.22 steht im Zusammenhang mit der Beschlagnahme der kirchlichen Wertgegenstände und bestätigt die ohnehin deutliche Zielsetzung Lenins, unter dem Vorwand der Hungerhilfe die Vernichtung der Kirche voranzutreiben. "Den Patriarchen Tichon, meine ich, ist es zweckmäßig nicht anzurühren..." aber : "alle Beziehungen dieses Mannes sind so genau wie irgend möglich in allen Einzelheiten zu beobachten und aufzudecken, gerade jetzt in diesem Moment...", die Beschlagnahme der Wertgegenstände - "muß mit gnadenloser Entschiedenheit durchgeführt werden, absolut ohne vor irgendetwas haltzumachen und in kürzester Zeit. Je mehr Vertreter der reaktionären Bourgeoisie und der reaktionären Geistlichkeit es gelingt bei diesem Anlaß zu erschießen, desto besser. Gerade jetzt muß man diesem Publikum einen solchen Denkzettel verpassen, daß sie einige Jahrzehnte an keinerlei Widerstand mehr zu denken wagen"26.
Von irgendeiner Hilfe an die Hungernden ist in dem Brief keine Rede. Die Kirche, die in Rußland und im Ausland von August 1921 an Mittel sammelte, erhielt kein Recht an der Hungerhilfe teilzunehmen, sondern wurde gezwungen das Geld dem Regierungskomitee zu übergeben, ohne Kontrollmöglicheit der Verwendung der Gelder. Daraufhin begann man mit dem gewaltsamen Entnehmen. Der Patriarch gestattete den Gemeinden dennoch Wertgegenstände zu opfern, außer den unmittelbar für gottesdienstliche Zwecke geweihte (Kelche, Diskosse u.s.w.), was vom Standpunkt der Kanones als Sakrileg betrachtet werden könn-te. Im Sendschreiben des Patriarchen ist Sorge hörbar: "Auch jetzt rufen wir die Gläubigen Kinder der Kirche zu solchen Opfergaben auf... sie sol-len nur tatsächlich unseren leidenden Brüdern zur realen Hilfe werden".27 Der Petrograder Metropolit Venjamin war bereit, auch die zum Gottesdienst geweihten Gegenstände herzugeben und segnete dieses Opfer. Am 6..März erreichte er ein Abkommen mit der Kommission des "Pomgol" ( Hilfe an die Hungernden) beim Petrograder Sowjet bezüglich der freiwilligen Herausgabe und der Kontrolle der Verwendung der Mittel durch Vertreter des gläubigen Volkes. Am folgenden Tag erschienen in den Zeitungen (darunter auch "Izvestija") Meldungen mit positiven Formulierungen über "den aufrichtigen Willen der Petrograder Geistlichkeit, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen" u. ä.. Aber der Petrograder "Pomgol" hatte sich als nur zu kurzsichtig erwiesen: bereits bei der nächsten Begeg-nung wurde den Abgeordneten des Metropoliten kurz erklärt, daß die kirchlichen Werte formell beschlagnahmt würden, nicht als "Hilfsgaben", und ohne jede Kontrolle seitens der Gläubigen über deren Verwendung zum Nutzen der Hungernden. Dann wurde mit der Zusammenstellung von Inventarlisten begonnen.
Wenige Tage nach dem erwähnten Brief Lenins erschien in den "Izvestija" eine "Liste der Volksfeinde" mit Patriarch Tichon an der Spitze "mit sei-ner gesamten Kirchenhierarchie", dem Dutzende Namen von Bischöfen und Priestern folgten. Auch ein von zwölf Priestern unterzeichneter Brief erschien, der Angriffe gegen die "konterrevolutionä-re" Geistlichkeit enthielt, - ein erster Ansatz der künftigen Aktivisten des prosowjetischen Schismas der sog."Lebendigen Kirche" der "Erneue-rer" (24. März 1922). Der Metropolit Venjamin war damit einverstanden diesen, die sich bereits der Unterstützung durch die Machthaber versichert hatten, die Verhandlungen über eine friedliche Entnahme des Kirchenbesitzes zu überlassen, weil er darum besorgt war, jedwede Konfrontation mit den Machthabenden während der Beschlag-nahmen zu vermeiden. Das neue Abkommen eröffnete die Möglichkeit, die zur Beschlagnahme vorgesehenen Gegenstände durch gleichwertige zu ersetzen, d.h. sie loszukaufen, so wie es der Patriarch vorgeschlagen hatte. In einem besonderen Sendschreiben wandte sich der Metropolit Venjamin an die Gläubigen , sich nicht zu widersetzen. In Petrograd selbst gingen also die Beschlag-nahmen relativ friedlich vonstatten, aber an anderen Orten gab es blutige Zusammenstöße und so lief es nach dem Programm Lenins: es begannen massenhaft Strafprozesse und Erschießungen. Diakon V.Rusak errechnet, daß ca. 1 Prozent der erbeuteten Werte den Hungernden zugute kam, vieles verschwand auf dem Schwarzmarkt, der Verbleib der "Reste" ist nach wie vor unbekannt. Aber dafür sind mehr als achttausend Vertreter des Priester- und Mönchsstandes umgekommen und hingerichtet worden.
Zu einem solchen Prozeß war auch der Patriarch Tichon als Zeuge geladen. Rund fünfzig Priester waren in Moskau des Widerstandes gegen die Beschlagnahme kirchlicher Wertgegenstände angeklagt. "Auf die Frage, ob er zum Widerstand gegen die Staatsgewalt aufgerufen habe, antwortete der Patriarch:
- Die Staatsgewalt weiß sehr gut, daß in meinem Aufruf keine Anstiftung zum Widerstand gegen die Staatsgewalt enthalten ist, sondern lediglich der Appell die Heiligtümer zu bewahren und im Namen dieser Bewahrung, die Staatsgewalt darum zu bit-ten, ihren Wert mit Geld bezahlen zu dürfen, um somit den hungernden Brüdern zu helfen und gleichzeitig die Heiligtümer zu bewahren.
- Und genau dieser Aufruf wird Ihren gehorsamen Dienern das Leben kosten! - zeigte der Vorsitzende mit einer malerischen Geste in Richtung der Anklagebank.
Mit liebend-gütigem Blick musterte der Greis die Diener des Altars und sagte daraufhin klar und mit fester Stimme:
- Ich habe sowohl den Untersuchungsinstanzen als auch dem ganzen Volk immer gesagt, und ich sage es auch weiterhin, daß an allem ich allein schuld bin, dies aber ist nur meine Armee Christi, die gehorsam die Weisungen ihres Oberhaupts, welches ihnen von Gott gesandt ist, erfüllt. Aber wenn noch ein Löseopfer gebraucht wird, wenn der Tod von unschuldigen Schafen der Herde Christi gebraucht wird... - hier wuchs die Stimme des Patriarchen und wurde in allen Enden des riesigen Saals hörbar, und er selbst schien auch grös-ser geworden zu sein, als er zu den Angeklagten gewandt die Hand hob, sie segnete und laut, deutlich aussprach: "Segne ich die treuen Knechte des Herrn Jesus Christus zum Leiden und Tod für Ihn."
Die Angeklagten gingen auf die Knie.
An demselben Tag erfolgte der Ukaz des Patriarchen über die Auflösung der Obersten Kirchenverwaltung im Ausland. Dieser Ukaz wurde zwar bald nach der öffentlichen Brandmarkung des Patriarchen als "Volksfeinde" vorbereitet, seine Publikation ist jedoch wahrscheinlich im Lichte der Hoffnung zu sehen, das Urteil für die angeklagten Priester zu erleichtern. Dennoch wurden damals 18 Priester zum Tode verurteilt. Sie lehnten es ab, ein Gnadengesuch zu stellen. Auf dem Wege zur Hinrichtung sangen die Verurteilten "Christus erstand von den Toten ..." Aber noch vor dieser Hinrichtung hatten die Initiatoren der "Erneuerer" im Beisein zweier Beamter des GPU (Hauptpolitabteilung) am 12. Mai ein "vertrauliches Gespräch" mit dem Patriarchen geführt, in dem sie seinem "Fehl-verhalten" die Verurteilung der Priester anlasteten. Der Patriarch übertrug die Leitung der Kirche allerdings dem Metropoliten Agafangel (dem er schriftlich mitteilte: "hierzu liegt auch die Zustimmung der Staatsmacht vor" ), bis zum künftigen Konzil, welches den Patriarchen seines Amtes entkleiden könnte. Die Regierung nahm die "Selbstbeseiti-gung" des Patriarchen an. Die "Erneuerer" begangen, unter Ausnützung der Situation und mit Unterstützung der Staatsgewalt, die Kirche in ihre Hände zu nehmen. Der Patriarch gab dazu den von den "Erneuerern" erbetenen Segen nicht (18. 5.1922) , - in der gleichen Nacht wurde er unter schärfsten Arrest gestellt (19.5.) Metropolit Venjamin, der sich weigerte, die "Erneuerer" anzuerkennen, wurde am darauffolgenden Tag verhaftet. In seinem Prozeß wurden 10 Personen zur Erschießung verurteilt. Vier von ihnen wurden in der Nacht des 30./31. Juli (12./13. August) mit Metropolit Venjamin an der Spitze erschossen. Die anderen wurden begnadigt. Im Ausland wuchs mittlerweile die Woge der Proteste gegen die Kirchenverfolgung und die Verhaftung des Patriarchen an (u.a. wirkte hier kraft seines Namens der Metropolit Antonij (Chrapovickij)).
Die Machthaber bereiteten einen Prozeß ge-gen den Patriarchen vor. In den "Izvestija" erschien die Serie "Kirche der Erneuerer über den Prozeß Tichons" - Artikel, die die konterrevolutionäre "Tä-tigkeit der Patriarchen verurteilten. Agitation wurde betrieben. So erging folgende "Resolution" im Na-men der Bauern des Zagara-Gebietes (abgedruckt in "Izvestija VCIK " Nr. 87, 21.4.1923: "Wir, die par-teilosen Bauern des Zagara-Gebietes haben erfahren, daß in naher Zukunft ein Gerichtsprozeß ge-gen den Patriarchen Tichon stattfinden wird, und erklären hierzu, daß er ein Blutsauger im Talar, ein Konterrevolutionär und Menschenfresser ist... wir verlangen von der zentralen Sowjetmacht ein strenges und gnadenloses Strafmaß für den Blutsaugerpatriarchen Tichon." Oder in den "Izvestija VCIK" Nr. 90 , 25.4.1923: "Massenresolutionen der Geistlichkeit, die den Patriarchen noch vor der Gerichtsverhandlung bereits als Verräter der Kir-che und als konterrevolutionären Verbrecher verurteilen, dienen als allerbeste Antwort gegen die weißgardistischen Kläffer..." Unter dem Druck der Weltöffentlichkeit verzichteten die Machthaber auf den Prozeß. Aber sie entrissen in der Situation das Dokument, das sie gerade brauchten.
Es war der unerträgliche Gedanke an die Erfolge der "Erneuerer", der den Patriarchen dazu be-wog, die "Selbstbeschuldigung" und "Reue-Er-klärung" ob der früheren "antisowjetischen Tätigkeit" zu schreiben (3/16.6.1923).
"Der Patriarch opferte seinen Namen und die Ehre des Martyriums. Der Patriarch erzählte, daß er, als er in der Gefangenschaft die Zeitung las, tagaus-tagein immer mehr erschauderte, wie die Erneuerer die Kirche in ihre Hände bringen. Wenn er jedoch gewußt hätte, daß ihre Erfolge so unbedeutend waren und das Volk ihnen nicht nachgefolgt ist, dann hätte er das Gefängnis nicht verlassen. Im Gefängnis war es unmöglich , die Wahrheit zu erfahren, und die Zeitungen betrieben Propaganda zugunsten des Erneuerertums und wurden dem Patriarchen absichtlich zugesteckt". Dem anglikanischen Bischof Bury erklärte der Patriarch mit einem Verweis auf die Worte des Apostels - "Ich habe das Verlangen, aufzubrechen und mit Christus zu sein, denn das wäre weitaus das Bessere; das Verweilen im Fleisch aber ist notwendiger um euretwillen" (Philip. 1, 23-24) - daß er persönlich mit großer Freude den Märtyrertod angenommen hätte, daß jedoch das Schicksal der verbleibenden Orthodoxen Kirche in seiner Verantwortung liege. Das Volk wurde über das Ganze nicht verwirrt, sondern hatte sein Opfer richtig verstanden" 35 .
Die Beziehungen mit der Russischen Kirche im Ausland waren erschwert, doch brach der Patriarch sie nicht ab (selbst Metropolit Sergij antwortete nach dem Tod des Patriarchen auf eine Anfrage). Aber immer dichter flochten die Machthaber ihre Netze der Lügen, Intrigen Provokationen, der Hoffnungen und des Betrugs, der Verleumdung und des Mißtrauens um die Person des Patriarchen. Ziel des Systems war hierbei nicht etwa die Verfolgung bestimmter Einzelpersonen, nicht der Bedarf an kirchlichen Gebäuden oder kirchlichen Wertgegenständen ... "der Staat hatte sich nicht etwa einfach getrennt von der Kirche: er hat sich gegen die Kirche erhoben", und dieser Kampf "war zu einem Zweikampf geworden zwischen ei-nem schwachen Greis, der mit seiner eigenen Per-son die Kirche schützte, und einer gottfeindlichen Staatlichkeit, die die Absicht hatte, die Kirche zu vernichten, und falls dies nicht so möglich wäre, dann anders, in die Kirche einzudringen, sie zu unterwerfen." "So beginnt ein Kampf, dessen We-sen in keinerlei gewöhnliche Kategorien und Begriffe paßt: ein Kampf, der sich keine praktisch-po-sitiven Ziele setzt: Ein Kampf, der nur in der Standhaftigkeit des Ertragens der Schläge besteht:"
"Ist der Staat gottlos?" Mag dies so sein! Die Kir-che - in ihrer prinzipiellen Getrenntheit davon - bleibt Orthodox.. Die Menschen - einschließlich des Patriarchen - können nicht getrennt sein von den Gottlosen, die die Staatsmacht ergriffen ha-ben und über das Land befehlen. Aber die Kirche kennt sie nicht und will sie nicht kennen. Die Kir-che lebt ihr eigenes Leben, unabhängig von den gottlosen Herrschern, unzugänglich von den gottlosen Herrschern, unzugänglich für deren Bedienstete, verborgen und geschlossen für sie, was der gottlose Staat mit den Dienern der Kirche auch im-mer machen mag! In diesem Kampf hatte der Patriarch keine vorab zusammengestellte Strategien und Pläne... seine Taktik war einfach: jeden Front-abschitt verließ er ohne Schlacht, er gab nach, wich zurück, überall und in allem, bis zu dem Mo-ment, da alle Nebenumstände restlos entfernt wa-ren und da für alle, für die Teilnehmer des Kampfes wie für die Zuschauer, vollends offenbar wurde, daß die Kirche das Opfer war, welches im Namen Christi zur Schlachtbank geführt wurde.... Die Beziehung zur Weißen Bewegung, Berührungen mit monarchistischen Strömungen, Kontakt mit dem Ausland - von allem kann und muß die Kirche gereinigt werden, was nur den geringsten Schatten der weltlichen Politik beinhaltet. Besitz? Alles kann weggegeben werden, was nicht das Siegel des Heiligtums trägt. In dieser Weise führte der Patriarch die Nachgiebigkeit der Kirche, sei es in einzelnen Fragen, sei es in prinzipiellen Bestrebungen der Sowjets, bis zu dieser extremen Grenze und entlarvte so das wahre Gesicht der beiden Seiten. Kampf? Den gab es nicht! Jeder russische Mensch und die ganze Welt konnten sehen,wer die "Seiten" dieses angeblichen "Kampfes" waren: der satanische Henkersknecht hob das Messer über dem Opfer in Christus! Und wenn der "Kon-flikt" in diesem seinen inneren Wesen offenlag, dann war der Patriarch bereit, auch selbst auf das Kreuz zu gehen, und segnete hierzu sein Kirchenvolk" - wie wir es im Moskauer Gerichtsverfahren gegen die Priester sahen. "Er beschleunigte die Entwicklung nicht, sondern - im Gegenteil - in jeder erdenklichen Weise versuchte er diesen Prozeß zu bremsen, indem er nur je ein Fußbreit zurückwich unter dem Druck der Bolschewiki, so als wür-de er einen jeden Moment bis zum Ende hindurch warten: verändert sich nicht vielleicht doch die historische Perspektive, öffnet sich nicht vielleicht doch irgendwo ein Weg für eine historische Zukunft? Seine persönliche Nachgiebigkeit reichte bis zu der Grenze, wo sie aufhörte persönlich zu sein und die Kirche selbst binden würde. So anerkannte er persönlich die entstandenen Fakten , und schuf den Schein eines Eingeständnisses an diese Fakten. Auch das gehörte zu dem besagten Kampf - und zwar in seiner extremsten Form. In Be-zug auf sich selbst ließ der Patriarch alles zu, wenn nur die Kirche dadurch unangetastet blieb, wenn nur die innere Unabhängigkeit der Kirche von der Sowjetmacht gewährleistet blieb. Hier aber lag ei-ne Grenze der Nachgiebigkeit des Patriarchen, die unüberschreitbar war. Hinter dieser Grenze öffnet sich allmählich für die Kirche unausweichlich ihr Weg - fort in die Wüste..." - so schreibt Priestermönch Konstantin in seinem Artikel "Patriarch Ti-chon - der Engel der Russischen Orthodoxen Kirche".
Das Martyrium und Bekennertum des Patriarchen bestand im Leiden des Allrussischen Hirten für das Kirchenvolk. Deshalb nahm er als persönliche Verantwortung alle "Schuld" auf sich, die die gottlose Herrschaft bei ihrem Vormarsch gegen die Kirche dieser anlastete. Und diesen Kelch trank er bis zur Neige, bis zum bitteren Ende. Das Ende war der Kampf um die innere Kapitulation. Der Patriarch befand sich als ausgemergelter Greis im Krankenhaus. Nun ging es um ein Dokument, das weiter gehen würde als eine Aussage darüber, wie der Patriarch persönlich zur Sowjetmacht ste-he, weiter als die von ihm bereits gesagten Worte, zum Beispiel: "Ich habe mich natürlich nicht für einen solchen Verehrer der Sowjetmacht ausgegeben, wie die Kirchenerneuerer ... aber ich bin auch bei weiten nicht ein solcher Feind von ihr, wie sie mich hinstellen ...Ich verurteile entschieden je-den Versuch, sich an der Sowjetmacht zu vergreifen, von wo auch immer solche Übergriffe ausgehen mögen.." Es genügte nicht mehr zu sagen, wie der Patriarch gesagt hatte: "Die Russische Orthodoxe Kirche ist unpolitisch und will von nun an weder eine "weiße" noch eine "rote" Kirche sein. Sie muß und wird die Eine, Allgemeine, Apostolische Kirche sein, und alle Versuche, von welcher Seite sie auch ausgehen mögen, die Kirche in den politischen Kampf zu stürzen, müssen zurückgewiesen und verurteilt werden."38 Der Patriarch hat---te es noch im Jahre 1918 nicht nur verweigert, der "Weißen Bewegung" den Segen zu geben, sondern auch nur insgeheim einem der Führer die-ser Bewegung seinen persönlichen Segen zukommen zu lassen. Eine solche "Reinigung der Kirche von der Politik " hätte für die Sowjetmacht nichts substantiell Neues erbracht.. und so zeigt der Weg des Patriarchen Tichon uns ein Bild der "Unterscheidung", wie sie die Heiligen Väter leh-ren - in welcher das Gewissen des Patriarchen ihn zuletzt auf dem steilen Kamm selbst entlangführte bis zu der Sturzwand, wo sich der Abgrund öffnete: der verborgene Sinn der Forderung bestand darin, mit dem Namen der Kirche der Sowjetmacht zu dienen. Und genau an dieser Stelle nahm der Herr Seinen Märtyrer zu Sich und bezeichnete mit dessen Ende die innere Grenze selbst.
"Der Allerheiligste Patriarch Tichon hatte die Ehre der russischen Märtyrer nicht verunglimpft, sondern trat selbst in ihre Schar, als erster - nicht dem Zeitpunkt in der Epoche der Verfolgungen nach, sondern kraft seiner Leiden. Es war ein tägliches Martyrium, inmitten eines unablässigen Kampfes mit dem Feind, der mit Gewalt und Hohn vorging, und ein stündliches für die Kirche im Laufe sieben langer Jahre, bis zur allerletzten Todesstunde. Er hatte alle Möglichkeiten für die Kirche und für einen kirchlichen Menschen erschöpft, die in der Aussöhnung mit der weltlichen Macht angemessen gelten konnten, und erschien als Opfer im innersten, tiefsten und weitesten Sinne dieses Wortes. Er hatte sich selbst geopfert, seinen Na-men, seine Ehre als Bekenner und Entlarver der Unwahrheit. Er erniedrigte sich , als er die Art mit den Machthabern zu sprechen, veränderte, aber er fiel nie. Er erniedrigte nur sich selbst, aber niemanden sonst. Er schützte sich selbst nicht und erhöhte sich nicht durch Erniedrigung anderer. Er schonte sich nicht, um Schonung für die Priester, das Volk und das Kirchengut zu erwerben. Seine Kompromisse sind Werke der Liebe und der De-mut"39. Es ist charakteristisch, daß sein sog. "Tes-tament" vom Geheimnis umwoben ist. Um dieses "Testament" gibt es allzuviel Ungeklärtes, was vielleicht nie mehr geklärt werden wird40. Wahrscheinlich wollten die Machthaber diese Erklärung über die "normale Zusammenarbeit" der Kirche mit der Sowjetmacht durch allerlei Versprechungen erreichen, und es gleich nach der Rückkehr des Patriarchen in das Donskoj-Kloster veröffentlichen, das als Unterzeichnungsort unter dem "Testament" angegeben ist. Und es ist wohl kein Zufall, daß nicht in allen Publikationen der - für ein "Testament" ungewöhnliche - Satz enthalten ist: "Jetzt, da wir, durch die Gnade Gottes von der Krankheit wieder erholt, wieder in den Dienst der Kirche Gottes eintreten...". Dieses "Testament" wurde erst eine Woche nach dem Tode des Patriarchen und mit ei-ner ungewöhnlichen Unterschriftsform publiziert. Aber wenn wir auch nie erfahren mögen, wie im Einzelnen diese Fälschung zustandegebracht wurde, so zeichnet sich gerade durch diese Unklarheit, diesen Nebel eines umso klarer heraus: der Herr ließ das nicht zu. Und deshalb nahm das kirchlich-orthodoxe Bewußtsein diese Dokumentenfälschung nicht an. Ja selbst wenn der Greis aus menschlicher Schwäche es so wie es ist unterschrieben hätte (was niemand ernsthaft behaupten kann), so wurde dieses Dokument doch nicht kirchlich. Eigentlich bedeuten die Umstände der Publikation des "Testaments" für ein liebendes und gläubiges, christliches Herz nur die vom Tode besiegelte Verweigerung, diese Grenze zu überschreiten. Gott verweigerte es, die Kirche nahm die Verweigerung auf, und der Tod des Patriarchen besiegelte die Verweigerung.
"Zwei volle Jahre lang, vom Frühjahr 1925 bis zum Frühjahr 1927 hielten der Patriarchatsverweser Metropolit Peter und seine Vertreter - der Metropolit Sergij in dieser ersten Periode seiner Verwaltung, und der Erzbischof Seraphim von Uglic - an einem unversöhnlich harten Kurs fest. Mit dem Tode des Patriarchen war das Experimentieren mit Kompromissen beendet. Man glaubt keinen Versprechungen der Bolschewiki mehr, man verspricht kein Kirchengericht über eigene oder im Ausland befindliche Bischöfe und Kleriker, alle Versuche der Gottlosen, in die Verwaltung der Kirche einzudringen, werden kategorisch zurückgewiesen, trotz der sich verstärkenden Verfolgung. Die Erfahrungen des Patriarchen waren erschöpfend klar und sie waren nötig gewesen, um zu einem solchen Schluß nach ihm zu gelangen. Diese Erfahrungen waren geeignet, den systematischen Betrug der Bolschewiki deutlich zu zeigen, die Zwecklosigkeit irgendwelcher Abmachungen mit ihnen und jedweder Hoffnungen auf eine Verbesserung der Lage der Kirche im gottlosen Staat, den Schaden solcher Kompromisse für die Kirche selbst, den die Bolschewiki schlechterdings anstrebten. Wenn diese traurige Erfahrung nicht durchlebt worden wäre, wenn man auch weiterhin die Bolschewiki bezichtigt und nur Leiden und Tod im Widerstand gegen sie gesegnet hätte, dann hätte es vielen Gliedern der Kirche so scheinen mögen, daß die Kirche selbst schuld sei an ihren Leiden, da sie ja die von den Machthabern angebotenen Bedingungen der Freiheit zurückgewiesen hatte, als die Staatsmacht "gewisse Zugeständnisse " in ihren Positionen zu machen schien und lediglich die Loyalität für sich forderte. In der Person des Patriarchen hatte sich die Kirche von jeglicher Politik gereinigt, sie hatte alles getan, was getan werden konnte, um mit der Staatsgewalt auszukommen. In dieser Richtung wurde ein Maximum getan; weiter konnte man nicht gehen, ohne dem Kaiser nicht nur das zu geben, was des Kaisers ist, sondern auch noch das, was Gottes ist. So hatten die Nachfolger des Patriarchen Tichon sei-nen Weg in Erinnerung und machten seine Erfahrungen nicht noch einmal. Wenn das, was der Patriarch getan hatte, nunmehr überflüssig und fehlerhaft war, dann war eben die "weitere Fortsetzung der Zugeständnisse ein bewußtes Vergehen oder eine wissentliche Sünde. Der Feind war viel zu gut durchschaut worden, als daß man mit ihm ein Übereinkommen treffen könnte, ohne zum Verräter an der Kirche zu werden."41
Hier verlief also die Grenze. Sie macht deutlich, welcher Unterschied besteht zwischen "nicht ein Feind" und "Freund", zwischen "nicht gegen" und "immer dafür". Diese Grenze des Zulässigen wurde durch die Loyalitätserklärung des Metropoliten Sergij im Juli 1927 überschritten, welche zum Bruch der Gemeinschaft zwischen dem freien Teil der Russischen Kirche und dem Moskauer Patriarchat führte. Aber auch diese Loyalitätserklärung wurde von Metropolit Sergij erst nach einem Gefängnisaufenthalt unterschrieben. Ihr Unterschied selbst zum sog. "Testament" ist noch unübersehbar.
"Nach dem Verlassen des Gefängnisses (im März 1927) setzte Metropolit Sergij die Zugeständnisse fort und führte sie zum Abschluß. Zu aller-erst war seine Übereinkunft mit der Sowjetmacht, die die gesamte Kirche betraf, sein persönlicher Einzelakt. Dieser rief einen so allgemeinen Protest des Episkopats, des Klerus und des Volkes her-vor, der genügt, um die Kanonizität der Handlungsweise des ersten Bischofs in Frage zu stellen. Aber diesen Protest wies er zurück, und es entstand eine Diktatur des ersten Bischofs, der sich seine Parteigänger in einer Atmosphäre des Terrors und mit der Unterstützung der bolschwistischen Machthaber zusammensuchte. Während die allgemeine Verfolgung der Religion und die Vernichtung ihrer Heiligtümer unentwegt zunahm, klagte er alle verhafteten Bischöfe und Kleriker der Konterrevolution und der politischen Unzuverlässigkeit an; er leugnete die Tatsache der Verfolgung der Kirche; er beseitigte Bischöfe von ihren Sitzen auf Geheiß der Feinde der Kirche und zer-riß die moralischen Bande der Hirten und der Her-de in schweren Zeiten gemeinsamen Leidens. Er führte praktisch in den Beziehungen zur Sowjetmacht das Programm der Erneuerer durch und machte deren Existenz für die Bolschewiki damit überflüssig. Er rechtfertigte das Vorgehen der gottlosen Macht und hieß es namens der Kirchenverwaltung gut. Damit ließ er der Vernichtung der Kirche freie Hand und sie schritt - lediglich unter Bewahrung der neuen Kirchenverwaltung - in vol-lem Gange ungehindert voran, bis zur völligen Ausblutung zum Jahre 1940...."42
Nach dem Tode des Patriarchen Tichon reduzierte sich die Frage nach dem Patriarchenamt da-rauf, daß der Versuch trotz allem eine Zentralverwaltung der Kirche aufrechtzuerhalten in der Pra-xis nur dem Eindringen der Feinde Christi in die Organisationsstruktur der Kirche dient, und ihnen die Möglichkeit eröffnet, im Namen der Kirche zu sprechen. Der Patriarch Tichon hatte allerdings bereits im November 1920 vorausgesehen, daß es unmöglich werden könnte, die Kirche zentral zu verwalten. Hier spielte sicher auch seine persönliche Erfahrung mit, denn der künftige Patriarch mußte im Verlauf des 1.Weltkrieges sein Bistum verlassen und verlor infolge von Verschiebungen der Front(Grenze) den Kontakt mit seinem Bistum. Diese Erfahrung und die Sorge um das Leben der Kirche in den wechselvollen Umbrüchen des beginnenden 20.Jahrhunderts führten zu dem bekannten Ukaz Nr. 362 vom 7/20. November 1920, einer Weisung, die den Bischöfen die selbständige bzw. nach Möglichkeit gemeinschaftliche Verwaltung ihrer Diözesen zur Pflicht macht, bis die Lage sich normalisiert. Auf der Grundlage dieser Weisung, die nicht etwa nur vom Patriarchen persönlich erfolgte, sondern in Gemeinschaft mit der Synode und dem Obersten Kirchenrat herausgegeben wurde, existiert noch heute die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland. Und praktisch verwirklicht auf dieser Grundlage die gesamte Russische Kir-che bis heute in den unterschiedlichen Umständen der Freiheit und der Unfreiheit ihr wahres kirchliches Leben, indem sie so ihre Treue zum Patriarchentum in Rußland bewahrt. Als Vertreter des Patriarchatsverwesers verlangte Metropolit Sergij von dem Patriarchen der Serbischen Kirche, daß dieser die auf dem Gebiet des Serbischen Patriarchats befindliche Bischofssynode der Russischen Kirche im Ausland und ihr Konzil auflösen sollte, und sprach in diesem Zusammenhang von einer "zweifelhaften kanonischen Grundlage" und der "Kurzfristigkeit des Gebäudes"43. Der serbische Patriarch Varnava verstand die Situation und folgte diesen Forderungen nicht. Im übrigen erweist sich das "Gebäude " als so "kurzfristig" nicht: das Le-ben der Kirche Christi selbst bestätigt die Richtigkeit dieser Lösung. Sie ist eine pastorale Notwendigkeit. Auch die Tatsache, daß in denselben 3O-er Jahren die Hierarchen in Rußland immer wieder auf den Ukaz Nr. 362 als für die gegenwärtige Situation geeignete kirchliche Existenzform hinwiesen, bestätigt dies. Der Metropolit Kyrill, ein Bekenner unter den Neomärtyrern (im November 1926 gaben ihm als künftigem Patriarchen in geheimer Briefwahl 72 Bischöfe ihre Stimme) schrieb, zum Beispiel, daß angesichts der Überschreitung der Machtbefugnisse durch Metropolit Sergij "das orthodoxe Episkopat eine solche Macht nicht anerkennen durfte, sondern, nachdem es sich davon überzeugt hatte, daß Metrop. Sergij die Kirche ohne Leitung seitens Metrop. Peter verwaltet, sich in Anwendung des Patriarchenukaz vom 7/20.11.1920 selbst verwalten mußte, bereit, über die eigene Tätigkeit dem Metropoliten Peter oder dem Konzil Rechenschaft zu geben"44. Er sieht auch die Möglichkeit vor, daß "die" Kirche von selbst zur Verwaltung gemäß dem Ukaz des Patriarchen vom 7/2O.11.1920 übergeht und in gemeinsamen Anstrengungen des Episkopats die Einberufung eines Konzils erfolgt, um einen Patriarchen zu wählen". Bis zum Tode des Patriarchatsverwesers Metrop. Peter (den die Russische Kirche im Ausland als ihr rechtmäßiges Oberhaupt bis zu seinem Tode in Verbannung 1936 kommemorierte) könnten, nach Meinung des Metropoliten Kyrill "diejenigen, die die Rechtmäßigkeit der Nachfolge der Sergijanischen Verwaltung nicht anerkennen, parallel mit denen, die sie anerkennen, existieren - bis zum konziliaren Gericht! Und diejenigen, die aus ihren Bistümern vertrieben worden sind, könnten die Einheiten lenken, die sie als ihre Bischöfe anerkennen, während die Nicht-Vertriebenen das geistliche Leben ihres gesamten Bistums lenken könnten, wobei das wechselseitige Band und die kirchliche Einheit in jeder möglichen Weise aufrechterhalten werden sollte."45 In der noch nie dagewesenen Situation, in der sich die Russische Kirche faktisch bis zum heutigen Tage befindet, kann die Lösung nur auf der Grundlage eines geistlich-pastoralen Zugangs gefunden werden. Ein Beispiel eines solchen pastoralen - und nicht formal-juristischen - Zugangs liefert derselbe Metropolit Kyrill, wenn er sagt: "Die Sakramente, die von Sergianern gespendet wer-den, welche richtig zum Priesterdienst geweiht wurden, sind zweifellos rettende Sakramente für diejenigen, die sie im Glauben und in Einfachheit annehmen, ohne zu prüfen und zu zweifeln an ihrer Wirksamkeit und sogar ohne irgendetwas Unrechtes in der Sergianischen kirchlichen Einrichtung zu vermuten. Aber gleichzeitig dienen sie den Vollziehern derselben und denen der Hinzutretenden zum Gericht und zur Verurteilung, die die im Sergianertum vorhandene Unwahrheit gut begreifen und durch fehlenden Widerstand eine verbrecherische Gleichgültigkeit gegenüber der Entweihung der Kirche an den Tag legen. Das ist es, weshalb ein orthodoxer Bischof oder Priester sich der Gebetsgemeinschaft mit den Sergianern enthalten muß. Das gleiche gilt auch für die Weltlichen, die zu allen Einzelheiten des kirchlichen Lebens eine bewußte Einstellung pflegen"46.
Infolge des Krieges war Stalin gezwungen, sei-ne Politik gegenüber der Kirche zu verändern, und so wurde der Metropolit Sergij zum Patriarchen der ausgebluteten Kirche "gewählt". Aber der Patriarch soll Hirte sein und der Einheit der Kirche in ihrer Konziliarität (sobornost) Ausdruck verleihen. Statt der nötigen freien Kommunikation wird jetzt durch den Namen des Patriarchen das Eindringen der Gottlosen in die Kirchenverwaltung gedeckt. Der Allerheiligste Patriarch Tichon schützte mit seiner Person die Kirche und entlarvte so vollends den Angriff der Gottlosen auf die Kirche. Die späteren Moskauer Patriarchen schützen mit ihrer Person nicht die Kirche, sondern die hinterlistige Tätigkeit der Atheisten zum Schaden der Kirche. Dem dienen ja auch die oben aufgezeigten Versuche des Moskauer Patriarchats das Erbe des Patriarchen Tichon zu verfälschen (s. Bote 1/88). Natürlich, derartige Lügen und Taschenspielertricks, sowie allerlei Verschweigen, die Leugnung jedweder Kirchenverfolgung, das Sich-Lossagen von den Märtyrern, die Untätigkeit im Aufbau des Leibes Christi, all das kann nicht und wird niemals das Werk der Kirche sein. Bei alledem aber gibt es ja zugleich Priester, die für die Kirche Christi kämpfen, und sich aufopfern zum Nutzen der Kirche. Wir wissen, zum Beispiel, aus dem geheimen Rechenschaftsbericht des "Rates für religiöse Angelegenheiten", der von W. Furov unterzeichnet ist, daß die Atheisten keinen Grund haben, allen Bischöfen zu vertrauen, und aus demselben Bericht wird deutlich, wie die Priester auf den verschiedensten Wegen versuchen, die Kirche aufzubauen. Es gelang ja auch dem Erzpriester Alexander Pivovarov gemeinsam mit einer Gruppe Laien über 60 000 Exemplare"religiöser Literatur " (lt. Berichten d. sowjetischen Presse) abzudrucken und deren Verbreitung in ganz Rußland zu organisieren. Alle aktiven Teilnehmer dieser Aktion wurden in der UdSSR vor Gericht gestellt. Aber auf irgendeine Weise gelangten doch diese Gebetbücher und Heiligenleben zum offenen Verkauf sogar in der Troice-Sergijeva Lavra...
Hier nähern wir uns wieder jenem Streifen seltsamer Zwiespältigkeit, die die Endphase des We-ges des Patriarchen Tichon bezeichnet. Es ist bekannt, daß Vater Alexander Pivovarov, noch bevor er die Bücher drucken ließ und verbreitete, durch unermüdliches Mühen erreicht hatte, daß eine neue Kirche gebaut wurde und zwei Baptisterien mit Altar (also praktisch Kirchlein). Der Bau der neu-en Kirchen wurde in der "Zeitschrift des Moskauer Patriarchats" vermerkt und diente so der fleißig verbreiteten Lüge vom Fehlen einer jeden Bedrängung des Glaubens, d.h. jener antichristlichen Fiktion, der ja auch die Funktion des Patriarchen heu-te ständig dient.
Oder: Wäre es nicht eigentlich Sache des Patriarchen die Dinge zu schreiben, die Vater Gleb Jakunin schrieb? Aber Vater Gleb, dem soeben - nach 2O-jährigem Zelebrationsverbot und langjähriger Gefängnis- und Lagerhaft - endlich wieder eine Gemeinde zugeteilt wurde, erhielt gleich als er wagte, seinen Mund zu öffnen (nach dem ers-ten Auftreten 1987), eine öffentliche Verwarnung : wenn er seine "Fehler" wiederhole, werde "die Kirche" sich von ihm trennen müssen. So dient "das Moskauer Patriarchat" nach Art eines Aushängeschilds der sowjetischen Lüge, und das kann auf keinen Fall ein Werk der Kirche Christi sein. Aber in Wirklichkeit geht dahinter ein stiller, unterschwelliger Kampf vor sich: diejenigen, die wirklich der Kirche dienen, bekämpfen in verschiedenster Weise die totalitären Fiktionen, während das gottlose Machtsystem alles in seiner Weise und zu seinen Gunsten zu pervertieren sucht.
Ist nun dieser Kampf auf der kirchlich-konzilia-ren Gemeinschaft mit dem jetzigen Patriarchen begründet, wenn er diesen Kampf nicht nur nicht segnet, sondern sich ihm widersetzt, wenn er kirchlich agierende Priester ihrem Schicksal überläßt,der Staatsmacht zu Gefallen Zelebrationsverbot erteilt und ebenso auf deren Geheiß Weihen vornimmt u.s.w.?
Man kann die Frage auch so stellen: worauf ist eigentlich das freie gemeinschaftliche (sobornaja) Band begründet, auf welchem sich der Leib Christi in Rußland aufbaut? In der Organisation des Mos-kauer Patriarchats gibt es der Grundidee nach kein freies gemeinschaftliches Band, und kann es das auch nicht geben, denn sie ist vom sowjetischen Geist des Mißtrauens und der Verdächtigung durchdrungen. Dies gilt für die äußerlich-formale Seite der zentralisierten Verwaltung, um derentwillen das Moskauer Patriarchat organisiert ist, und gerade darin besteht ja die Vergiftung und die Ver-sklavung durch die Gottlosen. Vergeblich werden wir in dieser zentralisierten Struktur und deren Spitze - dem Patriarchen - den Geist freiheitlich-konziliärer Gemeinschaft suchen. Doch ist dies noch nicht alles. Die Russische Kirche lebt und entwickelt sich als Kirche Christi wider die Lüge und das Anpassertum, und vorbei an der äußeren Form des heutigen Patriarchats. Denn die freie Einheit in der Konziliarität (sobornost) ist - Kirche. Und dort, wo der Priester oder Bischof (der Patriarch ist auch ein Bischof) nicht zugunsten der sowjetischen Lüge, sondern ihr zuwider handelt, steht er in tiefster Verbindung mit dem echten, unverfälschten Patriarchenamt. Aber es gibt keine "normale Verbindung" mit dem Patriarchen! Gera-de deshalb besteht die reale heutige Situation der gesamten Russischen Kirche in Folgendem: das gesamte wahrhaft-kirchliche Rußland lebt heute im Grunde gemäß dem Ukaz Nr. 362, nur nicht im äus-serlich-territorialem, sondern in seinem innerlich-geistlichen Sinne. In dieser Weise lebt die Russische Kirche im Vaterland und außer Landes - zwar unter verschiedenen Bedingungen, aber durch dasselbe Gesetz. Die Russische Kirche im Ausland nimmt als Teil der Russischen Kirche die sowjetische Lüge nicht an, unterwirft sich nicht den Weisungen und Beschränkungen der Gottlosen; ebenso im Heimatland: der Kampf für die Kirche Christi geschieht nicht kraft des jetzigen Patriarchen und des Moskauer Patriarchats, sondern jenseits dieser äußeren Formen und an ihnen vor-bei - gemeinschaftlich und frei, denn "wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2.Kor.3,17).
So ist im innersten Sinne die gesamte Russische Kirche - gleich ob im Heimatland oder im Ausland - eine Patriarchatskirche, weil sie konziliar (sobornaja) ist. Auf der Grundlage des echten und unverfälschten Patriarchentums lebt sie als Eine und Allgemeine Kirche. Hierbei ist die äußere Form des Patriarchenamtes jetzt praktisch unannehmbar, weil sie der gottlosen Lüge und einer ganz bewußten Verfälschung der Kirche dient. Das Moskauer Patriarchat beansprucht wohlweislich den Ausdruck des Willens der gesamten Russischen Kirche zu sein, und gründet seinen Anspruch parasitär auf diese äußere Form allein. Damit wird man leben müssen, aber das heißt nicht, daß man sich Ansprüchen, die sich auf die Lüge gründen, unterwerfen soll. Die Herzen, die in Liebe zur Kirche Christi brennen, finden ihre Wege. Das freie Lan-deskonzil der Russischen Kirche - und nur ein solches - kann die äußere Form reinigen und mit neu-em, wahren Gehalt füllen. Dem Gericht dieses Konzils sind alle Rechenschaft schuldig. Und die Frage der Neomärtyrer, die schon vom Konzil von 1918 aufgeworfen wurde, kann und wird auf diesem freien Konzil nicht verschwiegen werden. Die Situation ist heute also ähnlich wie vor der Wiederherstellung des Patriarchenamtes, die vor siebzig Jahren vollzogen wurde: im christlichen Leben liegt der Weg zur Wiederherstellung des echten Patriarchenamtes. In diesem wahrhaft christlichen Leben wirkt auch heute bereits die wirkliche Konziliarität (sobornost) der Russischen Kirche. In dieser Konziliarität (sobornost) , die den äußeren Feinden durchaus unzugänglich ist, bleibt die gesamte Russische Kirche dem Bekenner unter den Neomärtyrern, Patriarch Tichon, treu, und wendet sich von all denen ab, die den Feinden der Kirche Christi zu Gefallen sein heiliges Gedenken lügenhaft schänden. Es ist nötig darum zu beten, daß der Herr unserer Kirche einen Mann erstehen läßt, der ihm gleicht.
Priester Nikolaj Artemoff