I.I. Bazarov*: Erinnerungen
I.I. Bazarov*: Erinnerungen
Die Tage des Zusammentreffens von Napoleon und unserem Herrscher stellen in der Chronik Stuttgarts einen strahlenden Zeitabschnitt dar...
Ganz zu schweigen von dem Gefolge von Persönlichkeiten, dass sich zu diesem Treffen versammelt hatte und das nicht nur mit Uniformen sondern auch durch den Ruf von Verdiensten um den Staat glänzte, erstaunte eine gewisse Anzahl von Hoheiten, die von verschiedenen Seiten zusammengekommen waren, mit ihrer Ungewöhn-lichkeit. So bemerkten die Stuttgarter Chronisten, daß bei der Galavorstellung in ihrem Theater neben zwei Kaisern und ihrem König drei Königinnen, nämlich die Königinnen von Württemberg, von Holland und von Griechenland, sowie eine Kaiserin, Maria Alexandrovna, teilnahmen, ohne die Großfürstinnen und Prinzessinnen hierbei mitzuzählen. Es heißt, Napoleon sei bei seinem Eintreffen auf dem zu seinen Ehren veranstalteten Ball in Wilhelm, der Sommerresidenz des Königs von Württemberg, im Kreise dieser strahlenden Gesellschaft so verlegen gewesen, daß er sich erst von der Stelle rühren konnte, als unser Herrscher auf ihn zuging und ihr bei der Hand nahm und zur Kaiserin führte. Vor dem Eintreffen Napoleons in Stuttgart wußte keiner, ob er alleine kommen, oder ob er seine Gemahlin Eugénie ebenfalls mitbringen würde. Unsere Kaiserin verblieb deshalb in Darmstadt und dachte nicht daran, nach Stuttgart zu kommen, wenn zusammen mit Napoleon die Gräfin Montego, die nun den Titel Kaiserin trug, käme.
Aber mit der ihm angeborenen Schläue und Heuchelei legte Napoleon während des gesamten Aufenthaltes in Stuttgart so viel Bescheidenheit und Friedfertigkeit an den Tag und überraschte damit alle, daß er sich in Anwesenheit unseres Herrschers nicht eher setzen wollte, als man ihn dazu aufforderte. Gegenüber unserer Kaiserin und der Großfürstin Ol'ga Nikolajevna geriet er übrigens ganz in Verlegenheit. Nachdem er sich selbst als Parvenu bezeichnet hatte, fand er sich zum ersten Mal im Leben der Größe wahrhafter Hoheiten gegenübergestellt.
Der stille und ruhige Winter des Jahres 1857/58 war für die Betätigung günstig, und die damals beginnende Unruhe der Gemüter in Rußland regte zum Denken und Überlegen an. Zu jener Zeit brannte ich darauf, etwas zu tun, konnte es jedoch nicht. Das Schicksal hielt mich unerbittlich im ordentlichen Zimmer meiner Stuttgarter Wohnung fest. Und wiederum bekam ich die Möglichkeit, nach Rußland umzuziehen. Großfürstin Ol'ga Nikolajewna wollte mich als Beichtvater bei sich behalten. Dieses Mal jedoch verhielt ich mich dem für mich wünschenswerten Umzug gegenüber passiv und überließ die Lösung dieser Frage dem höch-sten Willen.In Anbetracht des Vermächtnisses des verstorbenen Herrschers Nikolaj Pavlovitsch "Behüten Sie meine Olenka", wagte ich es nicht mehr freiwillig, meinen Posten zu verlassen und konnte, als Großfürstin Ol'ga Nikolajevna meine eigenen Ansichten zum Dienst bei ihr oder in Rußland erkundete, nur ganz bewußt antworten, daß es mir bei ihr nur zu gut gehe und es nur zu bequem wäre und ich mich danach sehne, einen wenn auch nur kleinen Teil der Bürde des derzeitigen Kampfes, in dem alle und jeder in Rußland erfaßt sind, mitzutragen. Sie antwortete mir darauf, daß ich an meinem Platz aktiv an der gemeinsamen Sache teilnehmen könne und dies sogar mit größerem Nutzen, indem ich von hier aus die von der historischen Erfahrung errungenen Ergebnisse der Kultur und Zivilisation auf den Boden euerer Heimat hinübertrage.
Schreibt Euere Gedanken nieder, tut Euere Eindrücke kund und Ihr werdet damit an der gemeinsamen Sache teilhaben, sagte sie.
Und ich befolgte diesen guten Rat, indem ich mich anschickte zu arbeiten und zu schreiben. So sandte ich zu Beginn des Winters auf den Namen des Oberprokurors des Synods, des Grafen Tolstoj, zusammen mit Anmerkungen über die Konferenz der evangelischen Kirche,die in Stuttgart stattgefunden hatte, den Entwurf einer neuen Kirchenzeitung , der auf Grundlagen beruhte, die bis dahin in unserem theologisch-kirchlichen Zeitungswesen unbekannt waren.
Daraufhin antwortete Graf Tolstoj mir: Euer Brief, den ich zusammen mit den Anmerkungen erhalten habe, und in dem Ihr die Herausgabe einer neuen Kirchenzeitung vorschlagt, ist sehr interessant und traf zur rechten Zeit ein. Derzeit wird bei uns viel an der Herausgabe einer neuen Kirchenzeitung gearbeitet; beginnend mit diesem Jahr, haben wir verschiedene Verbesserungen bei allen unseren Zeitungen die an den geistlichen Akademien erscheinen, vor. Leider ist Euer Brief mit den Anmerkungen über die von Euch vorgeschlage-ne Herausgabe einer geistlichen Zeitung seiner Heiligkeit abhandengekommen, wie er in seinem Brief erklärt.
Sollten Sie das Manuskript noch besitzen, bitte ich Euch, es abzuschreiben und es mir zuzuschik-ken. Wenn nicht, macht Euch die Mühe, Euere Gedanken erneut darzulegen, da sie bei den zukünf-tigen Überlegungen bezüglich Zeitungen von Nutzen sein können, selbst wenn es sich als ganz unmöglich herausstellen sollte, Euere Vorschläge in die Tat umzusetzen
Der verstorbene Metropolit Grigorij schien die Angewohnheit zu haben, ihm zugesandte Manus-kripte zu verlegen und ich meinerseits, der noch aus den Zeiten der Akademie her, die unrühmliche Angewohnheit hatte, seine Aufsätze sofort ins Reine zu schreiben, mußte daher antworten, als ich schon nach dem Tode des Metropoliten Grigorij durch das Konsistorium gefragt wurde, ob ich das Manuskript einer Notiz über die religiöse Bewe-gung im Westen im Zusammenhang mit den politi-schen Ereignissen der letzten Jahre, das ich dem Metropoliten ebenfalls übersandt hatte, noch ha-be, daß dieser Artikel von mir zu einer Zeit ge-schrieben worden war, als die Eindrücke der Ereignisse, die sich vor meinen Augen abspielten, noch frisch waren und daß eine Zweitschrift dem nochmaligen Erleben einer fernen Vergangenheit gleichkäme.
... Fürst Petr Andrejevitsch (Vjazemskij) machte sein Versprechen wahr und besuchte mich im Lau-fe des Sommers auf dem Rotenberg. Als ich dort mit ihm um unsere Kirche spazierte, von wo sich nach allen Seiten ein wunderbarer vielfältiger Blick eröffnet, wollte ich seinen poetischen Nerv ansprechen...
"Ich will Ihnen erzählen, Fürst", sagte ich, "was ich einmal träumte. Vor dem Schlafengehen las ich im Evangelium von dem Wunder, als Jesus Christus die Wellen auf dem See beruhigte, und ich schlief über den letzten Worten ein: 'Was seid ihr so furchtsam? Wie habt ihr so wenig Glauben?' (Mk. 4,40). Die metrische Form dieses Verses prägte sich mir so tief in meine Vorstellung ein, daß ich, glaube ich, ihn die ganze Nacht im Schlaf wiederholte, bis sich schließlich gegen Morgen ein ganzes Gedicht zu diesem Thema in meiner Vorstellung geformt hatte. Ich durchlief zunächst so lebendig und mit so feinen Versen das ganze Leben des Menschen, sodann die gesamte Weltgeschichte, wobei ich jeden Teil mit dem Refrain schloß: Was seid ihr so furchtsam? Wie habt ihr so wenig Glauben?, daß ich mir, nachdem ich aufgewacht war, dieses wunderbare Gedicht deutlich vorstellte. Ich sprang sogar vom Bett auf mit der Absicht, das alles auf Papier niederzuschreiben; doch bei der ersten Bewegung des Kopfes verschwand alles wie ein Traum, und ich war außerstande, mir auch nur ein einziges Wort aus diesen erhabenen Versen ins Gedächtnis zu rufen, in die mein wunderbares Gedicht so leicht geflossen war. Das ist die Grundlage, Fürst, auf der wir mit Ihrem dichterischen Talent ein ausgezeichnetes Werk wiederherstellen könnten!"
Vjazemskij knurrte wie immer, als er meine angeregte Erzählung hörte, und sagte nach kurzen Nachdenken: "ich fürchte, das geht über meine Kräfte". Dennoch wartete ich lange und verfolgte jedes neue Werk von ihm in der Hoffnung, daß sei-ne Seele auf dieses reiche Thema für ein dichterisches Werk eingehen würde. Doch das Warten war vergeblich. Bald danach ereilte den Fürsten Vjazemskij die Krankheit, die ihn mit zeitweiligen Unterbrechungen bis zu seinem Tode nicht mehr losließ. Dabei ist bemerkenswert, daß jedes Erwachen seines Geistes aus der Umnachtung von einem neuen Werk seines dichterischen Genies begleitet war. Als er sich einmal im äußerst traurigen Zustand seelischer Verwirrung in Dresden befand, sandte er plötzlich nach Stuttgart auf den Namen der Großfürstin Ol'ga Nikolajevna das anonyme Gedicht: "Butterwoche im fremden Land". Niemand konnte denken, daß dieser fröhliche Scherz aus der Feder des Fürsten Vjazemskij entspringen konnte, von dem alle wußten, daß er sich beim Arzt für seelisch Kranke befindet, bis ein Vers in diesem Scherz: "die Brezel ist mein Namensvetter" daran erinnerte, daß Brezeln bei uns unter dem Namen Vjezemski bekannt sind, und daß der Autor dieses Gedichts niemand anderes sein konnte als eben Fürst P.A. Vjazemskij. Nachforschungen ergaben, daß dies tatsächlich so war, und daß der Kranke von diesem Moment an wieder gesund wurde. Doch dann vergingen Monate und Jahre, in denen der arme Dichter wieder in seinen traurigen Zustand verfiel.
Ich sah den Fürsten zweimal in diesem krankhaften Zustand. Einmal war dies in Stuttgart, wo er mit seiner Gattin einen Teil des Winters verbrachte. Ich komme in das Hotel, in dem sie abgestiegen waren, und finde zu meinem nicht geringen Erstaunen die Fürstin auf einer Bank vor der von ihnen benutzten Wohnung im Korridor sitzend.
"Was ist passiert, Fürstin,?" frage ich. "Nun, er hat mich aus dem Zimmer gejagt", antwortete sie ganz ruhig.
Seltsam! Während seiner finsteren Stimmung machte der Fürst nur seine Frau zum Opfer seiner Erregbarkeit, wogegen er allen anderen gegenüber freundlich war, ja nicht einmal seinen Dienern ein unwirsches Wort sagte. Anlaß zu den Ausfällen gegen die Fürstin war die Eifersucht. Die Fürstin war um zwei Jahre älter als er und wurde von ihrem kranken Mann der ehelichen Untreue verdächtigt. Doch mit welcher wahrhaft christlichen Geduld, mit welcher Liebe ertrug sie diese krankhaften Anfälle ihres Mannes. Ich erlebte das, als ich einige Jahre später auf besonderen Wunsch der Großfürstin Ol'ga Nikolajevna den erkrankten Fürsten wieder in Bonn besuchen mußte. Dieses Mal befand er sich im allertraurigsten Zustand seiner Geisteskrankheit, und der Arzt, in dessen Anstalt er sich be-fand, trennte ihn vom Umgang mit allen, weshalb man auch mich nicht zu ihm ließ. Ich konnte mit der Fürstin nur unbemerkt aus dem Fenster beobachten, wie er im Garten spazierenging und mit sich selbst sprach. Als man ihn wieder in sein Zimmer führte und einschloß, nahm die Fürstin einen Stuhl und setzte sich auf den Korridor vor der Zimmertür und legte das Ohr an das Schlüsselloch. Und so saß sie stundenlang und hörte zu, wie er mit sich selbst sprach.
Die Fürstin Vjazemskaja überlebte ihren Mann um einige Jahre, und noch im Alter von 96 Jahren war sie frisch an Geist und Verstand. Ich traf sie im
Frühjahr 1886 in Baden-Baden einige Monate vor ihrem Tod. Sie erkannte völlig ihr Alter und sprach freimütig von ihrem bevorstehenden Tod - ohne Angst und Aufregung.
"Den Tod fürchte ich nicht," sagte sie, "und ich bin bereit dazu. Eines nur stört mich, nämlich daß ich in einem so langen Leben so wenig Gutes getan habe. Meine Schwester, die Fürstin Tschetvertinskaja, lebte auch 90 Jahre und starb in dem Bewußtsein in ihrem Leben viel Gutes für die Menschen getan zu haben!
Da erinnerte ich sie an das Kreuz, das sie zu Lebzeiten ihres Mannes getragen hatte, und daran, daß ihre selbstlose Ergebenheit an ihre Pflicht viele gute Taten wert sei, die sie Außenstehenden aus Mangel an eigenen schwierigen Lebensaufgaben hätte erweisen können. Die alte Dame nahm diese Bemerkung mit der ihr eigenen Bescheidenheit auf, ohne sich selbst, scheint es, der Größe ihres Lebenswerkes bewußt zu werden.
(Fortsetzung folgt)
Bote 1988-3
ERINNERUNGEN
Bald danach ereilte den Fürsten Vjazemskij die Krankheit, die ihn mit zeitweiligen Unterbrechungen bis zu seinem Tode nicht mehr losließ. Dabei ist bemerkenswert, daß jedes Erwachen seines Geistes aus der Umnachtung von einem neuen Werk seines dichterischen Genies begleitet war. Als er sich einmal im äußerst traurigen Zustand seelischer Verwirrung in Dresden befand, sandte er plötzlich nach Stuttgart auf den Namen der Großfürstin Ol'ga Nikolajevna das anonyme Gedicht: "Butterwoche im fremden Land". Niemand konnte denken, daß dieser fröhliche Scherz aus der Feder des Fürsten Vjazemskij entspringen konnte, von dem alle wußten, daß er sich beim Arzt für seelisch Kranke befindet, bis ein Vers in diesem Scherz: "die Brezel ist mein Namensvetter" daran erinnerte, daß Brezeln bei uns unter dem Namen Vjazemski bekannt sind, und daß der Autor dieses Gedichts niemand anderes sein konnte als eben Fürst P.A. Vjazemskij. Nachforschungen ergaben, daß dies tatsächlich so war, und daß der Kranke von diesem Moment an wieder gesund wurde. Doch dann vergingen Monate und Jahre, in denen der arme Dichter wieder in seinen traurigen Zustand verfiel.
Ich sah den Fürsten zweimal in diesem krankhaften Zustand. Einmal war dies in Stuttgart, wo er mit seiner Gattin einen Teil des Winters verbrachte. Ich komme in das Hotel, in dem sie abgestiegen waren, und finde zu meinem nicht geringen Erstaunen die Fürstin auf einer Bank vor der von ihnen benutzten Wohnung im Korridor sitzend.
"Was ist passiert, Fürstin,?" frage ich. "Nun, er hat mich aus dem Zimmer gejagt", antwortete sie ganz ruhig.
Seltsam! Während seiner finsteren Stimmung machte der Fürst nur seine Frau zum Opfer seiner Erregbarkeit, wogegen er allen anderen gegen-über freundlich war, ja nicht einmal seinen Dienern ein unwirsches Wort sagte. Anlaß zu den Ausfällen gegen die Fürstin war die Eifersucht. Die Fürstin war um zwei Jahre älter als er und wurde von ihrem kranken Mann der ehelichen Untreue verdächtigt. Doch mit welcher wahrhaft christlichen Geduld, mit welcher Liebe ertrug sie diese krankhaften Anfälle ihres Mannes. Ich erlebte das, als ich einige Jahre später auf besonderen Wunsch der Großfürstin Ol'ga Nikolajevna den erkrankten Fürsten wieder in Bonn besuchen mußte. Dieses Mal befand er sich im allertraurigsten Zustand seiner Geisteskrankheit, und der Arzt, in dessen Anstalt er sich be-fand, trennte ihn vom Umgang mit allen, weshalb man auch mich nicht zu ihm ließ. Ich konnte mit der Fürstin nur unbemerkt aus dem Fenster beobachten, wie er im Garten spazierenging und mit sich selbst sprach. Als man ihn wieder in sein Zimmer führte und einschloß, nahm die Fürstin einen Stuhl und setzte sich auf dem Korridor vor der Zimmertür und legte das Ohr an das Schlüsselloch. Und so saß sie stundenlang und hörte zu, wie er mit sich selbst sprach.
Die Fürstin Vjazemskaja überlebte ihren Mann um einige Jahre, und noch im Alter von 96 Jahren war sie frisch an Geist und Verstand. Ich traf sie im Frühjahr 1886 in Baden-Baden einige Monate vor ihrem Tod. Sie erkannte völlig ihr Alter und sprach freimütig von ihrem bevorstehenden Tod - ohne Angst und Aufregung.
"Den Tod fürchte ich nicht," sagte sie, "und ich bin bereit dazu. Eines nur stört mich, nämlich daß ich in einem so langen Leben so wenig Gutes getan habe. Meine Schwester, die Fürstin Tschetvertinskaja, lebte auch 90 Jahre und starb in dem Bewußtsein in ihrem Leben viel Gutes für die Menschen getan zu haben!
Da erinnerte ich sie an das Kreuz, das sie zu Lebzeiten ihres Mannes getragen hatte, und daran, daß ihre selbstlose Ergebenheit an ihre Pflicht viele gute Taten wert sei, die sie Außenstehenden aus Mangel an eigenen schwierigen Lebensaufgaben hätte erweisen können. Die alte Dame nahm diese Bemerkung mit der ihr eigenen Bescheidenheit auf, ohne sich selbst, scheint es, der Größe ihres Lebenswerkes bewußt zu werden.
... Zum Frühjahr 1858 stand mir wegen der Abreise der Großfürstin Ol'ga Nikolajewna nach Rußland für den ganzen Sommer noch größere Einsamkeit bevor. Alle in Stuttgart ansässige Russen fuhren in die Kurorte. Die russische Gesandtschaft bestand damals aus den nicht orthodoxen Deutschen Graf Benckendorf, Stoffregen, Baron Meyendorff. Zum Glück entstand in Baden-Baden der gute Gedanke, uns mit der Kirche und dem gesamten Klerus für die Dauer der Abwesenheit der Großfürstin aus Stuttgart zur Durchführung der Gottesdienste dort einzuladen. Diesen Gedanken nahm ich wie himmlisches Manna auf, da ich in seiner Verwirklichung reiche Befriedigung des mich quälenden Tatendranges erahnte; und deshalb unternahm ich alles in meinen Kräften stehenden um diesen Plan zu verwirklichen. Da wir eine transportable Kirche besaßen, die früher in der Gesandtschaft benutzt und jetzt nicht gebraucht wur-de, nachdem die Großfürstin eine neue Kirche mit allem liturgischem Zubehör mitgebracht hatte, fiel es uns leicht, unsere Kirche nach Baden-Baden zu bringen und sie in einem dafür angemieteten Raum aufzustellen. Nachdem wir also mit dem gesamten Klerus und sogar mit den Familien nach Ba-den-Baden gezogen waren, eröffneten wir dort die Gottesdienste am 1. Juli mit einer feierlichen Liturgie. Meine Erwartungen hinsichtlich einer regelrechten Gemeindetätigkeit gingen vollkommen in Erfüllung. Neben fast täglichen Gottesdiensten standen Zusammenkünfte mit nahestehenden Menschen und vielseitige geistliche Aufgaben - all das war neu für mich, und ich fand darin Nahrung für die Entwicklung der pastoralen Tätigkeit in mir. Damals waren in Baden-Baden viele Russen, und bei dem damals üblichen Glücksspiel gab es einen dauernden Wechsel von Ankommenden und Abreisenden, so daß unsere Kirche immer mit Gläubigen gefüllt war. Wir richteten auch eine Geldsammlung zum Unterhalt der Kirche und ein Sparbuch ein, mit welchem der Psalmenleser sich zur Unterschrift an jeden Ankommenden wandte. Er praktizierte, wie sich in der Folge zeigte, diese Sammlung auf die, nach seiner Meinung, erfolgreichste Weise, indem er die Spender beim Roulette ansprach, besonders wenn er bemerkte, daß der Spieler am Gewinnen war. Einmal gelangte er auf diese Weise sogar an einen österreichischen Offizier, dessen slawischer Familienname ihn verleitet hatte, und hielt ihn für einen Russen, der durch seinen Gewinn von einigen Tausend Gulden eben die Bank gesprengt hatte. Dieser gab aus Freude und ohne genau zu wissen, zu welchem Ziel ihm die Spendenliste vorgelegt wurde, eine beträchtliche Summe für die Sammlung zugunsten unserer Kirche. Mit solchen rechten und unrechten Mitteln wurde in Baden-Baden im laufe eines Sommers eine so beträchtliche Summe eingesammelt, daß nicht nur alle Ausgaben zum Unterhalt der Kirche und des Klerus gedeckt wurden, sondern sogar das Anfangskapital für die Errichtung einer ständigen Kirche angelegt wurde. Dafür wurde ein Kommittee geschaffen, an dessen Spitze - seltsamer Weise - zwei nicht orthodoxe Personen standen: die Fürstin Gagarina, geb. Pototzkaja, eine Katholikin, und Baron Mühlens, der mit Pochwisnjowa verheiratet war, ein Protestant. Doch der Eifer dieser Personen, die durch ihre verwandtschaftliche Beziehungen in einer orthodoxen Sphäre lebten wurde bald mit vollkommenen Erfolg gekrönt. Zunächst errichteten sie eine sehr bescheidene Hauskirche in einem angemieteten Gebäude. Zu Gottesdiensten luden sie an Werktagen den Priester aus Karlsruhe, und dann erbauten sie eine kleine Kirche, in der vorläufig der gleiche Karlsruher Priester die Gottesdienste durchführte wenn er in seiner Kirche frei war. Doch bereits jetzt (1887) ist das durch Spenden angesammelte Kapital auf ei-ne solche Summe gewachsen (ca. 100.000 Mark), daß die Kirche bald ihren eigenen Klerus erhalten kann. So können wir mit Genugtuung sagen, daß unsere zeitweiligen Gottesdienste in Baden-Ba-den 1858 die Grundlage zur Einrichtung einer ständigen Kirche in dieser Stadt legten, in der sich soviele Russen im Sommer einfinden und wo sich gar einige unserer Landsleute Häuser kauften und sich ansiedelten. Ein anderer, ähnlicher Versuch, eine ständige Kirche einzurichten, lief in demselben Sommer durch meine Hände, nämlich in Interlaken in der Schweiz. Ich wurde aus Baden-Baden dorthin zu einem Russen gerufen. Ich machte mich mit einem Psalmenleser dorthin auf den Weg und nahm zur Sicherheit ein Trauergewand mit, wie ich das immer praktizierte, wenn man mich, besonders aus Wiesbaden, zu Sterbenden an irgendeinen entfernten Ort rief. Es geschah fast immer so, daß man den Kranken in den letzten Zügen antraf, oder daß man ankam, wenn er bereits verstorben war. Diese Praxis reichte ich dann auch an meinen Nachfolger in Wiesbaden, Vater Janyschev, weiter, einmal sogar auf sehr markante Weise. Auf Veranlassung der Großfürstin Ol'ga Nikolaevna fuhr ich nach Bonn, um den dort in einer psychiatrischen Anstalt befindlichen Fürsten P.A. Vjazemskij zu besuchen. Ich fuhr auf dem Rhein, und in Biebrich stieg Janyschev auf dasselbe Schiff zu.
Wohin fahren Sie? - fragte ich ihn.
Ja, ich wurde nach Bonn gerufen, um einem kranken Landsmann die Kommunion zu reichen.
Und Sie fahren allein, ohne Psalmenleser und Gewänder?
Ja, ich fahre ja nur, um dem Kranken die Kommunion zu bringen. Und wenn ich Gewänder, und noch dazu Trauergewänder mitnehme, jage ich den Verwandten nur Angst ein!
Nun, sehen Sie zu, sagte ich, daß Sie nicht in Schwierigkeiten geraten, wenn der Kranke in Ihrer Gegenwart stirbt!
So geschah es auch. Als wir in Bonn eintrafen, war der Kranke bereits gestorben, und es mußte ein Totengedenken gehalten werden. Aus Wiesbaden einen Psalmenleser und Gewänder zu holen, würde bedeuten, drei Tage zu warten; der Leichnam aber sollte zur Beerdigung nach Rußland geschickt werden... Unter diesen Umständen beschlossen wir, die Angehörigen nicht ohne den Trost der Gebete für den Verstorbenen zu lassen und zu zweit eine Panichida zu halten, Vater Janyschev in einem hellen Epitrachilion und ich als Psalmenleser. Genauso verhielt es sich auch in Interlaken, nur mit dem Unterschied, daß ich dorthin schon für alle Fälle vorbereitet fuhr. Den Kranken traf ich schon nicht mehr unter den Lebenden, und ich mußte den Totengottesdienst für ihn hal-ten. Da dies einer der reichen Moskauer Kaufleute war, geriet seine Familie in Verzweiflung, weil es unmöglich war, alles so einzurichten, wie es bei ei-ner orthodoxen Beerdigung üblich ist, und noch mehr deshalb, weil der Tote ohne Vorbereitung durch die Heilige Kommunion hatte sterben müs-sen. Es stellte sich heraus, daß sie lange nach einem Priester gesucht hatten. Sie telegraphierten zunächst nach Genf, ohne Antwort. Später zeigte sich, daß der dortige Priester abwesend war. Sie wandten sich nach Stuttgart, wieder ohne Antwort, da ich mich mit meiner Familie in Baden-Baden be-fand und meine Wohnung verschlossen war. Bis sie mich fanden und ich anreiste, war der Kranke bereits verstorben. Das betrübte die ganze Familie und sogar den Besitzer des "Hotel Ober" so, daß dieser, natürlich nicht ohne eigennützige Absichten, sondern in der Hoffnung, russische Gäste in sein Hotel zu ziehen, sofort vorschlug, auf eigene Kosten eine transportable russische Kirche einzurichten. Er zeigte mir einen dafür sehr geeig-neten Pavillon im Garten und bat mich nur, mich dafür einzusetzen, daß man ihm für drei Sommermonate aus Rußland einen Priester zur Verrichtung der Gottesdienste senden würde. Ich wollte ihm schon zusagen, daß ich mich darum kümmern würde, wobei ich auf vollen Erfolg rechnete, als mir einfiel, daß ich mich in die Angelegenheiten einer fremden Gemeinde einmischte, da Interlaken in der Schweiz liegt, in deren Hauptstadt unsere Kirche ist, deren Vorsteher damals Vater Petrov war. Deshalb übergab ich ihm diese ganze Angelegenheit. Doch leider ließ er der Verwirklichung dieses Plans nicht nur keine Unterstützung zukommen, sondern er suchte im Gegenteil sogar, ihn zunichte zu machen, in der Überzeugung, daß dies ein völlig überflüssiges und zudem eigennütziges Unterfangen des Besitzers des "Hotel Ober" sei, und daß für einzelne seltene Fälle der Priester aus Genf immer nach Interlaken kommen könne. So wurde dieser Plan nicht verwirklicht. Doch Gott behüte die Russen davor im Ausland zu sterben! Welche Not, welche oft beleidigenden Formalitäten müssen die Familien über sich ergehen lassen, nachdem sie ein geliebtes und nahestehendes Geschöpf verloren haben! Gar nicht davon zu sprechen, daß kein westliches Volk auch nur das geringste Verständnis für die zärtliche Sorge um Verstorbene hat, zu welcher nur Russen fähig sind. Hier wartet man, ganz gleich in welchem Hotel jemand auch sterben mag, nicht einmal einen Tag, bevor man den Körper des Verstorbenen aus dem Haus entfernt.(Fortsetzung folgt)
Bote 1988-4
ERINNERUNGEN
Besonders in Kurorten, wohin Ausländer kom-men, um neben der Behandlung eine angenehme Zeit zu verbringen, wird, wenn jemand im Hotel stirbt, der Leichnam schon wenige Stunden später möglichst heimlich, in der Dämmerung und in der Nacht in die Friedhofskapelle gebracht, wo er bis zur Beerdigung oder zur Überführung zur ewigen Ruhe in die Heimat aufbewahrt wird. Dabei gibt es um den Leichnam überhaupt nichts orthodoxes, weder Kerzen um den Sarg, noch das Lesen des Psalters, oder die Anwesenheit der Verwandten, denn die Kapelle wird nachts geschlossen. Und wenn jemand es wagte, sich dieser gewohnten Ordnung zu widersetzen, um nach russischen Brauch den Leichnam bis zur Beerdigung in der Wohnung zu behalten, so müsste er dafür schwer bezahlen. In meiner Abwesenheit ereignete sich ein solcher Fall. Eine reiche russische Familie, die aus Bad Ems, wo die kranke Familienmutter zur Sommerkur weilte, nach Italien fuhr, übernachtete in Koblenz in einem der besten Hotels. Hier verstarb die kranke Mutter in dieser Nacht, und die Familienmitglieder antworteten auf die Forderung des Hoteliers, den Körper der Verstorbenen sofort aus dem Hotel zu entfernen, mit einer entschiedenen Absage. Sie erklärten, daß sie bis zur Überführung des Körpers nach Rußland wofür mindestens drei Tage notwendig waren, nicht erlauben die Verstorbene aus ihrem Zimmer zu entfernen. Der Hotelbesitzer verstummte, doch als alles beendet war und die Familie sich nach dem Körper nach Rußland auf dem Weg machte, überreichte er ihnen für diese drei Tage eine Rechnung über 30.000 Gulden. Diese Forderung begründete er damit, daß wegen der Anwesenheit des Leichnams in seinem Hotel in dieser Zeit nicht nur niemand Quartier nehmen wollte, sondern auch der Großteil der dort wohnenden Gäste das Hotel verlassen hatte; und dies zusammen mit den anderen Ausgaben, wie die Vernichtung des Bet-tes und der Möbel im Zimmer der Verstorbenen, wie auch die Notwendigkeit, die Tapeten zu erneuern brachte ihm einen Verlust von der genannten Summe. Daraus entstand ein Prozeß, der von unserer Gesandtschaft in Frankfurt unterstützt wur-de, und bis zum höchsten Gericht in Berlin ging. Er endete damit, daß die von dem Hotelier geforderte Summe wohl verringert wurde, aber dennoch ein bedeutender Teil der Rechnung beglichen werden mußte. So auch in Interlaken, als wir dorthin kamen und der Kranke schon gestorben war und auch sein Leichnam aus der luxuriösen Hotelsuite, die von der Familie in einem teueren Hotel angenommen wurde, entfernt war. Er wurde bei Nacht herausgetragen, um durch diesen traurigen Anblick die fröhlichen Gäste Interlakens nicht zu betrüben, und in eine kleine und erbärmliche Kapelle auf den Friedhof gebracht, wo man sich bei dem Totengedenken kaum bewegen konnte. Wenn man bedenkt, mit welcher Feierlichkeit und Pracht einer orthodoxen Ausstattung die Beerdigung dieses reichen Moskauers erfolgt wäre, wenn Gott ihn in der Heimat hätte sterben lassen, so würde man unwillkürlich betrübt angesichts des mehr als bescheidenen Sarges, der auf zwei Bänken in irgend einem ungetünchten Häuschen stand, nicht einmal von dem allernotwendigsten Attributen einer Beerdigung umgeben. Doch hiermit waren die Qualen, die dieser Tote überstehen mußte, der das Unglück hatte im fremden Lande zu sterben, noch nicht beendet. Da der Leichnam zur Überführung nach Rußland vorgesehen war, war es nötig ihn einzubalsamieren; und da in Interlaken kein Arzt war, der dies tun konnte, mußte man aus Bern einen Professor der dortigen Universität holen. In der Erwartung, daß dies lange Zeit in Anspruch nimmt, und da man mich bat zu warten, damit ich die letzte Panichida vor der Überführung des Körpers nach Rußland halten könnte, beschloß ich die Zeit zu einem kurzen Spaziergang in die malerische Umgebung Interlakens zu nutzen.
Als ich abends von meiner malerischen Wanderung zu der trauernden Familie nach Interlaken zurückkehrte, erfuhr ich von dem dort zurückgebliebenen Psalmenleser schreckliche Dinge, die sich mit dem unglücklichen Leichnam unseres Toten abgespielt hatten. Der Bote, der nach Bern gesandt worden war, um einen Arzt zur Balsamierung zu holen, kehrte mit der Nachricht zurück, daß wegen der Semesterferien alle Professoren verreist waren. Auf diese Weise war die Balsamierung des Körpers unmöglich, und ohne dies war die Überführung nach Rußland ausgeschlossen, wofür alle Vorbereitungen bereits für den nächsten Tag betroffen waren. Da kam irgend jemandem die unglückliche Idee, den Körper in dem Bleisarg mit Schmalz zu übergießen und so auf den Weg zu schicken, wie man gerupfte Gänse verschickt. Und so begann man die furchtbare Operation, natürlich in Abwesenheit der Verwandten des Toten, die sonst eine solche Verhöhnung nicht geduldet hätten. Nur mein Psalmenleser war bei diesem abscheulichen Unternehmen zugegen, aber auch er konnte diesen Anblick nicht bis zum Ende ertragen. Als wir am nächsten Tag die letzte Panichida vor der Überführung des Leichnams vor dem bereits geschlossenen und in einen Kasten eingenagelten Sarg zelebrierten, von dem sich der Geruch geschmolzenen Schmalzes verbreitete, wiederholte ich unwillkürlich in meinen Gedanken: nein, Gott gebe keinem Russen in der Fremde zu sterben!
Als ich von diesem Ausflug nach Baden-Baden zurückkehrte, fand ich dort meine zeitweiligen Gemeindeglieder, die ungeduldig auf meine Rückkehr warteten. Teils aus kirchlichen Gründen, teils wegen meiner persönlichen Beziehungen zu einigen russischen Landsleuten, mit denen ich Freundschaft geschlossen hatte, war meine Anwesenheit ebenda notwendig geworden. So beabsichtigte z.B. eine mir befreundete Familie nach Paris und von dort zum Badeaufenthalt ans Meer zu reisen; sie wartete nur auf meine Rückkehr, um sich auf den Weg zu machen. Diese Familie, die aus der Mutter, zwei erwachsenen Töchtern und einem Söhnchen, das im Alter meiner Söhne war, bestand, machte mir das verlockende Angebot, mich nach Paris mitzunehmen. Trotz der geringen Entfernung, in der ich so viele Jahre lang von dieser glänzenden Hauptstadt der europäischen Bildung und Raffinesse wohnte, hatte ich sie noch nie gesehen. Diese Fahrt reizte mich sehr, besonders in solch einer für mich angenehmen Gesellschaft. Aber das Gefühl der Pflicht, das mich an den Dienst band - und sei es auch nur in dieser zeitweiligen Pfarrstelle - bezwang die vor mir liegende Verlockung, wenn auch nicht ganz, so doch mindestens zur Hälfte, so daß ich beschloß, meine Bekannten nur bis zur Hälfte des Weges nach Paris zu begleiten, um nicht länger als zwei Tage von Baden-Baden abwesend zu sein. Ich nahm meine Kinder mit und überquerte tatsächlich zum ersten Mal die französische Grenze, die sich damals in einer Entfernung von einigen Stunden von Baden-Baden befand.
Von meinem Aufenthalt in Baden-Baden im Sommer 1858 habe ich noch eine besondere Erinnerung bewahrt. Man sagt, daß Frauen im allgemeinen einen großen Einfluß auf die Dienstgeschäfte haben, insbesondere auf die Karriere der Staatsbeamten. Ich konnte dies nicht so ganz glauben, dann wurde ich jedoch selbst in Baden-Baden dessen Zeuge. Dort lebte in jenem Sommer die wegen ihres ungeheuren Reichtums berühmte Fürstin Butera, eine geborene Prinzessin Schachowskaja, die in erster Ehe mit dem Grafen Schuwalov verheiratet war, in zweiter Ehe mit dem Grafen Polier und in dritter Ehe mit dem italienischen Fürsten Butera. Schließlich wurde sie Witwe. Alle achteten und liebten sie wegen ihrer Güte, ihrer großen Gastfreundlichkeit und ihrer entgegenkommenden Natur. Ich hielt mich sehr oft in ihrem Hause auf und kannte den sie umgebenden Personenkreis sehr gut.
Einmal saß ich mit ihr auf der Promenade und erzählte ihr, daß ich gerade einen Brief von Vater Janyschev aus Berlin erhalten hatte, wohin er unlängst aus Petersburg versetzt worden war, nachdem er genötigt worden war, seine Stelle als Theologieprofessor an der Petersburger Universität aufzugeben. Dorthin wurde jetzt der Schwager Vater Janyschevs, P.P.Polisadov aus Berlin gerufen.
Der arme Vater Janyschev - so sagte ich - hat Heimweh nach seinem Wiesbaden, das er so liebte und wo ihn alle so gern hatten.
Dies war genug, daß alle anwesenden Damen aufseufzten und zu klagen begannen, daß der jetzige Priester in Wiesbaden, Vater Matwejevskij, der dort Vater Janyschevs Platz eingenommen hat und auch ein Verwandter von ihm ist, niemandem gefällt und durchaus nicht allen Lebensbedürfnissen der dort zur Kur weilenden Russen Genüge tut. Darauf wandte sich die Fürstin Butera an die neben ihr sitzende Frau Swistunova, deren Gatte im Außenministerium diente, mit dem Vorschlag, ob man nicht Schritte unternehmen könne, damit Vater Janyschev wieder nach Wiesbaden zurückversetzt würde. Obwohl ich wußte, daß alle die Fürstin Butera umgebenden Personen bereit waren, auch nur den geringsten ihrer Wünsche zu erfüllen, hatte ich diesmal doch Zweifel über den Erfolg dieser Unternehmung. Die Stelle in Wiesbaden war besetzt, und Vater Janyschev war doch erst vor kurzem nach Berlin versetzt worden. Aber es vergingen nur wenige Monate nach diesem Gespräch auf der Promenade in Baden-Baden, und Vater Matwejevskij wurde nach Petersburg gerufen und als Priester für den Smolensker Friedhof eingesetzt; Vater Janyschev wurde dagegen wieder nach Wiesbaden auf seinen früheren, ihm so lieben Posten versetzt. So bewahrheitete sich das französische Sprichwort: ce que femme veut, Dieu le veut.
Schließlich kam die Zeit, um Baden-Baden zu verlassen. Mitte September sollte die Großfürstin Olga Nikolajewna aus Rußland zurückkehren. Am 3. September zelebrierten wir den letzten Gottesdienst in Baden-Baden, bauten die Kirche ab und kehrten mit dem gesamten Klerus nach Stuttgart zurück. Aber ehe ich hier die Wintersaison begann, begab ich mich noch einmal mit meinen Kindern nach Rotenberg, wo wir meistens bis November blieben, da ja die Weinlese, die immer ein besonderes Fest für unsere Villégiature (Sommerfrische) war, in diesen Gegenden selten vor Mitte Oktober stattfindet. Während ich auf diesem Berge lebte, hatte ich die Gelegenheit, mit einem neuen Amtsgenossen im ausländischen Dienst Bekanntschaft zu schließen. Dieser war Vater Kolosowskij, der frühere Religionslehrer an der Lehranstalt für Mädchen aius dem geistlichen Stande in Carskoe Selo, der sich jetzt auf dem Weg nach Madrid als Vorsteher der dortigen Gesandtschaftskirche befand. Ihm war die besondere Aufgabe übertragen worden, den jungen Sohn des dortigen Gesandten, des Fürsten Golizyn, von dem bekannt war, daß er heimlich zu den Katholiken ging, vor der Gefahr zu schützen, zum katholischen Glauben überzutreten. Diese Gefahr war um so offensichtlicher, als der Fürst Golizyn über ein ungeheures Vermögen verfügte; und die dortigen Jesuiten würden bestimmt keine Gelegenheit ungenutzt lassen, um sich dieses Reichtums zu bemächtigen. Dank des Eifers und der Fürsorge Vaters Kolosowskij wurde der junge Fürst vor dem Katholizismus bewahrt, aber nicht von der Gefahr eines ausschweifenden Lebens angesichts des ungeheuren Vermögens, das er schon in jungen Jahren nach dem Tod seines Vaters geerbt hatte.
(Fortsetzung folgt)
Bote 1988-5
Erinnerungen*
Vater Kolosovskij kam zu mir im Gewand eines russischen Geistlichen mit einem riesigen Bart und langen Haaren, die ihm auf den Rücken fielen. Ich machte ihn damals schon darauf aufmerksam, wie unangenehm es für ihn sein wird, seine russische Aufmachung in diesen fremden Gegenden zu bewahren, aber er wollte mir anfangs nichts glauben, da er es unziemlich fand, seine Rjasa (Priestergewand) mit einem Gehrock auszutauschen und sei-ne langen Haare zu schneiden. Dennoch mußte er sich bald eines besseren besinnen. Schon in Stuttgart zog er, wenn er durch die Straßen ging, die allgemeine Neugierde auf sich, und eine Men-ge Gesindel folgte ihm, schreiende und kreischen-de Lausbuben rannten hinter ihm und vor ihm und starrten ihn an wie eine Maskeradenfigur. Als er dann nach einigen Tagen wieder bei mir in Rotenberg erschien, trug er schon einen Gehrock, und die wunderbaren Haare auf seinem Kopf waren geschnitten; es blieb nur der ungestutzte, prachtvolle Bart übrig, den er bis zum Tode beibehielt, welcher ihn in der Fremde schon bald ereilte.
Der nun eintretende Winter war diesmal für uns in Stuttgart nicht so öde wie zuvor. Von der Zeit an, als wir vorübergehend in Baden-Baden Gottesdienste hielten, entdeckten unsere Landsleute plötzlich Stuttgart, und sie kamen von da an mit jedem Jahr öfters auf Winterferien zu uns. Sie brachten bald in Erfahrung, daß es in Stuttgart ausgezeichnete Schulen gab, und einige Familien sie-delten sich hier sogar zur Erziehung ihrer Kinder an; es wurde auch ein Internat für russische Knaben eröffnet, wo sich in einem Winter 12 Jungen einfanden. In der Folge begann man auch, die Mädchen im hiesigen Katharinen-Institut unterzubringen, das noch von der Königin Katharina Pavlowna für die höhere Töchterbildung gegründet worden war. Außerdem tauchten unsere Russen in Cannstatt, das in einer Entfernung von fünf Mi-nuten per Eisenbahn von Stuttgart liegt, in ver-schiedenen der sich dort befindenden Heilanstalten auf, so z.B. in der bekannten orthopädischen Klinik des Dr. Heine, wo einstmals der Herzog von Leichtenberg, Nikolaj Maximinianowitsch, in Behandlung war; weiterhin in der Hautklinik des Dr. Feile und in der Heilanstalt für seelische Krankheiten, wo auch einige unserer Landsleute waren, und schließlich in der Erziehungsanstalt Klose, durch die nicht wenige unserer russischen Jugendlichen gegangen waren. Mit einem Wort Stuttgart lebte plötzlich auf, und für mich begann an diesem Ort die seelsorgerische Tätigkeit, hauptsächlich mit den Religionsstunden, aber auch mit Russischunterricht, da ich zu jener Zeit ganz allein und ohne Gehilfen war und dabei nur wenig gebildete Psalmenleser hatte. Das war auch einer der Gründe, der mich dazu veranlaßt hatte, um die Ersetzung der alten Küster durch junge, möglichst akademisch gebildete Leute zu ersuchen. Und tatsäch-lich, als anstelle der Psalmenleser studierte Theologen bei mir ihren Dienst antraten, fanden sie hier eine große Beschäftigungsmöglichkeit in der Vorbereitung der jungen Leute zum Eintritt ins Gymnasium und sogar in die Universität. Zu dieser Be-lebung des russischen Geistes in Stuttgart kam noch die Erneuerung unserer Botschaft im russi-schen Geiste hinzu. V.P.Titov, der schon zuvor Gesandter bei uns gewesen war, kehrte nach zwei-jährigem Dienst bei dem verstorbenen Thronfolger Nikolaj Alexandroviç wieder auf seinen Ge-sandtenposten zu uns zurück, und das Gesandt-schaftsgebäude in Stuttgart wurde wieder ein russisches Haus, in dem unsere Landsleute einen herzlichen Empfang fanden.
Bote 1988-6
Erinnerungen
Doch während ich mich auf den Winter 1858-59 einrichtete und mit der Zunahme an pastoraler Tätigkeit in Stuttgart selbst zufrieden war, warb man in Petersburg stark um mich, und mir hätte beinahe eine Veränderung meines Lebens mit dem Wechsel auf eine Stelle in Rußland bevorgestanden. Zunächst wollte mich meine Hochwohlgeborene Schülerin, die Großfürstin Olga Fjodorovna, als Geistlichen bei sich behalten, doch danach folgte ein viel ernsthafterer Vorschlag seitens der Kaiserin Maria Alexandrovna, die mich als Gehilfen von Bazanov bei ihren Kindern haben wollte. Im Brief der Kaiserin, den mir die Großfürstin Olga Nikolajevna mitteilte, drückte sich ihre Hoheit in dieser Hinsicht folgendermaßen aus: "Sprechen wir nun von einer Angelegenheit, die meinem Herzen genauso nahe liegt, wie dir. Ich suche einen Priester für meine beiden jüngsten Söhne. Du kannst erraten, an wen ich denke. Bist du bereit, uns Basarov zu opfern? Erstens erwarten wir von ihm, daß er sich den Kindern so widmet, wie sich der Priester Maria Nikolajevna seinen Zöglingen widmete (gemeint ist I.V. Rozdestvenskij). Er soll ein geistlicher Vater sein, Lehrer, Freund , Kamerad und - vor allem ein Führer und Ratgeber für seine Zöglinge. Mit einem Wort er soll entgegenkommend sein, aber stets fest und kein Fanatiker; er soll ganz im Leben der Kinder aufgehen, ein unumgängliches Element davon werden, nur an den Nutzen der Kirche und das Heil der Kinder denken, nicht aber an die Meinung der Welt. Wenn er all das nach Kräften sein will und kann, so nehmen wir ihn mit offenen Armen auf, doch wenn in seine Seele auch nur der geringste Tropfen von Protestantismus eingedrungen ist, so werden wir einander nicht verstehen. Mir liegt die Frage des Unterrichts (den Bajanov leider vernachlässigt) sehr am Herzen, doch da noch Zeit ist, kann sich Basarov darauf vorbereiten und die jetzigen Anforderungen ins Auge fassen... Wenn es sich einrichten läßt, hätte ich ihn gern in diesem Sommer oder spätes-tens Herbst. Ich habe Bajanov noch nichts gesagt, da ich auf Antwort warte. Ich nehme an, daß er selbst versteht, daß er nicht genügend Zeit dafür hat. Im Sommer und im Herbst wird der Unterricht der Kinder oft unterbrochen. Basarov müßte mit uns wohnen. Ich weiß, meine Liebe, daß ich ein großes Opfer von dir fordere! Bevor du mit ihm sprichst, beschreibe mir bitte seinen Charakter, wie du ihn verstehst. Ist er nicht zu nachsichtig?"
Als Antwort auf diesen Brief sagte ich meiner Großfürstin, daß sie für ihre Kinder einen zweiten Rozdestvenskij sucht, aber außer ihm keinen solchen finden wird. Indessen begann dieEntschlossenheit der Großfürstin mich für die Kaiserin zu opfern ins Wanken zu geraten. Besonders war ihr Gatte dagegen, damals noch Kronprinz.
"Das ist eine Schande für Rußland, sagte er mir, daß man dort keinen Religionslehrer für die Kinder des Herrschers finden kann und der Großfürstin ihren geistlichen Vater entziehen muß, an den sie gewöhnt ist".
Schließlich gelangten wir zur folgenden Ent-scheidung: wenn ich dort gebraucht würde, damit der Thronfolger seine Bildung abschließen könn-te, so wäre die Großfürstin Olga Nikolajevna bereit, ihren geistlichen Vater für diese wichtige Tätigkeit zu opfern. Und in diesem Sinn wurde der Kaiserin eine deutliche Antwort gegeben.
Im Frühling dieses Jahres machte die Großfürs-tin Maria Nikolajevna auf der Rückreise von Italien nach Rußland in Stuttgart Station. Da sie mir immer geneigt war, wandte ich mich um Rat an sie, wie ich mich in diesem Falle verhalten sollte. Mir fiel es schwer die Großfürstin Olga Nikolajevna zu verlassen, die von der Möglichkeit, ihren geistlichen Vater zu verlieren und ihn durch irgend jemand anderen zu ersetzen sehr besorgt und sogar betrübt war, andererseits aber, sagte mir mein Gewissen, daß ich mich einer neuen und dabei so wichtigen Verpflichtung nicht entziehen dürfte. Die Großfürs-tin Maria Nikolajevna betrachtete diese Angelegenheit von der praktischen Seite und sagte mir unter anderem: "Es tut mir leid um Sie, wenn Sie an den Großen Hof gehen. Sie werden dort ganz verdorben!"
"Weshalb denn, Euere Hoheit?"
"Ja deshalb, weil es dort zu viele Intrigen gibt. Und Sie selbst werden nicht bemerken, wie Sie in dieses trübe Wasser gezogen werden, oder, wenn Sie sich dafür als ungeeignet erweisen, werden Sie selbst zum Opfer einer Intrige. Deshalb mein Rat: nehmen Sie diese Stelle nicht sofort an, sondern fahren Sie erst zur Probe. Gefällt es Ihnen dort, so bleiben Sie mit Gottes Hilfe, gefällt es Ihnen nicht, so kehren Sie zurück, worüber sich Olga Nikolajevna sehr freuen wird".
Und wie dankbar war ich in der Folge für diesen guten Rat der Großfürstin. Doch vorläufig blieb die-se Angelegenheit offen, und ich dachte schon, daß sie ganz ins Wasser gefallen war, umsomehr, als ich überzeugt war, daß der passendste und wünschenswerteste für diesen Platz doch I. V. Rozdestvenskij war. Allerdings wollte die Großfürs-tin Maria Nikolajevna sich nicht von ihm trennen, sondern ihn bei ihren Kindern behalten, und die Kaiserin selbst fand ihn etwas trocken und streng klerikal, doch dafür hatte er alle Erzieher der Groß-fürsten auf seiner Seite, die ihn liebten und ehrten wie ihren nächsten beinahe wie ein Familienmitglied. Rozdestvenskij hatte eine besondere Fähig-keit, mit allen Spaß zu treiben, ohne auch nur im geringsten seine Würde zu erniedrigen, sondern im Gegenteil, nahm er manchmal plötzlich einen doktoralen Ton an, wobei er sich nicht scheute, scharfe Worte zu benutzen, was ihm gerne verziehen wurde, besonders von den Hofdamen. Zu all dem fühlte ich mich völlig untauglich. Ich erinnere mich, wie sogar V. B. Bazanov sich über diese Fä-higkeit Rozdestvenskijs wunderte, mit den Herr-schaften vom Hof zu spaßen.
"Er geht sogar, sagte Bazanov, zu den Hofdamen und verbringt mit ihnen die Abende, während ich nicht einmal weiß, wo sie da im Winterpalais wohnen".
So zog ich zu Beginn des Sommers in aller Ru-he mit den Kindern in meine Sommerresidenz auf dem Rotenberg, welche ich wegen ihrer Ruhe, der wunderbaren Lage und der reinen Luft so lieb-te. Hierher kamen gerne die in Stuttgart lebenden Russen zu Besuch, sogar die Großfürstin Olga Nikolajevna würdigte mich mit ihrem Gatten eines Besuches. Einmal half mir ein solcher Besuch meinen Besitz auf dem Rotenberg zu erweitern. Ich muß anmerken, daß auf diesem Berg einst das Stamm-schloß des Württembergischen Königshauses stand, Schloß Württemberg, das dem ganzen Land seinen Namen verlieh. Die Ruinen dieses Schlosses existierten noch bis zum Jahr 1819, als nach dem Tode der Königin Katharina Pavlovna ihr Gatte, der Vater des jetzigen (1887) Königs, befahl, die Ruinen dieses Schlosses bis auf den Grund auszugraben und an der selben Stelle eine russische Kirche erbaute, in welcher der Leichnam der Königin Katharina Pavlovna beigesetzt wurde. 1864 wurde dann nach dem Testament des in diesem Jahr verstorbenen Königs auch sein eigener Leichnam in dieser Kirche neben dem seiner geliebten Gattin begraben. Deshalb befindet sich die-ser ganze Berg im Besitz und unter Aufsicht des Württembergischen Hofes und obgleich hier in der Nähe der Kirche ein Haus für den Priester mit einem dazu gehörigen Garten und Weinberg gebaut wurde, war der ganze übrige Teil des Berges, wel-cher einen eigenen Hügel bildet, auf dessen Höhe unsere Kirche steht, von der Schloßverwaltung den Rotenberger Bauern zum Mähen verpachtet, und deswegen konnten wir keinen Schritt aus unserem Haus tun, ohne den geliebten Rasen zu betreten. Doch dieses Mal, als man uns mitteilte, daß um 6 Uhr abends ihre Hoheiten zu uns zum Tee kämen, unterlagen wir der Versuchung, sie auf der anderen Seite des Berges zu bewirten, von wo sich der Blick auf die Villa der Großfürstin öffnet, auf das Neckartal und die weiten Ausläufer des Schwarzwaldes. Ihre Hoheiten waren begeistert von diesem Platz. Während wir hier um unserem Teetisch saßen, liefen meine Kinder und die aus anderen russischen Familien eingeladenen Kinder auf dem Gras herum. Plötzlich erscheint aus dem Dorf eine Delegation, um sich zu beschweren, daß wir das Gras zertreten hätten, und einen finanziellen Ausgleich dafür zu fordern. Sowohl der Kronprinz als auch die Großfürstin waren auf diese For-derung erstaunt, und ich mußte ihnen erklären, warum diese Leute Recht hatten, eine Wiedergutmachung zu fordern. Da fragte sie die Großfürstin, wie hoch die Pacht ist, die sie zahlen, und erklärte sofort, daß sie ab nächstes Jahr diesen ganzen Berg pachten wird, und mir zur Nutzung nach eigenem Gutdünken überläßt. So wurde das auch gemacht, und bis heute zahlt die Königin nun ihrem Gemahl, dem König, die jährliche Pacht für den ganzen Berg, und ich nutze sowohl das Gras als auch vor allem den ganzen Berg ohne Einschränkung, auf dem ich seitdem verschiedene Pflanzungen unternahm, neue Wege anlegte und den ganzen Berg in einen Park verwandelte, auf dem man jetzt den Schatten genießen kann sowie verschiedene Früchte von den von mir angepflan-zten Obstbäumen. Doch der größte Feiertag auf dem Rotenberg war immer der Pfingsttag. Dazu schmückten wir die Kirche nach russischer Sitte mit Birken, Blumen und Gras. Die Großfürstin mit dem Kronprinzen, die ganze Gesandtschaft und alle Russen von nah und fern, die nicht selten aus der Umgebung zu diesem Feiertag anreisten, füllten die Kirche. Nach der Liturgie versammelten sich alle bei mir zum Tee, und einige blieben zum Mittagessen, das immer in der reinen Luft im Garten stattfand, und blieben den ganzen Tag zu Spaziergängen um den Berg. Dies war eine unvergeß-liche Zeit und viele meiner Amtsbrüder und Gemeindemitglieder beneideten mich um meine Rotenberger Idylle.
Im Juni dieses Jahres rief man mich nach Weimar, wo die Großfürstin Maria Pavlovna gestorben war. Hier versammelten sich außer mir der Berliner Priester und der hiesige Erzpriester Sabinin für die feierliche Beerdigung der Großfürstin. Hier lernte ich zum ersten Mal ihre Tochter kennen, die Prinzessin Augusta, die jetzige deutsche Kaiserin. Ich schenkte ihr damals meine Übersetzung der Panichida, und tat ihr damit einen solchen Gefallen, daß sie sich von diesem Büchlein nicht nur wäh-rend der Panichiden am Grab ihrer verstorbenen Mutter nicht mehr trennte, sondern, wie sie mir selbst sagte später auch nicht bei ihren persönli-chen Gebeten für die Seelenruhe ihrer Mutter. Dieses Mal schenkte sie mir als Zeichen ihres Wohlwollens eine Ikone des Gottesmutter von Kazan', die auf Porzellan gemalt war, in einem ge-schnitzten Holzrahmen, und sie nahm mir das Wort ab, daß ich mich immer in jeder Stadt, in die sie fahren wird, bei ihr melde, was ich auch heilig bis jetzt erfülle, besonders in Baden-Baden, wo sie sich häufig aufhält und ihre Hoheit jedes Jahr den Früh-ling und den Sommer verbringt. Einmal weilte ich in Baden-Baden nur wenige Tage während ihres Aufenthaltes und konnte mich nicht bei ihrer Hoheit melden. Als sie meinen Namen auf der dortigen Fremdenliste las, ließ sie sofort unseren Gesandten Kolo³in rufen und fragte ihn aus, weshalb ich in Baden-Baden war und sie nicht aufgesucht hatte. Dieser antwortete, daß ich nur auf eine Nacht gekommen und am nächsten Morgen abgereist war . Dies zwang mich dazu, mich unbedingt bei ihr zu melden. Ihr Bruder, der jetzt regierende Großher-zog von Sachsen-Weimar, erwies mir sowohl in je-ner Zeit in Weimar als auch bei verschiedenen spä-teren Begegnungen sein besonderes Wohlwollen. Nach der Beerdigung der Großfürstin zeichne-te er mich mit einem Brilliantring und dem Weimarer Orden des Weißen Falken am Halsband aus. Auf diese Weise wurde meinem Zeringen Löwen nun ein Falke zugesellt, und ich erinnerte mich an den Scherz des Grafen Tolstoj, der sagte, daß ich bald einen ganzen Zoo am Hals haben werde.
Im Juli begab sich unsere Großfürstin nach Bad-Ems, wo sich in dieser Zeit die Kaiserin Alexandra Feodorovna aufhielt. Die Gottesdienste dort vollzog Jany³ev mit dem Klerus aus Wiesbaden. Doch ihn forderte die Großfürstin Elena Pavlovna nach Mecklenburg an zur Einweihung der Kirche in Rümplin, wo die Sommerresidenz der Großfürstin Katharina Michailovna eingerichtet werden sollte, die mit dem Herzog von Mecklenburg - Strelitz verheiratet ist, und ich wurde nach Bad Ems gerufen, um den Gottesdienst für die Kaiserin zu halten. Der Mecklenburgische Doppelstaat, der in Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz zerfällt, besitzt jetzt drei russische Kirchen. Außer der in Rümplin gibt es dort jetzt eine Kirche in Ludwigs-lust, der Sommerresidenz der Großherzogin Elena Pavlovna, einer der 5 Töchter des Zaren Pavel Petroviç, die im Ausland verheiratet waren. Eine von Ihnen, Katharina Pavlovna, war die Württembergi-sche Königin und ist im Rotenberg begraben, eine andere, Alexandra Pavlovna, war mit dem ungarischen Palatin Joseph verheiratet und ist in Irom, in der Nähe von Budapest beerdigt, in einer speziell für diesen Zweck erbauten russischen Kirche. Die Dritte, Maria Pavlovna, die in Weimar starb ist in der herzoglichen Gruft beigesetzt, neben den Gräbern von Goethe und Schiller. Übrigens wurde an diese Gruft eine kleine russische Kirche angebaut, und den Sarg der Großfürstin stellte man so auf, daß er zur einen Hälfte in der russischen Kirche steht, zur anderen aber in der allgemeinen Gruft der Sachsen-Weimarer Herzöge, die auch die sterblichen Überreste der beiden großen deutschen Dichter in ihrer Mitte aufzunehmen geruhten. Die vierte der fünf Schwestern, die im Ausland verstarben, war Anna Pavlovna, die Königin der Niederländer, die im Haag starb. Schließlich, die fünfte, Elena Pavlovna, die ein Mecklenburg beerdigt ist. All unsere Kirchen im Ausland sind nicht Hauskapellen, sondern richtige Kirchen, die meistens an auffallenden und erhabenen Punkten erbaut wurden, und ich erinnere mich der Bemerkung, die Gogol dazu machte, als die Kirche in Wiesbaden ebenfalls auf einem Berg gebaut wurde, von wo sie auf weite Entfernung zu sehen war.
"Sehen Sie, sagte er mir, wie die Ausländer unsere Kirchen verherrlichen, ohne dies selbst zu bemerken. Sie wird sie mit der Zeit alle mit ihrem Orthodoxen Kreuz segnen".
"Gebe Gott, daß diese prophetischen Worte unseres großen Dichters einmal Wahrheit werden".