Die Entwicklung des russischen geistlichen Lebens auf der Grundlage des Hesychasmus*
Das Gebet führt zur Gnade, die Gnade aber ihrerseits beflügelt das Gebet. Beide bedingen sich gegenseitig und wirken gegenseitig an ihrem Wachstum. Die Sammlung des zerstreuten Geistes liegt letztlich nur in der Macht der Gnade. Solange die Regungen des Geistes zerstreut sind und in verschiedene Richtungen weisen, gibt es in ihm kein Leben. Das Leben entsteht erst durch die wirkliche Kraft der Gnade, die den Geist sammelt und zu Gott führt. Ohne die Einwohnung der Gna-de bleibt der Mensch ein Spielball der Dämonen. "Was hält am ehesten die Gnade in der Seele? fragt Bischof Theophan, und er antwortet: die De-mut. Wofür verläßt sie die Seele am schnellsten? Von irgendeiner Regung des Stolzes, der Über-heblichkeit und Selbstzufriedenheit. Sowie sie in sich den widerwärtigen Geruch des Stolzes em-pfindet, entschwindet sie sofort". Die Ganzheit un-seres geistlichen Organismus ist dann hergestellt, wenn der Geist in das Herz versenkt ist, d.h. Geist und Herz miteinander vereint sind. In diesem Zu-stand empfindet der menschliche Geist überhaupt nicht mehr das Verlangen, seine Aufmerksamkeit auf irgendetwas außerhalb des Herzens zu lenken. "Bei einer solchen Haltung des Herzens, schreibt der Starez von Valaam Agapij, geht beim Men-schen alles aus dem Kopf ins Herz, und dann er-leuchtet gleichsam ein geistiges Licht sein gesam-tes Inneres" .
Der Zustand des in der Liebe zu Gott im ständi-gen Gebet verweilenden Herzens wird in verschie-dener Weise umschrieben: Feuer, Sonne, Licht, Strahl, Funke, Wärme. All dies sind Benennungen, die aus der älteren hesychastischen Erfahrung und Literatur natürlich bekannt sind. "So wie häufig nachgelegte Holzscheite die Flamme des Feuers vergrößern, so weckt auch das häufig und mit der Versenkung des Verstandes in Gott geübte Gebet im Herzen die göttliche Liebe, die, wenn sie auf-flammt, den ganzen inneren Menschen erwärmt, erleuchtet und belehrt" schreibt der Abt Chariton in unserem Jh. . Bei den einen wird das Gebet be-gleitet von einer Erleuchtung des Antlitzes, bei an-deren von einem sie umgebenden Licht, bei wie-der anderen schließlich durch die Erhebung über die Erde. Bischof Theophan umschreibt es so, daß man "die Gedanken des Verstandes und die Nei-gungen des Herzens so einstellen muß, daß der Geist des Menschen immer bei Gott weilt, gleich-sam zu Ihm hinzugetreten. Wer so ist, der wird un-aufhörlich von einem inneren Licht erleuchtet, em-pfängt die Strahlen des geistigen Lichtes (Theo-dorit), ähnlich dem Moses, bei dem das Antlitz auf dem Berg durch das Verweilen mit Gott verherrlicht wurde". Diese Erscheinung wird z.B. mit den Wor-ten des Psalm 4,6 in Verbindung gebracht: "Erhe-be, o Herr, über uns das Licht Deines Angesichts". Bischof Theophan sagt unumwunden: "Das wich-tigste, was mit dem Gebet erstrebt wird, ist das Er-reichen jenes Feuers, welches dem Maximos Kav-sokalivites gegeben wurde". Dieses Feuer als Vor-stufe zu dem stillen Licht der Verklärung verbrennt nach der Lehre der Väter alle Kräfte der menschli-chen Natur. Die geistliche Entwicklung, die bis zum Erhalt des himmlischen Lichtes führt, vergleichen sie mit der Wirkung des materiellen Feuers: "Wenn man durch langes Reiben Feuer erzeugt und die-ses in Holzscheite legt, so werden diese entfacht und verbreiten beim Brennen Knistern und Rauch. Genau dasselbe geschieht auch im Innern. Das Feuer ist aufgenommen, das Brennen beginnt. Wieviel Rauch und Knistern es dabei gibt - das wis-sen nur die, die es erfahren haben. Doch wenn al-les niederbrennt, - hören Rauch und Knistern auf, und drinnen bleibt nur die Qualität des Lichts. Die-ser Zustand ist der Zustand der Reinheit; dahin führt ein weiter Weg. Doch Gott ist sehr barmherzig und allmächtig". Und so kommt der Herr, nach den Worten des Bischofs Theophan, "um Sein Licht in unseren Geist zu gießen, das Gefühl zu reinigen, die Tätigkeiten zu lenken". "Um des Eifers und der Mühen des Menschen willen, der sich Gott über-antwortet, wird die Gnade auf ihn herabsteigen und ihn mit ihrer erleuchtenden Kraft immer mehr durchdringen, oder sich ihn eigen machen" .
Die enge Verbindung, ja Abhängigkeit des Schauens des göttlichen Lichtes vom Gebet kommt auch in vielen Vergleichen zum Ausdruck, die die geistlichen Führer benutzen: "Die ständige Übung im Gebet…entspricht genau dem Halten eines Gegenstandes an der Sonne, weil wir hier das Halten des Menschen vor dem Antlitz des Herrn erkennen, Der die Sonne der geistigen Welt ist… ein Feuer entbrennt im Herzen, und es wird davon Zeugnis ablegen, daß im innersten Brenn-punkt unserer Natur das geistliche Leben geboren wurde, oder daß der Herr in uns angefangen hat zu herrschen". Durch das Gebet festigt sich das Ge-denken an Gott im Geist des Menschen, "und das Antlitz Gottes wird in der Seele sein wie die Sonne. Leg einen kalten Gegenstand an die Sonne, er wird erwärmt. So wird auch die Seele durch das Gedenken an den Herrn erwärmt, Der die geistige Sonne ist" .
Das geistliche Leben schreitet fort, wenn das Feuer der Anhänglichkeit an den Herrn ständig brennt, denn dann kehrt mit ihm auch eine fried-liche Stimmung des Herzens ein, die mit der unab-lässigen zerknirschten und demütigen geistigen Anrufung des Herrn einhergeht. Das Feuer setzt Bischof Theophan gleich mit der Gnade: "Solange der Eifer vorhanden ist, ist auch die Gnade des Hl. Geistes anwesend. Sie ist Feuer. Das Feuer wird durch Holzscheite genährt. Die geistlichen Holz-scheite sind das Gebet" . Nach Bischof Ignatij ist das Feuer Gott: "unser Gott ist verzehrendes Feu-er. Vom Feuer schmilzt Wachs, und üble Unrein-heit wird ausgetrocknet. So werden auch durch die geheime Belehrung üble Gedanken ausgetrock-net, Leidenschaften aus der Seele vertrieben. Der Geist wird erleuchtet, der Gedanke geklärt und ver-feinert, Freude ergießt sich in das Herz" .
Aus eigener Erfahrung mit den Funktionen des Herzens vertraut, weisen die erfahrenen Starzen auf die Gefahren hin, die den Menschen am wah-ren Gebet hindern können. Das erste Hindernis ist die Einbildung und Phantasie des Menschen. Sie kommen von außen und versperren den Weg nach innen. Das zweite Hindernis ist der Verstand, der Geist. "Auch dieser muß umgangen werden, und mit ihm muß man ins Herz eingehen… Der Geist bleibt dann im Kopf und will selbst alles in der Seele einrichten und alles lenken; doch diese Mü-hen führen zu nichts". Weitere Hindernisse sind Selbstrechtfertigung, Selbstbedauern, Eigenlie-be, denn, wie Bischof Theophan unterstreicht: "der Entschluß sich Gott anzuschließen hat zwei Seiten: die eine - der verleugne sich selbst, die an-dere - der folge Mir nach…" . Großen Schaden fügt dem geistlichen Leben das Gefühl der Rechtschaf-fenheit zu, Verurteilung und überhaupt das Urtei-len über andere, Überheblichkeit, Ruhmsucht. "Das ist Höllenrauch und Gestank! Gewöhnen Sie sich daran, sich mehr zu freuen, wenn man mit Ihnen abschätzig verfährt, Ihnen Vorwürfe macht oder Sie gar beleidigt, als wenn man Sie liebkost und willkommen heißt. Darin liegt der sicherste Weg zur Demut". Ruhmsucht, sagt Bischof Theo-phan, ist der Hausdieb, der sich mit den äußeren Dieben verschworen hat. Er öffnet ihnen die Fen-ster und Türen; diese kommen herein und vollbrin-gen drinnen eine große Verwüstung". Ebenso be-hindern Sorgen und Geschäftigkeit weltlicher Na-tur das geistliche Leben. Alles, was das Herz ge-fangen hält oder woran sich das Herz bindet, stellt ein Hindernis für das Verweilen des Menschen in seinem Inneren dar. Um das Herz vor diesen Ge-fahren zu bewahren, muß sich der Mensch ständig darum mühen, seinen Willen zu brechen. Dazu gibt Bischof Theophan detaillierte Anleitungen: "wenn du dich so in der Überantwortung deiner selbst an Gott und Seine Gnade im Gebet gefestigt hast, rufe jeden einzelnen Erreger der Sünde auf und versuche, dein Herz von ihnen abzuwenden und es auf das Gegenteilige zu wenden. - Dadurch werden sie vom Herzen abgeschnitten und müs-sen absterben. Gib dafür der gesunden Unter-scheidungsgabe Freiheit und führe das Herz auf ihren Spuren". Für diesen Weg der Askese ist na-türlich die Unterscheidung der geistlichen Angriffe und Versuchungen wertvoll, die bereits bei Nil Sorskij voll ausgearbeitet ist. Die von Nil Sorskij ge-schaffene Terminologie wird von den späteren rus-sischen Starzen als selbstverständlich vorausge-setzt.
Für das innere wie für das äußere Tun sehen es die Väter als gleich wichtig an, daß der Mensch al-les im Namen des Herrn vollbringt. Das bedeutet, daß man versucht, alles zum Ruhm Gottes zu wen-den, "versuchen alles so zu tun, daß es Ihm gefällig ist, mit dem Bewußtsein Seines Willens dafür, und weiter - jede Handlung mit dem Gebet einkreisen" . Auf eine große Gefahr für den Gottessucher und Beter weisen alle Väter wiederholt hin: es ist die Verblendung (prelest') . Wie in alter Zeit, so erscheint sie auch heute als Folge verfrühter Ab-sonderung in die Einsiedelei oder verfrühter und ohne Segen aufgenommener, zumeist übertriebe-ner asketischer Übungen. Ein von Überheblichkeit getragener Asket nimmt ein falsches Verständnis von geistlichen Angelegenheiten und von sich selbst als wahr an. Als deutliches Beispiel dieser Art von Verblendung weist Brjançaninov auf Tho-mas a Kempis "imitatio Christi". Ebenso wird die Verblendung durch das Verharren in irgendwel-chen Sünden und sündigen Gewohnheiten her-vorgerufen, durch welche in der Seele ein Zwie-spalt entsteht, der den Menschen bis zum Wahn-sinn treiben kann. Die Gefahr der Verblendung ist auch immer dann zu verzeichnen, wenn sich je-mand aus eigenem Antrieb ohne geistlichen Füh-rer an das Herzensgebet wagt. So macht Paisij Ve-liçkovskij darauf aufmerksam, daß derjenige in Ver-blendung verfällt, der natürliche, körperliche Wär-me, von deren Bedeutung wir früher sprachen, für die gnadenerfüllte Wärme hält . Zur Vermeidung der Verblendung empfiehlt er als einzigen Weg die völlige Selbstverleugnung, "die uns lehrt im Gebet allein die Aufmerksamkeit zu suchen".
Auch in der heutigen Praxis treffen wir immer wieder auf die Frage nach den Kunstmitteln bei der Übung des Herzensgebetes, womit hauptsächlich die Körperhaltung und die Regulierung des Atems gemeint sind. Hierzu finden sich in der Philokalia spärliche Angaben, und häufig meinen Anfänger im geistlichen Leben, daß diese äußerlichen Mittel bedeutender seien, als der eigentliche geistliche Kampf. Alle neueren Väter sind sich jedoch darin einig, daß man solche Mittel auf keinen Fall ohne Unterweisung durch einen erfahrenen geistlichen Vater anwenden sollte. Andernfalls führen auch sie auf schnellstem Wege in die Verblendung. Ver-zweiflung und Überheblichkeit sind die beiden äußersten Abweichungen vom rechten Weg des geistlichen Lebens . Um uns davor zu bewahren nennt der Starez Vasilij, ein Gefährte des Pasisij Velickoskij, als stärkste Waffen die Gottesfurcht und das Gedenken an die Omnipräsenz Gottes - über allem aber den Namen Jesu, d.h. das reine Gebet .
Die Bedeutung der russischen Starzen und Lehrer, die auf dem Boden des Hesychasmus fort-wirkten, ist m.E. in erster Linie darin zu sehen, daß sie die Lehre der älteren Väter in einer unserer Zeit angemessenen Weise erklären und erläutern. Auf der Grundlage der Hl. Schrift und der Hll. Väter der Alten Kirche arbeiten sie Einzelheiten heraus, die wohl für die Gottessucher früherer Jahrhunderte selbstverständlich waren, uns jedoch verloren ge-gangen sind und daher besonderer Hinweise be-dürfen. Ihr besonderes Verdienst ist m.E. in der Ausweitung der Anwendbarkeit hesychastischen Gedankengutes und hesychastischer Praxis über die Anachorese hinaus in das Leben im Skit und weiter sogar in der "Welt" zu sehen. Die Grundlage dafür schuf bereits Nil Sorskij. Die Ausarbeitung fiel jedoch den Vätern des 19. Jh.s zu. Fügen sie in der Sache keine neue Lehre hinzu, so sind sie eben um die Festigung und das zeitgemäße Ver-ständnis der alten Lehre und Erfahrung der Väter bemüht. Es ist verständlich, daß die neueren russi-schen Väter sich auch ausdrücklich immer wieder auf die älteren Väter berufen, indem sie ihre eige-nen Worte etwa mit dem Vermerk einleiten, daß es dem Geist der patristischen Vorschriften nicht fremd sei, wenn man dies oder jenes sagt. Bischof Ignatij sagt mit Recht in einer Würdigung des Wir-kens des Starzen Vasilij: "Alle Schriften der griechi-schen Väter erheischen tiefe Ehrfurcht angesichts der Fülle ihnen innewohnender und aus ihnen at-mender Gnade und geistlichen Verstandes. Doch die Werke der russischen Väter sind uns ange-sichts ihrer besonderen Klarheit und Einfachheit der Darstellung, der größeren Nähe an unsere Zeit, leichter zugänglich als die Schriften der grie-chischen Heiligen…Der Starez Vasilij bezeichnete seine Schriften als Wegweiser oder Einführungen zur Lektüre der griechischen Väter". Für uns zeich-nen sich nun natürlich auch des Bischofs Ignatij ei-gene Schriften wie auch die Anweisungen späte-rer russischer Starzen durch eben diese Charakte-ristika aus.