Die Kategorie der Zeit in der orthodoxen kirchlichen Tradition
"Der Julianische Kalender ist eine Ikone der Zeit" (in Rußland gehört)
Seit Alters her verneigte sich der Mensch in Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Zeit und versuchte es zu durchdringen. Die Zeit erschien ihm entweder zu tiefst feindlich mit der Forderung blutiger Opfer (wie bei den Azteken), oder als Schlachtfeld vom Chaos und Kosmos oder als magischer Traum (The dream time), der dunklen Vergangenheit der toten Ahnen zugewandt.
Märchen und Mythen überliefern uns Reste alter Vorstellungen über die Zeit. Der Mensch fürch-tete oder vergötterte die Zeit, schrieb ihr die verschiedensten Formen zu: eines Strahls, der die Finsternis durchdringt, eines Pfeils, der aus der Zukunft in die Vergangenheit fliegt, einer Kette von Umrissen. Am häufigsten wurde die Zeit als Zahl überliefert, mitunter wie bei den Orphäern und Kelten, stellte man sie als Ton oder Melodie vor. So rief der keltische Gott Dagda durch sein Spiel auf der lebendigen Harfe, der Eiche, verschiedene Jahreszeiten hervor 1. Es gibt eine poetische Auffassung der Zeit, mit der man den Streit zwischen Zeit und Ewigkeit zu lösen versucht: "Tod und Zeit regieren auf der Erde, bezeichne sie nicht als Herr-scher" (Vl. Solovjov). Die Zeit schlägt sich in metaphorischen Bildern in kosmogonischen, anthropogonischen und ethologischen Mythen nieder. Der Mensch errät, daß mit der Zeit etwas Wichtiges zusammenhängt: Anfang und Ende, seine Erinnerung und Hoffnung. Der Traum, die Zeit zu erklären und ihrer Herr zu werden, schlug sich auch in der zeitgenössischen phantastischen "Zeitmaschine" nieder, die erlauben würde, frei durch dieses uner-klärliche Reich zu wandern.
Von Chronos bis zur Theorie Einstein's durchlief die Menschheit einen langen Weg, auf dem sie dennoch das Wesen der Zeit nicht zu erraten vermochte. Durch Jahrhunderte Gegenstand philo-sophischer und wissenschaftlicher Überlegungen, bleibt die Kategorie der Zeit undefinierbar. Man schreibt ihr wohl ein angeblich zweifelloses Attribut zu - die Ausdehnung, doch auch dies erweist sich als Fiktion. So ist bekannterweise die Relativitäts-theorie auf dem Begriff des vierdimensionalen Raumes der Zeit gegründet, wo die Zeitachse vermeintlich ist.
Kann man von der Zeit der Schöpfung der Welt sprechen, wenn der Schöpfungsakt selbst nicht zur Kausalkette der Erscheinungen gehört? Seinem Wesen nach transzendent, übersteigt es jeg-liche Vorstellungen von Raum und Zeit. Wenn man von "Anfang" der Existenz spricht, muß man zur Kategorie der Zeit greifen, um im gewöhnlichen Rahmen des Menschendenkens zu bleiben.
Nach Meinung Vladimir Solovjov's, stellen die rationalen Definitionen der Zeit mehr oder weniger verdeckte Tautologien dar. Sagt man doch, daß die Zeit die Ordnung der Erscheinungen in ihrer Folgerichtigkeit darstellt, so definiert man die Zeit mit der Zeit 2.
"Und wenn wir diese Zeit messen, woher kommt sie dann zu uns? Welchen Weg durchläuft sie? Und wohin geht sie von uns?" Am nähesten kam der selige Augustinus dem Geheimnis der Zeit: "In dir, meine Seele, mäße ich die Zeiten." Nach dem seligen Augustinus bringen drei Handlungen - das Hoffen, Nachdenken und Erinnern (Gedächtnis), die in der Seele des Menschen vor sich gehen, die "Dreiheitligkeit der Zeit" hervor. Aber nicht unser Aufnehmen des Bewußtsein (die Seele) bringt die Zeit selbst hervor. Mit ihrer Entstehung ist sie der ewigen Substanz dem Schöpfer verpflichtet: "Und die Zeit selbst ist Dein Werk" 3.
Vor 1500 Jahren sagte der selige Augustinus mit seiner erhabenen und so klaren Sprache das aus, was man im 20. Jh. mit Hilfe schwieriger mathematischer Formeln auszudrücken versucht. Hinsichtlich der Zeit bedeuten sie, daß unsere Auffassung, wie auch die uns nächstgelegene Onto-logie (die Wellenfunktion der Quantenmechanik) sich nach der Zeit entwickelt, doch es gibt eine weitere Ebene (die Quelle des "Lichtes"), wo dieser Begriff keinen Sinn hat4.
Gott ist die Versöhnung der Antinomien. Die Liebe überwindet die Zeit, und ist das nicht der Grund, daß der Herr über das Leben, zu dem Er uns aufruft, durch den Apostel Johannes sagt: "Und es wird keine Zeit mehr geben" (Apok. 10, 6).
Was ist also die Zeit? "Es scheint, als gäbe es nichts, was klarer oder gewöhnlicher wäre, sagt der selige Augustinus, doch indessen gibt es nichts, was unverständlicher und geheimnisvoller wäre und mehr zum Nachdenken herausfordert"5.
Der Mensch, der die Natur und sich selbst beobachtete, sah, daß das Sterben durch Leben abgelöst wird und dann die Lebenskräfte dem Verfall und dem Tod Platz machen. Das Leben mußte von einem Wunder gerettet werden, das in Ritua-len vollzogen wird. Durch Rituale wurde Harmonie zwischen dem Leben des Weltalls und des Men-schen hergestellt. Die natürlichen Rythmen des Universums fanden ihren Niederschlag in rituellen Feiertagen. Das Ritual ist mit dem Rhythmus verbunden, wie es auch der Erinnerung verbunden ist. Hieraus entspringt der Kalender als Verwirklichung des Rhythmus in der Vereinigung von Ma-kro- und Mikrokosmos. Der Kalender ist eines der Idiome der Zeit, und wohl das Wichtigste unter ihnen. Der Kalender ist das, was man als "rhythmi-sches Gedächtnis der Menschheit" bezeichnet6.
In Verbindung mit dem 1000-jährigen Jubiläum der Taufe Rußlands kann man die Frage des Julianischen Kalenders nicht unbeachtet lassen, der in Rußland ebenfalls auf eine 1000-jährige Geschichte zurückblickt. Häufig wird die Frage aufgeworfen, warum die Russische Orthodoxe Kirche ungeachtet aller Kalenderreformen weiterhin nach diesem Kalender lebt, an den sich das alte Rußland und der gesamte mittelalterliche christliche Westen hielt. Dies einfach mit traditioneller Passivität oder Rück-ständigkeit zu erklären, wie dies mitunter getan wird, würde bedeuten, leichten Herzens einer ernsthaften Antwort aus dem Wege zu gehen und sich in die Macht der Vorurteile zu begeben. Versuchen wir jedoch, die erstaunliche Lebenskraft des Julianischen Kalenders in Rußland zu verstehen.
Wie bekannt wurde dieses System der Jahresrechnung aus Byzanz nach Rußland gebracht. Der kirchliche Julianische Kalender stellt die byzantini-sche Synthese des kalendarisch-astronomischen Erbes des alten Babylons und Ägyptens in Verbindung mit der Gelehrsamkeit der Väter der Alexandrinischen Kirche dar, die ihre Verwirklichung zur Zeit des Hl. Apostelgleichen Kaisers Konstantin des Großen fand.
Wenn wir von Kalender sprechen, müssen wir nochmals unterstreichen, daß die Vorstellungen von der Zeit bei verschiedenen Völkern und Kulturen unterschiedlich sind. So unterscheidet sich die "eschatologische Spirale" des christlichen Mittelalters von der alttestamentlichen linearen Vorstellung von der Zeit und hat nichts mit der Zykli-zität des Orphismus und Indo-Buddismus gemein.
Schon vor unsagbaren Zeiten verstand man den Kalender nicht einfach als ein Instrument zur Messung der Zeit, sondern als etwas, was den Puls des kosmischen, historischen und biologi-schen Lebens definiert. Die Alten verstanden dies. Nicht von ungefähr waren die Priester, Astronomen, Sterndeuter, Mathematiker von allgemei-ner Ehrerbietung umgeben, bis hin zu den Weisen aus dem Morgenlande des Evangeliums, die "vom Stern lernten" und kamen um dem Gottessohn Christus zu huldigen. Der Kalender spiegelte die Offenbarungen des Kalenders wider und heiligte das Leben der Völker und setzte einen bestimmten Rhythmus für ihre Existenz fest.
Seit der Menschwerdung des Logos-Gottes ist die Zeit für die Christen die Zeit der Rettung. Sie erhielt ein Ziel. Die Zeit berührte sich mit dem Eschaton und wurde von ihm durchdrungen. Es erfolgte die Heiligung der Zeit. Der sakrale Kalender des Mittelalters unterwarf sich nicht nur die Zeit, sondern auch die gesamte Lebensweise. Seit dem 4. Jh. nach Christus ist das gesamte liturgi-sche Leben der Kirche unverbrüchlich mit dem kirchlichen Julianischen Kalender verbunden. Die-ser universale Kalender war über mehr als 1000 Jahre der Kalender des gesamten westlichen Teils der Ökumene und ist bis jetzt der Kalender der Russischen Orthodoxen Kirche.
Die Zeit der Allgemeinen Kirche als Zeit der Erwartung der Auferstehung ist seit den ersten christlichen Jahrhunderten auf den wichtigsten Feiertag, das Hl. Osterfest, konzentriert. Daher ist die Geschichte des kirchlichen Julianischen Kalen-ders untrennbar mit der Ausrechnung des Osterdatums verbunden.
Unter den ersten Christen war noch eine nicht geringe Zahl von Anhängern der alttestamentlichen Bräuche. So feierten die Kirchen in Klein-asien mit ihrer Metropole in Ephesus das Hl. Osterfest gemeinsam mit den Juden am 14. Nissan, wel-cher in jedem Jahr auf verschiedene Wochentage fiel. Andere Ortskirchen jedoch - die von Alexandrien, Antiochien, Rom, Cäsarea und Jerusalem feier-ten Ostern am 1. Sonntag, der auf den 14. Nissan folgte. Damit behielten sie die Folgerichtigkeit der heiligen Geschehnisse des Neuen Testaments ein - der Kreuzigung des Herrn, am Freitag, den 14. Nissan, des Verweilens im Grab, am 15. Nissan und der Auferstehung Christi am 1. Tag der Woche - am 16. Nissan7.
In Verbindung mit dem Problem des gleichzeitigen Begehens des Osterfestes entstanden Streitigkeiten, die am Ende des 2. Jh., zur Zeit des Rö-mischen Bischofs Victor besonders heftig wurden. Bischof Victor hielt die Praxis der Osterfeier in den Kleinasiatischen Kirchen für unzulässig und forderte die Aufhebung der kirchlichen Gemeinschaft mit ihnen. Glücklicherweise verhinderte die weise Ermahnung des Hl. Irinäus von Lyon den Bruch zwischen den Kirchen. Nur eine kleine Gruppe, die aus Anhängern der kleinasiatischen Überlieferung bestand, bildete die Sekte der Vierzehntägler oder Quadrodecimanen. Alle Christen der Allgemeinen Kirche jedoch begannen vom Jahr 325 ab das Osterfest ausschließlich an einem Sonntag zu feiern, allerdings noch nicht immer zur gleichen Zeit8.
Aufgrund der arianischen Häresie, aber auch zur Schlichtung des "Osterstreitens" wurde das Erste Nicänische Ökumenische Konzil im Jahr 325 einberufen. Die Akten dieses Konzils sind nicht überliefert, doch können wir die Entscheidungen hinsichtlich des Ostertermins aus mehreren anderen Dokumenten erschließen, die uns überliefert sind. Unter ihnen ist zu nennen: das Sendschreiben des Nicänischen Konzils an die Kirche von Alexandrien, das Sendschreiben des Hl. Apostelgleichen Konstantins d. Gr. an die Bischöfe, die nicht am Konzil teilnahmen, und einige Zeilen aus den Werken des Hl. Athanasios des Großen9.
Es besteht die Annahme, daß die Entscheidung des Nicänischen Konzils nicht schriftlich niedergelegt wurde. Die Heiligen Väter, die bei dem Konzil anwesend waren, begnügten sich mit einer mündlichen Übereinkunft, deren Resultat die "freu-dige Nachricht über die Übereinstimmung hinsicht-lich der Zeit des Osterfestes" war. Und in seinem Sendschreiben an die Bischöfe, die nicht am Konzil teilgenommen hatten, sagt Konstantin d. Gr., daß es "nach allgemeiner Auffassung für besser erachtet wurde, den Tag des Hl. Osterfestes über-all und von allen am selben Tag zu feiern", weil es in einer "solch wichtigen Angelegenheit... völlig unangemessen ist Uneinigkeit zu demonstrieren. Der Herr gab uns einen Tag unserer Erlösung... Möge die gütige Vernunft eurer Heiligkeit darüber nachdenken, wie unrühmlich und unangemessen es ist, wenn an den selben Tagen die einen fasten und die anderen feiern..."10. Aus diesem Send-schreiben ist auch ersichtlich, daß die Heiligen Vä-ter des Konzils von Nicäa den Brauch, "den heiligsten Feiertag nach der Gewohnheit der Juden zu begehen" verwarfen. Der Hl. Konstantin verurteilte die syrischen Protopaschiten, die (manchmal) Ostern zweimal im Jahr feierten wie die Juden.
Die Beschlüsse des Konzils von Nicäa werden durch die siebte Apostolische Regel und durch die erste Regel des lokalen Konzils von Antiochien bekräftigt. Die letztere lautet: "Alle, die es wagen, den Beschluß des heiligen und großen Konzils in Nicäa zu übertreten... hinsichtlich des Feiertags der heilbringenden Ostern, sollen von der Gemeinschaft ausgeschlossen und von der Kirche getrennt sein, wenn sie fortfahren, sich eigenwillig diesem guten Entschluß zu widersetzen. Und dies wird von Laien gesagt. Wenn jedoch jemand von den Vorstehern der Kirche, sei es ein Bischof, Presbyter oder Diakon es wagt, sich nach dieser Entscheidung zur Verderbnis der Kirchen auszu-schließen und Pas'cha mit den Juden zu feiern, einen solchen verurteilt das Heilige Konzil von jetzt an, als einen der der Kirche fremd ist, da er sich nicht nur für sich selbst zum Grund der Gründe gemacht hat, sondern auch Anlaß zur Verwirrung und Verderbnis vieler gibt".
So wird also das Fest der Heiligen Ostern durch die siebente Apostolische Regel, die Entscheidungen des ersten Oekumenischen Konzils und die erste Regel des lokalen Konzils von Antiochien, welche es alle für überall auf die gleiche Zeit, auf einen Sonntag festlegen, definiert. Die Heiligen Väter, entschieden daß das christliche Ostern mit dem jüdischen Passah weder zusammen fallen soll, noch ihm vorausgehen. Was jedoch die Regel betrifft, "Ostern nicht zusammen mit den Juden zu feiern" (meta twn ioudeaiwon), so bedeutet dieser Ausdruck entgegen der Behauptung einiger zeitgenössischer Theologen nicht die Art des Feierns, sondern hat rein zeitliche Bedeutung. Es ist ja bekannt, daß die Christen bis zum 4. Jahrhundert be-reits ihren eigenen Brauch, Ostern zu feiern, ent-wickelt hatten 11.
Es ist außerordentlich wichtig festzustellen, daß diese Entschlüsse der Hll. Väter keinerlei genaue Angaben hinsichtlich des Kalendersystems oder technischer Regeln zur Festlegung des Ostertermins enthalten. Prof. V. V. Bolotov bewies ausreichend klar und überzeugend, daß "das Konzil von Nicäa es nicht nötig hatte, irgendwelche Erlasse rein technischer Art herauszugeben: 'die östlichen Brüder' wußten selbst, wie sie es umgehen konnten, Ostern gleichzeitig mit den Juden zu feiern "12.
Die Meinung dieses hervorragenden Gelehrten teilt auch Prof. Priester D. A. Lebedev: "Das Konzil beriet die Frage des Osterdatums nicht im Detail... Der ihm gewöhnlich zugeschriebene Beschluß, Ostern am Sonntag nach dem ersten Frühlings-Vollmond zu feiern, stellt lediglich eine spätere Formulierung des Prinzips der Alexandrinischen Oster-Tabellen dar: Ostern fällt auf den ersten Sonntag nach dem 14. Mond, der nicht vor dem Tag der Frühlings-Taggleiche am 21. März fällt (folglich auf den 15.-21. Tag des Mondes)"13. Darauf weist auch der Dozent der Moskauer Geistlichen Akademie A. I. Georgievskij in seinem Aufsatz "Über den kirchlichen Kalender" hin14. Der Professor der Leningrader Geistlichen Akademie, Erzpr. L. Voronov, weist in seiner Arbeit "Das Kalenderproblem" ebenfalls auf diesen Umstand hin15.
Das Konzil zu Nicäa ,also, "unifizierte die Praxis der Festsetzung des Ostertermins nicht durch ein Dekret"16. Dieser Umstand ist von enormer Bedeutung für die wissenschaftliche Diskussion mit denen, die für die "Berichtigung" des kirchlichen Julianischen Kalenders eintreten, wobei sie sich da-rauf berufen, daß die Frühlingstaggleiche und unbedingt der "erste Vollmond" danach angeblich die wichtigste Grundlage zur Festlegung des Ostertermins ist. Die Verfechter des "Prinzips der Taggleiche", die sich hauptsächlich auf ein wenig bekanntes anonymes griechisches Dokument aus dem 4. Jh. die "Predigt des Anatolius", stützen, müssen beachten, daß in den alexandrinischen Ostertabellen, die in der Folge von der gesamten Kirche übernommen wurden, die Frühlingstagglei-che keine selbstständige Größe darstellt, wie dies die Anhänger des gregorianischen Kalenders zu beweisen suchen, sondern lediglich eine zweitrangige, abgeleitete Größe darstellt, die dazu diente, die Grenze des Monats Abib (Nissan) festzulegen und zugleich damit den Beginn des neuen Osterjahres. Die Alexandrinischen Erzbischöfe gingen bei der Ausarbeitung ihrer Ostertabellen davon aus, daß "das christliche Ostern ein von Gott ein-gesetzter alttestamentlicher Feiertag ist, der ledig-lich im neutestamentlichen Geist mit Sinn erfüllt wird"17.
Wie bekannt, war das alttestamentliche Passah ein jährliches Gedächtnis Israels an seine Erlösung aus der Ägyptischen Gefangenschaft. Dieser Fei-ertag fiel seit Moses' Zeiten auf den 14./15. Tag des ersten Mond Monats im Jahr Nissan (oder Abib), nach dem altjüdischen Kalender, d.h. auf den Tag des Frühlings Vollmondes. Man muß jedoch beachten, daß der Monat Abib keine festumrissene Größe ist, die ihre unbewegliche Ausdehnung im Jahr besitzt, wie unser März"18. In der Heili-gen Schrift wird der Abib als "Monat der Ähren" bezeichnet (Ex. 13, 4), in dem nach Levit 23, 10-16 und Deut. 16, 9 jeder Jude am 2. Tag des Passahfestes, den Tag der ungesäuerten Brote, dem Herrn die erste gebundene Garbe, "die Garbe der Darbringung", opfern soll.
Beachtung verdienen die Worte Bolotovs hinsichtlich der Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem das alttestamentliche Passahfest begangen wird: "in der Zeit der Existenz des Tempels und der Opfer konnte man als Passahmonat, d.h. Nissan nicht denjenigen Monat ansehen, zu dessen Vollmond die Gerste in der Umgebung Jerusalems nicht reifen konnte"19.
Das bedeutet, daß das Kennzeichen des Passahmonats Abib, "des Monats der Neuen", gemäß der Heiligen Schrift das Reifen der neuen Früchte war und da das früheste Korn in Palästina erfahrungsgemäß nicht vor der Taggleiche reift, kann Passah nicht vor der Frühlingstaggleiche begangen werden. Hinsichtlich der Meinung, daß man Ostern sofort nach der Taggleiche feiern müsse, bemerkt Prof. Bolotov unter Berufung auf die wahre Osterformel, daß dies der "Eckstein der gregori-anischen Reform ist, mit dem sie steht und fällt"20. Außerdem kennt die althebräische Sprache die Wörter "Taggleiche" und "Frühling" nicht. Durch die geographische Lage Palästinas bedingt, gibt es dort nur zwei Jahreszeiten: Sommer und Win-ter. Auf diese Weise, schreibt Prof. Bolotov in seinem berühmten Vortrag, legt die Natur Palästinas selbst ein unparteiliches Zeugnis davon ab, daß die gregorianische Reform des Ostertermins le-diglich ein grober Fehler ist, etwas nicht Durchdachtes"21.
Deshalb, ob wir es wollen oder nicht, führen alle Überlegungen zum kirchlichen julianischen Kalen-der, unweigerlich zur Polemik mit den Anhängern des gregorianischen Kalenders. Und da die Kalenderfrage neben dem wissenschaftlichen auch ein praktisches, sehr aktuelles Interesse besitzt, das eng mit dem Leben der Kirche verbunden ist und besonders mit der zahlenstärksten in der orthodo-xen Welt der Russischen Orthodoxen Kirche, müs-sen wir die Grundlinien dieser Problematik untersuchen.
Wie schon früher bemerkt, ist die Erstellung und raison d'etre des kirchlichen julianischen Kalenders eng mit dem Feiertag der Auferstehung des Herrn , dem heiligen Osterfest verbunden. Die ganze Aufgabe, die vor den Heiligen Vätern stand, bestand darin, diesen Tag so festzulegen "wie er in den Tagen Jesu Christi festgelegt wurde und nicht in jene 'Verirrungen' zu verfallen, die der jüdischen Praxis des 3. und 4. Jh. innewohnten"22.
Unser Herr Jesus Christus vollzog das erste Abendmahl mit Seinen Jüngern in strenger Über-einstimmung mit der jüdischen Tradition. Das letzte alttestamentliche Passah Christi wurde jedoch im Gegensatz zu allen früheren nicht mit ungesäuer-tem, sondern mit gesäuertem Brot vollzogen, da die ungesäuerten Brote nach dem Gesetz am Nachmittag des 14. Nissan erlaubt wurden, und zu dieser Stunde befand Sich der Herr bereits am Kreuz "in Mitten der Erde zum Heil aller, die Seinen Heiligen Namen hoffnungsvoll anrufen."
Sowohl das letzte Abendmahl, als auch die Kreuzigung Christi erfolgten am Freitag, den 14. Nissan nach der jüdischen Tageszählung. Nach dem römischen, Julianischen Kalender jedoch, nach dem der Tag zu Mitternacht beginnt, fällt das Letzte Abendmahl auf den Donnerstag, die Kreuzigung aber auf den Freitag. Das Christentum, das den julianischen Kalender der Römer annahm, machte den Großen Donnerstag zum Tag des Ge-dächtnisses des letzten Abendmahls, den Großen Freitag jedoch zum Tag der Erinnerung an die Heiligen und heilbringenden Leiden unseres Herrn Jesus Christus23, was der Tradition der Synoptiker entspricht.
Das Passah der Leiden des Herrn fiel mit dem alttestamentlichen Passah zusammen, das Pas'cha aber, das die Macht des Todes zerschmetterte, das Ostern der Auferstehung erfolgte am dritten Tag nach der Kreuzigung, den 16. Nissan. Die Abfolge dieser Ereignisse, die einzigartig in der Welt und in der Geschichte sind, kann nicht verändert werden. Dies ist eine kanonische Frage von außer-ordentlich großer Bedeutung. Die Tradition der strengen Einhaltung der Heiligen neutestamentlichen Ereignisse in der Russischen Orthodoxen Kirche zeugt von ihrer Liebe zu Christus und ihrer Treue zur heiligen Überlieferung und den Vor-schriften der Hll. Väter.
Die christliche Feier des Hl. Osterfestes, die die alttestamentlichen Vorschriften übernahm, verän-derte ihre Form in Übereinstimmung mit den Ereignissen des Neuen Testamentes und den Bestimmungen der Konzilien. Obwohl er die historische Verbindung mit dem Passah des Alten Testamen-tes bewahrte, wurde der Feiertag der Auferstehung völlig unabhängig von diesem.
Die Aufgabe, vor die sich die Väter in Nicäa ge-stellt sahen, war außerordentlich schwierig. Ihre Schwierigkeit bestand darin, daß sie bei der Erstellung des Kalenders Gegebenheiten astronomi-scher, chronologischer, historischer und symboli-scher Art beachten mußten. Und die Hll. Väter lös-ten diese Aufgabe glänzend. Unter Ausnutzung einer "Kombination des Kalendarischen und astronomischen Erbes der ägyptischen und babyloni-schen Kultur, das durch die Schule der berühmten griechischen Astronomen (von Meton bis zu Hypparch)24 ausgefeilt war" , schufen sie ein kalendari-sches Meisterwerk - den kirchlichen julianischen Kalender, von dem der berühmte russische Astronom Prof. E. A. Predteçenskij sagte, daß "er so gründlich durchdacht ist, daß er bis jetzt unüber-troffen blieb. Die spätere römische Ostertabelle, die jetzt von der westlichen Kirche angenommen wurde, ist im Vergleich zu der alexandrinischen derart schwerfällig und plump, daß sie an ein Gartenlaubenbild neben einer künstlerischen Darstellung desselben Gegenstandes erinnert. Bei alledem erreicht diese furchtbar komplizierte und unbeweg-liche Maschine nicht einmal das angestrebte Ziel"25.
Betrachten wir, worauf die genannte Aussage beruht. Versuchen wir dabei, uns von der Determination einmal angenommener Vorstellungen zu lö-sen - im vorliegenden Fall versuchen wir, den von allen zeitgenössischen Ländern angenommenen gregorianischen Kalender kritisch zu betrachten, eingedenk der Worte des Hl. Fürsten Alexander Nevskij, die zum russischen Sprichwort wurden: "nicht in der Macht ist Gott, sondern in der Wahr-heit".
Da wir wissen, daß nur schwerwiegende Argumente gegen eine vorgefasste Meinung standhalten können, beschäftigen wir uns zunächst mit der Analyse der Aufgaben (in erster Linie der astrono-mischen), die vor den christlichen Schöpfern des universalen kirchlichen Kalenders standen.
Als Grundlage der Ostertabelle benutzten ihre Ersteller den julianischen Kalender, der seinen Namen zu Ehren Julius Caesars erhielt, welcher im Jahr 46 vor Christus mit Hilfe des berühmten Astronomen Sosigenes eine neue Jahreszählung ein-führte. Der große Vorteil dieses Kalenders liegt darin, daß er über einen rythmischen Wechsel von drei einfachen Jahren (mit jeweils 365 Tagen) mit einem Schaltjahr verfügt, welches 366 Tage ent-hält. Neben diesem unveränderlichen - und so wertvollen - Rhythmus (der Rhythmus ist die Grund-lage jeglichen Kalenders) hat der julianische Kalen-der eine Besonderheit: nach Ablauf von 28 Jahren fallen in ihm die Wochentage auf dieselben Daten der Monate, was für die Ostertabelle wichtig ist.
Den Bearbeitern der Ostertabelle von Nicäa war die sog. "goldene Regel" der Chronologie des be-rühmten altgriechischen Astronomen Meton bekannt, dank derer erstmalig die genaueste Verbindung zwischen dem Mond- und dem Sonnenkalender möglich wurde. Im Jahr 433 vor Christus rechnete Meton aus, daß 19 Sonnenjahre (d h. 6939,75 Tage) 19 Mondjahren gleichen, die 6940 Tage enthalten, wenn im Laufe von 19 Mondjahren 7 mal ein zusätzlicher Mondmonat eingeschoben wird. Die Astronomen wissen, daß die Bewe-gung des Mondes ziemlich schwierig ist, und die Berechnungen seiner Phasen, die ausgedehnten Perioden umfassen, große Kenntnisse auf dem Gebiet der Astronomie erfordern, sowie Erfahrung, die sich auf die Beobachtungen über viele Jahr-hunderte hin stützt. Der "metonische Zyklus", der als Meisterwerk der Astronomie angesehen wird, stellt für die Ostertabellen einen großen Wert dar, da die Mondphasen alle 19 Jahre auf die selben Tage des julianischen Sonnenkalenders fallen26.
1 vgl. Mythen der Völker der Welt, Moskau, 1980
Kuhn, N. A. Legenden und Mythen des alten Griechenland, Moskau, 1955
2 Mircea Eliada, Le Mythe de l'éternel retour, Paris, 1959
3 Paul Ricoeur, La métaphore vive, Paris,1975
Carl Gustav Jung, L'homme et ses symboles, Paris, 1964
2 V.S. Soloviov, Gesammelte Werke, St.- Petersburg 1897-1900, Bd. 10, S. 231
3 Seliger Augustinus, Werke, Kiev, 1914, Bd. 1, S. 312-334
4 vgl. V. Trostnikov, Gedanken vor der Dämmerung, Paris, 1980, S. 247
5 Seliger Augustinus ibid.
6 A. N. Zelinskij, Konstruktive Prinzipien des altrussischen Kalenders, in : Kontext, Moskau, 1978, S. 62.
7 A. I. Georgijevskij, Über den kirchlichen Kalender, Moskau 1948, S. 8
8 ibid. S. 8-9
9 s. Eusebius, Vita Constantini, 3, 18-19; Sokrates, Kirchengeschichte, 1,9; Theodoret, Kirchengeschichte 1, 10; Akten der Ökume-nischen Konzilien in russischer Übersetzung, Kazan' , 1872, Bd. 1, S. 76, Doc. 16; Hl. Athanasios, über die Konzilien, 5; an die Afrikanischen Bischöfe, 2.
10 Eusebius, Vita Constantini, 3, 18-19
11 Archimandrite Nikon Patrinakos, in Synodica V, edit. du Centre Orthodoxe, Chambésy-Genève, 1981, p. 43.
12 Prof . V. V. Bolotov, Vorlesung, Sitzungsprotokolle der Kommission für Fragen der Kalenderreform bei der Russischen Astronomischen Gesellschaft, 31. Mai 1899, Beilage 5, S. 40 (russ.)
13 s. 2.Anm. Priester D.A. Lebedev, zu S. 444 der "Vorlesungen zur Geschichte der Alten Kirche", von Prof. V.V. Bolotov, SPb. 1910 (russ.)
14 Georgievskij, op.cit. S. 11
15 Prof. Erzpriester Liverij Voronov, Das Kalenderproblem. Seine Untersuchung im Lichte des Beschlusses des Ersten Ökumenischen Konzils über die Ostertabelle und Klärung des Weges zur Zusammenarbeit in dieser Frage, Bogoslovskie trudy 7, Moskau 1971, S. 182-184
16 ibid. S. 182, vgl. Le Rev. prof. Ene Braniste, Le thème de la célébration commune des Paques, in Synodica op. cit. S. 23-24
17 V. V. Bolotov, op. cit. S. 43
18 Georgievskij A. I. op. cit. S. 6
19 V. V. Bolotov, op. cit. S. 45
20 Ibid. S. 46.
21 Ibid.
22 Ibid. S. 44
23 s. Zelinskij, op. cit., S. 74
24 ibid. S. 70
25 E. A. Predteçenskij , die kirchliche Zeitrechnung und ein kritischer Überblick über die bestehenden Regeln zur Festsetzung des Ostertermins (rus. ), SPb. 1892, S. 3 f.
26 s. L. Voronov, ob. cit. S. 178; A. Zelinskij, op. cit., S. 69.
Bote 1989-3
Die Kategorie der Zeit
in der orthodoxen kirchlichen Tradition (II)*
So wurde bei der Aufstellung der Ostertabelle der19 -jährliche Mondzyklus einberechnet. Dabei war in dem Metonisch-sosigenischen Zyklus die sog. "Berichtigung des Kalyppos" einbezogen worden 27, wodurch die Dauer des Sonnesjahres und des Mondsmonats an ihre wahren astronomischen Größen angenähert wurde. Die angenommene Veränderung kam gleichzeitig den Forderun-gen beider Berechnungen entgegen: der nach dem Mondzyklus und der nach dem Sonnenzyklus 27.
Die Berechner der orthodoxen Ostertabelle mußten auch den Mondrythmus mit der Woche (aus 7 Tagen bestehend) in Übereinstimmung bringen, um die Folgerichtigkeit der neutestamentlichen Ereignisse zu bewahren, die mit den letzten Tagen des irdischen Lebens Jesu Christi zusammenhingen, wobei die Verbindung zwischen dem Hl. Osterfest und dem alttestamentlichen Passah erhalten werden mußte. In seiner glänzenden Arbeit zur Frage des kirchlichen julianischen Kalen-ders, sagte A. N. Zelinskij dazu: "Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Aufgabe, die vor den Erstellern der Ostertabellen von Nicäa standen, in ihrer Schwierigkeit bei Weitem die Schwierigkeiten übertrafen, die mit der julianischen Reform oder der 'Berichtigung des Kalyppos' " zusammenhingen29.
Die orthodoxen Rechner suchten bei der Ausarbeitung von Prinzipien, die von der jüdischen Passah-Praxis unabhängig waren, Differenzen zwischen dem Metono-Sosigenischen Zyklus und dem Mond, und offensichtlich mit dem jüdischen Kalender. Diese Differenz wurde dadurch erreicht, daß am Anfang des Zyklus des Kalyppos alle 304 Jahre das Anwachsen des Mondes nicht abgebrochen wurde. Dennoch fiel aus astronomischen Gründen bis zum Jahr 592 das hl. Osterfest man-chmal mit dem jüdischen Passah zusammen. Daß bis zum Jahr 783 mitunter das christliche Ostern mit dem jüdischen Passah zusammenfiel, worauf Prof. Voronov hinweist, erklärt sich daraus, daß die Juden ihr Passah verlegen, wenn es auf einen Montag, Mittwoch oder Freitag fällt. Deshalb fielen in der genannten Zeit tatsächlich manchmal die Feiertage zusammen30.
Seit 592 aber "wurde solches Zusammenfallen nicht nur astronomisch, sondern auch aus der Sicht der Berechnung des Ostertermins" unmög-lich31. Das hl. Osterfest wurde zu einem beweglichen Feiertag, wobei alle an seine Feier gestellten Bedingungen genau erfüllt wurden. Im Laufe einer langen Zeit, über ein Jahrtausend, lebten die Christen, die ein und denselben Kalender benutzten, hinsichtlich des Begehens des Osterfestes in Einmütigkeit. Dies unterstützte die Einheit der Struktur der alten Kirche selbst nach 1054. "Die gregorianische Kalenderreform von 1582 zerstörte zum ersten Mal die Christliche Einheit hinsichtlich des Kalenders und in der Folge die einheitliche Feier des Osterfestes"32. In diesem Zusammenhang führen wir die Worte des Hl. Johannes Chrysostomos an: "selbst wenn sich die Kirche in Irrtum befände, so ist die Genauigkeit in der Beachtung der Daten nicht so wichtig, wie das Vergehen der Trennung oder des Schisma"33.
Hier muß man sagen, daß der Tag der Früh-lingstaggleiche in 128 Jahren um einen Tag ver-schoben wird, der Tag der Mondphase in 310 Jahren um einen Tag. Dies geschieht im Gefolge der Kalenderpräzession, die den Erstellern der Ostertabellen bekannt war. Da es jedoch unmöglich ist, die Bewegung des Mondes und der Sonne auf der kalendarisch-astronomischen Ebene zu vereinen, ist jeder Kalender zu größerer oder kleinerer Ungenauigkeit verurteilt und wahrscheinlich kann kein Astronom einen absolut genauen Kalender schaffen. Das bestätigen auch die Astronomen selbst, - unter denen jeder seinen eigenen Kalender verficht, der sich von anderen unterscheidet. Der Unterschied ihrer Lösungen wie auch ihre Widersprüche säen Zweifel an der Richtigkeit ihrer Berechnungen34. Es ist auch unmöglich, im Kalender irgendetwas auf ewig festzulegen. Ein solcher Versuch würde dem Bemühen gleichen, die Zei-ger einer arbeitenden Uhr an einem Platz festzuhalten.
Hier gelangen wir zu dem Moment, der eben mit einem solchen Versuch zusammenhängt, den Punkt derFrühlingstaggleiche auf "ewige Zeiten" auf den 21. März festzuschreiben (im Jahr des Nicänischen Konzils fiel sie auf den 21. März). Mit dem Ziel der Fixierung der Frühlingstaggleiche wurde auch im Jahr 1582 die gregorianische Re-form durchgeführt. Der Papst Gregor XIII veröffent-lichte die Bulle "Inter gravissimas", in welcher es heißt: "wir bemühten uns, nicht nur die Taggleiche auf den ihr seit alters her vorbestimmten Platz zu-rückzubringen, von welchen sie seit dem nicäni-schen Konzil um ungefähr 10 Tage abgewichen ist, und dem XIV Mond seinen Platz wiederzugeben, von welchem er gegenwärtig auf 4 oder 5 Ta-ge abweicht, sondern auch eine Methode und Re-geln zu finden, durch die erreicht wird, daß in Zukunft die Taggleiche und der XIV Mond nie wieder von ihren Plätzen entfernt werden" (kurs. L. P.)35. Es ist doch allen bekannt, daß Mond und Sonne in ständiger Bewegung sind, und deshalb keinerlei "Methoden und Regeln zu finden sind, die eine ewige Festsetzung der Taggleiche und des XIV Mondes gestatten würden.
Wir wissen schon, daß die wichtigste Forderung, die von je her an den Kalender gestellt wur-de, die Bewahrung des Rhythmus ist. An früheren Stellen untersuchten wir die zyklischen Bewegungen und den makellosen Rhythmus des juliani-schen Kalenders. Doch das, was das Verdienst dieses Kalenders ausmacht, stellt den wichtigsten Mangel des gregorianischen dar. Es ist bekannt, daß im Vergleich mit dem julianischen Jahr die mittlere Dauer des gregorianischen Jahres näher an der Größe des tropischen Sonnenjahres liegt (das julianische Jahr überschreitet diese wahre Größe um 11 Minuten und 14 Sekunden). Der gregorianische Kalender ist jedoch auch ungenau hinsichtlich der Größe des tropischen Jahres. Der in ihm enthaltene Fehler wird sich im Laufe der Zeit ver-größern. Was aber seine abstrakte Genauigkeit betrifft, so ist diese nach den Worten Zelinskijs "mit einem zu hohen Preis erkauft"36. Erstens ist im gregorianischen Kalender wegen der Veränderung von Schaltjahrhunderten in einfache die Zahl der Tage in den Jahrhunderten ungleich. Im julianischen Kalender sind alle Jahrhunderte Schaltjahre, im gregorianischen aber nur jedes vierte, "doch, wenn ein Schaltjahr den Rhythmus schafft, so zerstört ihn ein Jahrhundert, das dessen beraubt ist"37. Zweitens gleichen die Zeitspannen in den gregorianischen Jahrhunderten, die gleichzeitig auf Schaltjahrhunderte und einfache Jahrhunderte fallen, nicht den entsprechenden Zeitabschnitten, die sich zwischen den benachbarten Nichtschaltjahrhunderten befinden. Drittens, in ihm ist das Wesen des Kalenders zerstört: die Exis-tenz einer minimalen Periode, die aus einer gan-zen Zahl von Tagen besteht. Und, wenn diese Periode im julianischen Kalender vier Jahren oder 1461 Tagen gleicht, so stellt sie im gregorianischen 400 Jahre, d.h. 146 097 Tage dar.
Außerdem enthalten die Halbjahre, Vierteljahre und Monate des gregorianischen Kalenders eine ungleiche Zahl von Tagen; die Wochentage stimmen nicht mit den Daten der Monate überein so-wohl in verschiedenen Jahren, wie auch im Laufe ein und desselben Jahres. Wegen des Vorkommens sogenannter "zersplitterter " Wochen in der Mehrzahl der gregorianischen Monate erfolgt ihr Wechsel unabhängig von der Dauer der Monate. Was aber die chronologischen Anforderungen betrifft, so stellt der gregorianische Kalender nach den Worten von Prof. V. V. Bolotov eine "wahre Qual für die Chronologen" dar.
In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, auf das Wirken des berühmten Chronologen Josef Scaliger, eines Zeitgenossen des Papstes Gregors XIII., hinzuweisen. In seinem Traktat "Neue Ar-beit zur Verbesserung der Zeitrechnung" bewies er, daß nur das julianische kalendarisch-chronolo-gische System fähig ist, die ununterbrochene Rechnung in der Weltchronologie sicherzustellen38.
Die Tageszählung im Kreis Scaligers (deren Prototyp die nicänische Ostertabelle ist) kann man folgerichtig und ununterbrochen von einem will-kürlichen Anfangsdatum führen. Dank dieser einmaligen Qualität wie auch ihren anderen Vorteilen stellt die julianische Jahreszählung in der Redaktion Scaligers die Grundlage aller astronomischer und chronologischer Berechnungen dar. Deshalb ist es "paradox, daß die gleiche Periode, ohne die die Astronomie und Chronologie unserer Tage nicht auskommen kann, von Papst Gregor XIII., als für den Kalender ungeeignet angesehen wur-de"39. In historischen und chronologischen For-schungen müssen die Berechnungen zunächst nach dem julianischen Kalender angestellt und so-dann in ihre gregorianische Daten übersetzt wer-den. So zeigt all dies, daß die von Rom unternommenen Schritte unbegründet sind. Die Reform des Jahres 1582 erwies sich in der Tat als erfolglos so-wohl vom wissenschaftlichen Standpunkt, als auch hinsichtlich des von den Gregorianern angestrebten Ziels. Im gregorianischen Kalender verschiebt sich nämlich das Datum der Frühlingstaggleiche, wenn auch langsamer als im julianischen, so doch unaufhaltsam von seiner wahren astronomischen Bedeutung, und die astronomischen österlichen Vollmonde entfernen sich von der Taggleiche alle 310 Jahre um einen Tag voraus40.
Der Versuch Roms, Ostern ausschließlich zu einem Frühlingsfest zu machen entbehrt des Grundes, da das Christentum als universale Religion in beiden Hälften der Erde die Auferstehung Christi zu verschiedenen Jahreszeiten feiert. Wenn nämlich der Tag des Hl. Osterfestes auf der nördlichen Halbkugel in den Frühling fällt, so erfolgt er in der südlichen Halbkugel im Herbst. We-der astronomisch, noch meteorologisch, kann Ostern auf beiden Halbkugeln der Erde gleichzeitig in den Frühling fallen. Es ist ein Feiertag des Frühlings im Geiste, nicht nach den Buchstaben.
Was aber den uns interessierenden julianischen Kalender betrifft, so ist seine Einfachheit, Lebendigkeit und praktische Anwendung darin beschlossen, daß die Tage hier nach 28 Jahren auf die gleichen Daten zurückkehren, die Neumonde und Vollmonde - alle 19 Jahre. Der österliche Zyklus oder das Große Indiktion umfaßt 532 Jahre. Er beruht auf der Verbindung des 19-jähr-lichen "Kreises des Mondes" mit dem 28-jährlichen "Kreis der Sonne". Die Zahl 532 ist das Resultat der Multiplikation zweier Größen: 19 und 28. Der Osterzyklus besteht daher aus 28 19-jährigen "Kreisen des Mondes" oder aus 19 28-jährigen "Kreisen der Sonne". Dieses System stellt einen einzigartigen mathematischen Rhythmus dar. Nach Ablauf des Großen Indiktions der Mondphase keh-ren auch die Wochentage wieder zu den gleichen Daten zurück. So haben wir seit 1941 den 15. Indiktion, d.h. Ostern wurde 1941 an dem gleichen Datum gefeiert wie 1409, also vor 532 Jahren, und im Jahr 1988 an dem gleichen Tag, wie 1456 u s.w. Man kann die mathematischen und übrigen Vorteile dieses Systems kaum überbewerten.
Die Väter des 1. Ökumenischen Konzils beachteten alle astronomischen und mathematischen Berechnungen, absolutierten jedoch die astronomische Genauigkeit dieser Berechnungen nicht. Alle Ungenauigkeiten, die dem julianischen kirchlichen Kalender vorgeworfen werden, "sind zu offensichtlich, als das man annehmen könnte, daß sie nicht absichtlich zugelassen wurden zur Vereinfachung der Ostertabellen"41. Außerdem wuß-ten die Ersteller der Ostertabellen, daß die Genauigkeit an sich eine recht relative Sache ist, da die Ausgangsgrößen von den Menschen relativ angenommen werden. Als sie den 21. März als Grenze für die Feier des Osterfestes ansetzten, wußten sie, daß die Taggleiche verschiebbar ist. In Übereinstimmung mit der von der Hl. Kirche angenommenen Regel wird Ostern zwischen dem 22. März und 25. April gefeiert (nach dem julianischen Kalender). Nicht selten kann das Osterfest einige Tage vom Moment des Vollmondes abweichen, da es immer an einem Sonntag gefeiert wird.
Die orthodoxe Ostertabelle befindet sich einerseits in einer gewissen Abhängigkeit von den astronomischen Gegebenheiten, andererseits hält sie sich nicht mit absoluter Genauigkeit (die in der Praxis unmöglich wäre) an die astronomischen Grundlagen. Und dennoch ist dieses vollkommene System, das über anderthalb tausend Jahre allen christlichen Völkern als sakraler liturgischer Kalender diente, ein Vorbild der Übereinstimmung der menschlichen Zeit mit der göttlichen Zeit, ein Mus-ter an Schönheit und Weisheit. Als Frucht gottbeseelter Schöpfer vereint der kirchliche julianische Kalender in sich das Willkürliche mit dem Unwillkürlichen, das Absolute mit dem Relativen.
Bendenkt man, daß viele Einzelheiten der orthodoxen Ostertabelle rein symbolischen und willkürlichen Charakter tragen, so braucht man sich nicht daran zu stoßen, daß in unserer Zeit das as-tronomische Moment der Frühlingstaggleiche tatsächlich von der vorderen Grenze des Osterfestes nach dem alexandrinischen Kreis abweicht. Gemäß der traditionell angenommenen Taggleiche am 21. März erfolgt die Feier des orthodoxen (nicht aber gregorianischen) Osterfestes eben nach dem "er-sten Vollmond". Der Tag des "kirchlichen Ostervollmondes", der 21. März, der in der alexandrinischen Ostertabelle für den wahren 14. Nissan angesetzt ist, "geht immer dem Osterfest voraus, welches am wahren 15. Nissan eintritt, d. h. es werden die Forderungen von Zonara, Balsamon und die 2. Forderung von Vlastar erfüllt"42.
So sind die Vorwürfe gegen die orthodoxe Os-tertabelle wegen ihrer "Rückständigkeit" gegen-über der Wissenschaft eine Frucht von Mißverständnissen und Vorurteilen und der Unkenntnis der Gesamtheit aller Aufgaben, die mit dieser schwierigsten Frage des kirchlichen julianischen Kalenders verbunden sind. Prof. V. V. Bolotov zeigte überzeugend, daß "die Ersteller der Ostertabellen von der Astronomie in ihrem eigentlichen Element keine wirklich wertvollen Hinweise erhalten können. Solche Hinweise kann nur die Meteorologie geben, wenn sie eine solche Entwick-lungsstufe erreicht, die sich heute nur für die entfernte Zukunft abzeichnet", und solche Aufgaben löst: im Jahre N reift in der Umgebung von Jerusalem die Gerste dann und dann, und im Jahre N + 100 Jahre dann und dann43. Zum gegenwärtigen Moment aber, sagt Bolotov, kann man die orthodoxe alexandrinische Ostertabelle als ein höchst vollkommenes Werk betrachten, das zweifellos der gregorianischen Ostertabelle überlegen ist, und quieta non movere.
Die Bestrebung des Papstes Gregor XIII, das zu berichtigen, was ihm als Verletzung des kirchlichen Kanones zur Feier des Osterfestes erschien, wurde zur Verletzung eines der grundlegenden Kanones der Kirche. So verletzen die Anhänger der gregorianischen Reform, indem sie das Heilige Osterfest vor den Juden oder mit ihnen zusammen feiern, die 7. Apostolische Regel, die Bestimmungen des Konzils von Nicäa und die erste Regel des lokalen Konzils von Antiochien.
Die Veränderung der Folgerichtigkeit der Ereignisse, über die uns das Evangelium berichtet, bedeutet ihre Verzerrung. Mystisch symbolisiert das neutestamentliche Passah die Ersetzung des alttestamentlichen Opferlammes durch das erlösende Opfer unseres Retters Jesus Christus, des Lammes, Das die Sünden der Welt auf Sich nahm (Jo. 1, 29). Wenn auch aus rein astronomischen Gründen in der alten Kirche in seltenen Fällen das christliche Osterfest mit dem Passah der Synagoge zusammenfiel, so ist es doch völlig unannehmbar, daß das Heilige Osterfest dem jüdischen vorangeht. "Sogar diejenigen, die von der alten Kir-che wegen des Feiern des Osterfestes immer zusammen mit den Juden (d. h. am 14. Nissan) verurteilt wurden, konnten sich etwas ähnliches nicht vorstellen"44. Allein in der Zeit von 1851 bis 1950 feierten jedoch die Anhänger des gregorianischen Kalenders 15 mal vor den Juden und häufig gleichzeitig mit ihnen, z. B. am 1. April 1823, 17. April 1927, 18. April 1954 und 19. April 198145. Deshalb bleibt "die Unkanonizität des gregorianischen Kalenders nach der Bestimmung des lokalen Konzils von Konstantinopel von 1583 bestehen"46.
Man braucht nicht zu denken, daß die Kalenderreform keine Gegner auf den Plan gerufen hät-te. Sowohl unter den Zeitgenossen des Papstes Gregor XIII gab es ihrer nicht weniger, und unter ihnen waren große Geiste. Der berühmte Enzyklopädist und Chronologe Joseph Scaliger, dessen Werk von den größten Gelehrten, insbesondere Kepler geschätzt wurde, blieb bis zum Ende sei-nes Lebens ein prinzipieller Gegner der Reform. Der große Kopernikus lehnte die Teilnahme an der Vorbereitung dieser Reform ab, die bereits 1514 auf dem Laterankonzil begann.
Es ist bekannt, daß die gregorianische Reform 10 reell existierende Tage "abschuf": im Jahr 1582 begann man den Tag nach dem 4. Oktober als 15. Oktober zu rechnen. Doch all diejenigen, die diese Manipulation an der Zeit nicht akzeptierten, konnten sich jener "organisierten und mächtigen religiös-politischen Macht, die das Papstum darstellte, welches damals die Gegenreformation in Europa leitete"47nicht widersetzen.
Alle katholischen Länder führten beinahe sofort den neuen Kalender ein. Die protestantischen Staaten aber nahmen den gregorianischen Kalender lange Zeit nicht an da sie meinten, daß es "bes-ser sei, von der Sonne getrennt, als mit Rom vereint zu sein"48. In der Mitte des 18. Jh. aber drang der gregorianische Kalennder in alle Länder Europas ein.
Die gregorianische Reform reflektierte jene im Westen verbreitete Geisteshaltung, nach der die Zeit vom Willen des Menschen abhängig war. Der die Geister beherrschende Rationalismus begann, das Weltall zu mechanisieren und wünschte, über die Gesetze der Natur und der Zeit zu verfügen.
In der westlichen Welt begann sich das Zentrum des geistlichen und liturgischen Lebens allmählich von Ostern auf Weihnachten zu verschieben. Es ist kaum nötig zu beschreiben, welche Formen dieser christliche Feiertag im Westen angenommen hat. Dieser überwiegend kommerzielle und auf Vergnügung ausgerichtete "Feiertag" stellt in Hinsicht auf das geheiligte Ereignis, die Geburt Christi, eine Verunglimpfung dar. Wie auffällig kontrastieren im Westen während der Weihnachtstage die überfüllten Supermärkte und Geschäfte mit den leeren oder halbleeren Kirchen! Und das heilige Osterfest, der Feiertag der Auferstehung von den Toten, ist dort einfach zu einem arbeitsfreien Tag, einem Sport- und Fernsehweekend geworden.
1923 trat in Konstantinopel eine Konferenz der Orthodoxen Kirchen zusammen, die den "berichtigten julianischen Kalender" guthieß. Anstelle der vierjährigen julianischen Periode hat er eine Periode von 900 Jahren, was die Osterperiode von 532 Jahren auf 119 700 Jahre vergrößert, und praktisch die "berichtigte" Ostertabelle in eine unperiodische verwandelt49. Dieser Kalender von Milankovic fällt bis zum Jahre 2800 mit dem "neuen" gregorianischen Kalender zusammen.
Die autokephalen Orthodoxen Kirchen von Griechenland, Rumänien und Bulgarien nahmen den "berichtigten" julianischen Kalender für das gesamte liturgische Jahr an unter Ausschluß der Zeit des Fastentriodions und des Blumentriodions, welche nach dem julianischen Kalender begangen werden. In dem "berichtigten" Kalender kann je-doch "die alexandrinische Ostertabelle nicht ohne künstliche und zweifelhafte Methoden angewendet werden"50.
Tatsächlich bedarf dieser "berichtigte julianische Kalender" selbst der Berichtigungen, insbesondere kanonischer Art. Künstlich mit der alexandrinischen Ostertabelle verbunden führt er zu Störungen im gottesdienstlichen Leben. So entfällt völlig die Möglichkeit des Zusammenfalls von Maria Verkündigung und Ostern oder der Karwoche, das Apostelfasten wird gekürzt oder verschwindet völ-lig (wie z. B. 1983 und 1986). Es geschah auch, daß das Apostelfasten auf Tage fiel, an denen es verboten ist, d. h. auf die Pfingstwoche - dies geschah z. B. im Jahr 1929 auf Geheiß des damaligen Oberhauptes der Griechischen Kirche51. Im praktischen Leben bedeutet das alles Zwietracht im Kirchenvolk und Spaltung.
So ist die gregorianische Kalenderreform wirklich ein "neuer" Stil. Zeugnis eines neuen, rationalistischen Verhältnisses des Menschen zur Kategorie der Zeit. Seit der Renaissance will der Mensch zum Herrn der Zeit werden. Die Zeit verliert für ihn die mystische Dimension, hört auf, Zeit der Meditation und Hoffnung zu sein, und wird zur Zeit des Fortschritts. Doch "der Fortschritt ist ein Symptom... d. h. merkbarer, beschleunigter Fortschritt ist immer ein Symptom des Endes"52. Und vielleicht wird es dann schon keine Zeit mehr geben... zur Buße.
Die Zeit ist ein Geschöpf Gottes. Wie die gesamte Schöpfung verlor auch die Zeit mit dem Sündenfall der Urahnen ihre einstmalige Vollkommenheit und erwartet nun mit der ganzen Schöpfung die Erlösung. Gott heiligt das Geschöpf, das mit Seinem himmlischen Leben kommuniziert. Ebenso wird auch die Heiligung der Zeit vollzogen. Deshalb kann man vom kirchlichen Kalender als einer Ikone dieser geheiligten Zeit sprechen. Es ist klar, daß es auch ungeheiligte Zeit gibt, die auf dieser Ikone keinen Platz hat. Die kosmische Zeit mit all ihren Rhythmen ist für sich genommen noch kein Gegenstand der Ikonographie und wird nur durch Teilhabe an der Heiligen Geschichte geheiligt. Hieraus entspringt die Unvereinbarkeit der geheiligten und ungeheiligten Zeit, der kirchlichen und weltlichen Feiertage.
Die Russische Kirche nahm keine Abweichungen von den Vorschriften der Hll. Väter an. Der julianische Kalender bleibt im Leben der Russischen Orthodoxen Kirche unberührt. Verfechter des julianischen Kalenders waren in Rußland viele hervorragende Gelehrte - unter ihnen die Professoren V. V. Bolotov, E. A. Predteçenskij, der große russische Theologe Prof. N. G. Glubokovskij, Prof. Priester D. A. Lebedev... und das gesamte fromme russische Volk. "Aufgrund des entschiedenen Widerstandes des Volkes" war es in Rußland 1923 unmöglich, den "berichtigten julianischen Stil" einzuführen, ungeachtet der getroffenen Entscheidung.
Als Teilnehmer der Kommission zur Kalenderreform in Rußland sagt Prof. V. V. Bolotov hierzu: "Ich bleibe nach wie vor ein entschiedener Verehrer des julianischen Kalenders. Seine äußerste Einfachheit stellt seinen wissenschaftlichen Vorsprung vor allen berichtigten Kalendern dar. Ich glaube, daß die kulturelle Mission Rußlands darin besteht, den julianischen Kalender noch einige Jahrhunderte am Leben zu halten und dadurch den westlichen Völkern die Rückkehr von der gregorianischen Reform, die niemandem nützlich war, zu dem unverfälschten alten Stil zu ermöglichen"53. Die Menschen des ausgehenden 20. Jh. verhalten sich skeptischer gegenüber den "Errungenschaften" der Renaissance. Der gegenwärtige denkende Mensch beginnt beim gedanklichen Rückblick auf die der Renaissance folgende Sekularisierung, Dechristianisierung und damit dem gesamten moralischen Niedergang der menschlichen Gesellschaft, die Renaissance neu einzuschätzen und zu betrachten. Untersucht man die Geneologie des moralischen Verfalls des gegenwärtigen Menschen, so kann man feststellen, daß sie mit ihren Wurzeln eben in die Epoche der Renaissance reicht, die Epoche des haltlosen Strebens des Menschen, sich über alles zu erhöhen und zu festigen: über der Natur, über Gleichartigen und schließlich über Gott Selbst.
Ohne Eigenlob muß man die Tatsache festhalten, daß die Russische Orthodoxe Kirche die apostolische und kirchliche Überlieferung treu bewahrt. Ist nicht diese ihre Treue das Unterpfand für ihr geistliches Aufblühen in unserer Zeit? Gibt sie nicht hiermit den in die geistlich-moralische Sackgasse geratenen westlichen Menschen unserer Zeit Hoffnung?
In diesem Jahr feiern wir das tausendjährige Jubiläum der Taufe Rußlands. Rußland begann sei-nen Weg nach der Begegnung mit Christus, und im Verlaufe seiner gesamten schwierigen Geschichte vergaß es niemals seine "Jugendliebe". Es gibt den Begriff der Heiligen Rus', der aus irgendeinem Grund auf die Vergangenheit bezogen wird. Doch die Heilige Rus' ist niemals gestorben, sie lebt. Sie lebt im heißen Gebet der orthodoxen Menschen, in den Herzen der Asketen, die ungeachtet der atheistischen Erziehung den Weg des Mönchtums beschritten. Die Heilige Rus' lebt in den Klöstern, in den Kirchen, in ihrem frommen gottfürchtigen Volk. Im Zeitalter der Apostasie bringt die Russische Orthodoxe Kirche der Welt die frohe Botschaft von ihrer treuen Liebe zu Christus. Angesichts der eschatologischen Beschleunigung der Zeit54 demonstriert sie an sich ein Beispiel ehrfurchtsvoller Achtung vor der von Gott gegebenen Zeit, indem sie den durch Jahrhunderte geheiligten kirchlichen julianischen Kalender bewahrt.
Wie wird die Zeit des künftigen, achten Tages aussehen? Wir wissen nur, daß sie geheiligt sein wird und nicht der Zeit ähnelt, die wir jetzt nach Sonne und Mond berechnen. Wahrscheinlich kann man die Ewigkeit nicht kategorisch der Zeit gegenüberstellen. Vielleicht ist eben die geheiligte Zeit schon die Ewigkeit.
Die Kirche Christi vereint das Zeitliche und Ewi-ge. Dies wird vor allem im Sakrament der Eucharis-tie verwirklicht In der Zeit verweilend, verwandelt die Kirche die Zeit durch die reale Anwesenheit Christi, wie sie auch die Welt verwandelt. Die Zeit des Gebetes ist das Eingehen in die Ewigkeit, in das Reich Gottes, wo "alles und in allem Christus ist". Wer im Gebet lebt, weiß aus Erfahrung, daß die Grenzen der Zeit beim Gottesdienst oder den Gebeten in der Zelle, beim Lesen des Evangeliums oder Psalters gewissermaßen verwischt wer-den. Dies geschieht beim Gefühl der Einigung mit Gott, wenn der barmherzige Herr uns besonders heimsucht. Dann antwortet das Herz auf diesen göttlichen Ruf der Liebe und vergißt alles, indem es außerhalb der Zeit steht. Diese mystische Erfahrung der Kirche treffen wir in den Werken der Hll. Väter - besonders deutlich ist sie in den Predigten und Hymnen des Hl. Symeon des Theologen ausgedrückt.
Hinsichtlich der unterschiedlichen Meinungen über den julianischen Kalender erscheint uns als das wichtigste Argument die alljährliche Herabkunft des gnadenvollen Feuers auf das Grab des Herrn, welche am Großen Sonnabend nach dem julianischen Kalender erfolgt. Hierin sehen wir eine mys-tische Heiligung dieser 2000-jährigen Ikone der Zeit.
Ich erlaube mir, diesen Text mit den Worten eines der Teilnehmer der dritten internationalen wissenschaftlichen Konferenz zum 1000-jährigen Jubiläum der Taufe Rußlands abzuschließen, die in der Diskussion zu dem vorliegenden Vortrag gesagt wurden: "Die Zeit ist ein großes Geheimnis, und ein Geheimnis kann man nur durch ein Symbol berühren. Deshalb ist der julianische Kalender eine Ikone der Zeit. Wenn wir den Begriff der Zeit naturalisieren wollen, wie man die Ikone naturalisierte, indem man sie zu einem Porträt machte, warum müssen wir uns dann am gregorianischen Stil orientieren. Es gibt noch genauere Kalender. Das ist der Kalender der Inkas, der Kalender von Omar Hajama, der über glänzende mathematische Errungenschaften verfügt, und vielleicht erscheint morgen noch irgendein neuer, astronomisch genauerer Kalender. Doch wir dürfen uns nicht nur mit ausgestreckter Hand den Observatorien zuwenden. Wir, die Kirche, haben die Geheimnisse über die Zeit, die in der Bibel und den Schriften der Väter niedergeschrieben sind. Wir sind die Träger dieser Geheimnisse und müssen sie der Welt eröffnen".
27 Zelinskij, op. cit., S. 70
28 ibid.
29 ibid. S. 71
30 L. Voronov, ob. cit. S. 197; A. Zelinskij, op. cit., S. 83.
31 Zelinskij, op. cit., S. 83
32 Ene Braniste, op. cit. S. 25
33 Hl. Johannes Chrysostomos, Werke, Bd. 1, B. 2, SPb, 1898, S. 667-679
34 Priester Simeon Sokolov, Orthodoxe Osterberechnung (rus.), Moskau 1900, S. V
35 zit. nach : N. Idelson, Geschichte des Kalenders (rus.), Leningrad 1925, S. 79
36 Zelinskij, op. cit., S. 86
37 ibid. S. 85
38 ibid. S. 106
39 ibid. S. 107
40 ibid. S. 90
41 V. V. Bolotov, op. cit. S. 1
42 L. Voronov, ob. cit. S. 192
43 V. V. Bolotov, op. cit. S. 47
44 Zelinskij, op. cit., S. 88
45 Georgievskij A. I. op. cit. S. 15
46 ibid.
47 Zelinskij, op. cit., S. 91
48 ibid. S. 92
49 L. Voronov, ob. cit. S. 176
50 ibid.
51 Pravoslavnaja Rus', Jordanville, Nr. 13, 1982, S. 2.
52 V.S. Soloviov, Drei Gespräche, Gesammelte Werke, St.- Petersburg 1897-1900, Bd. 10, S. 159
53 Prof. V. V. Bolotov, Protokoll der 8. Sitzung der Kommission für Fragen der Kalenderreform bei der Russischen Astronomischen Gesellschaft, 21. Februar 1900, (russ.)
54 vgl. Ludmilla Perepiolkina, Clarté pour un temps d'apo-calypse, in: France Catholique, Paris 1987, Nr. 2120, S. 20.