Neues zur Statistik der Kirche in Rußland
Eindruck machte das erstmalige Erscheinen exakter Zahlen zu kirchlichen Fragen (Nauka i religija = NiR, Nr. 11/1987, S. 23). Daß das atheistische Sprachrohr der Vorreiter war, stimmte nachdenklich. Hinzu kommt: die Zahlen begannen mit dem Jahre 1961, als es 11.742 Kirchen gab und gleiten langsam zum Tiefpunkt 6.794 Kirchen im Jahre 1986. So verschwanden die Zahlen der Kirchenverfolgung der vorangegangenen Jahre 1959-1961 vom Tisch. Der Falschspieler versucht auf diese Weise "echte" Punkte zu bekommen. Im gleichen Geiste verläuft das gesamte Interview des Vorsitzenden des "Rates für religiöse Angelegenheiten" K.M. Charçev. Die genannten Zahlen bestätigten die im Ausland publizierten Schätzungen. Sie zeigten auch das Bestreben jede Taufe, jeden Gläubigen zu registrieren, obwohl es zu diesen Fragen immer hieß, religiöse Statistik gebe es nicht, weil sie nicht verfassungsgemäß sei und gegen die "Religionsfreiheit" (die ja in der UdSSR seit 1917 floriert) verstieße.
Im Mai 1988 erklärte Charçev, daß 1953 etwa 15.000 Kirchen "arbeiteten" und fügte hinzu, es seien vor dem Krieg 10.000 gewesen. Es gibt die Meinung, infolge des Hitler-Stalin-Paktes 1939 seien 10.000 Kirchen in die Hand Stalins gelangt, die diesem Zugriff bis dahin entzogen waren, da sie im damaligen Ostpolen, in den baltischen Republiken, in Bessarabien und der Karpathoukraine standen. Vor dem Krieg gab es, laut Schätzungen, auf sowjetischem Territorium nur 400 Kirchen. Um die Zahlen zu glätten, deckt Charçev Stalins Hand. Man muß eben nur wissen, daß für die UdSSR der 2. Weltkrieg erst 1941 begann.
Der Direktor des "Instituts für wissenschaftlichen Atheismus" V. Garadœa gibt unter dem sinnigen Titel "Pereosmyslenije" (etwa: "Neue Sinngebung") 1989 offenherzig zu, daß Ende der 50-er und Anfang der 60-er Jahre unter allen möglichen Vorwänden Kirchen und Gemeinden geschlossen wurden: "1950-1964 sind im Schnitt jährlich bis zu 420 orthodoxe Kirchen geschlossen worden (zum Vergleich 1965-1974 - jährlich 48, 1975-1987 - jährlich 22)" - schreibt Garadœa (NiR, 1/1989, S. 3). So streckt er die Zahl der Jahre 1959-1961 auf 14 Jahre.
Das vertrauenheischende "neue Denken" zeitigt aber trotz solchen Zahlenpokers interessante Resultate. So erfährt man in der gleichen Nummer vom 25-jährigen Kampf der Gemeinde in Drogomyasl für die Eröffnung ihrer Kirche, und davon, daß der "Rat für religiöse Angelegenheiten", sein Archiv sofort unzugänglich machte, als die Akten des Anfangs der 60-er Jahre (1987 oder 1988?) ins Archiv geschickt worden waren. Im November 1988 soll das Archiv wieder "geöffnet" worden sein. Der Journalist erwirkte die Sondergenehmigung und publiziert nun Sitzung für Sitzung die Zahl der Schließungen durch den (damaligen) "Rat für Angelegenheiten der Russischen Orthodoxen Kirche": im 2. Halbjahr des Jahres 1961 sollen 880 Kirchen geschlossen worden sein. Allein im Dezember 1961 - 216 Schließungen (NiR, 1/1989, S. 7). Der Journalist zitiert jemanden, der ungenannt bleiben möchte: "Im Jahre 60 oder 61 kam die Anweisung, in unserem Lvover Gebiet etwa 700 Kirchen zu schließen" (S. 8).
Es bleibt die Neugier: wie und wieviele Kirchen wurden denn 1959-1961 geschlossen?
Will man von K.M.Charçev erfahren, daß damals von 20.000 Kirchen "bis zu 150 Kirchen pro Tag geschlossen wurden", muß man schon in den nicht-öffentlichen Vortrag für den Lehrkörper der Parteihochschule hineinhorchen... (Stenogramm vom 22.März 1988, s. unten).
Aber bleiben wir zunächst bei der Wiedereröffnung der Gemeinden, die seit fast drei Jahrzehnten um ihre Kirche kämpfen. Im gleichen geheimen Parteivortrag spricht Charçev von etwa 1000 "unruhigen Punkten", wo Kirchen zurückgefordert werden.
V. Charazov zitiert in "Nauka i religija" aus drei behördlichen Antwortschreiben an die betroffene Gemeinde gleichlautende Auszüge, die die jeweilige Weiterleitung ihrer Bitten an die unterstehenden Behörden feststellen, und kommentiert: "Mit ähnlichen Meisterwerken der epistolaren Gattung könnte man eine gewichtige Monographie füllen" (NiR, 1/1989, S. 7). Alle drei Briefe stammen aus den ersten drei Monaten des Jahres 1988 und von eben jenem "Rat für religiöse Angelegenheiten", dessen Vorsitzender im In-und Ausland hoffnungsvolle Interviews gibt! Und wen wundert das? Jahrelang werden solche Bitten, auch an Charçev persönlich, "ergebnislos durch den geschlossenen bürokratischen Kreis gejagt" - schreibt der Journalist (S.9). (Kopien ähnlicher Listen aus Gemeinden, die Hunderte von ergebnislosen Briefen aufzählen, liegen der Russischen Kirche im Ausland vor).
Hat die atheistische Zeitschrift nun "die Stunde der Wahrheit" eingeläutet? Keineswegs. Man schmeichelt zwar den "ideologischen Gegnern im Westen": "Diese wissen leider über diese Wahrheit viel besser Bescheid als die meisten unserer eigenen Mitbürger" (NiR 1/1989, S.10). Man habe schon immer nach Kräften gegen den Bürokratismus gekämpft, aber der Bürokratismus sei nun einmal tief eingefleischt, zudem sei es zwecklos, jetzt die ganze Schuld auf die Propagandisten des Atheismus zu schieben, letztendlich gehe es um den Aufbau einer neuen und gesunden Gesellschaft...
(Bald darauf verschwand Charçev von der Bühne).
Die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland hat unlängst Zahlen über den Bestand der Kirchen in den Nachkriegsjahren aus dem Moskauer Patriarchat erhalten, die einige dunkle Stellen in der bislang geheimgehaltenen Statistik erhellen. Sie führen zu Korrekturen bisheriger Zahlenangaben und sind von großem historischen Interesse. Wie oben gezeigt, nannte K.M. Charçev am 22. März 1988 in der Parteihochschule die bekannte Zahl von 20.000 Kirchen, die mit der Zahl übereinstimmt, welche das Moskauer Patriarchat bei seinem Eintritt in den ÖRK 1961 angab (Charçevs geheimer Vortrag wurde von der Russischen Auslandskirche publiziert im Diözesanblatt "Pravoslavnyj Vestnik Nju-Jorkskoj i Kanadskoj jeparchij Nr. 23 u. 24/1989". Nachdruck dieser Ausgabe in der UdSSR durch die lettische Zeitung der Volksfront "Atmoda" (Erwachen), Nr. 41, 18.9.1989). Der erste Kirchenfunktionär G. Karpov nannte in einer 1946 herausgegebenen Broschüre, die als Propaganda für die osteuropäischen Kirchen gedacht war, sogar die Zahl von 22.000 Kirchen. Aber beide Zahlen, von denen man bisher ausging, waren wohl erlogen.
Sie erklärten sich durch einen Zuwachs von ca. 10.000 Kirchen aus den Annexionen 1939-1940, einerseits, und die Eröffnung von weiteren ca. 10.000 Kirchen auf den von den Deutschen besetzten Gebieten andererseits. Um Karpovs Zahl zu erhalten, brauchte man noch ca. 2000 Kirchen, die unter der Sowjetmacht eröffnet wurden. Aber in allen Fällen konnte es sich um die Zahl der Kirchen aller Religionsgemeinschaften zusammen handeln. Bei den annektierten Kirchen war die Zahl mit Sicherheit zu hoch angesetzt, während die Zahl der in den deutsch besetzten Gebieten zur propagandistischen Beschuldigung der Kollaboration dienen konnte (so: V. Titov, Pravoslavije, Moskau 1967, S. 118) auch wenn sie insgesamt wahrscheinlicher war, denn im Juni 1941 gab es z. B. in Kiev 2 geöffnete Kirchen -1942 gab es im Kiever Raum bereits 708 Kirchen.
Die Schätzungen trafen also auf erhebliche Schwierigkeiten. Für die Kirchenverfolgung von 1961 ergab sich eine Halbierung des Bestandes. Dies traf in einzelnen Diözesen sogar zu (s. unten Weißrußland), aber das Gebiet Odessa verlor von 400 Kirchen ein Viertel (90). Die Annahme, daß so kurzfristig die Hälfte aller Kirchen widerstandslos geschlossen werden konnte, war trotz der Feststellung, daß manche Bischöfe bei den Kirchenschließungen aktiv beteiligt waren, nicht ganz überzeugend. Außer der Statistik gibt es ja auch noch die sozialen Realitäten. Die Zahl von 15.000 Kirchen, die ebenfalls Charçev im Mai 1988 nannte, veränderte die Statistik der Kirchenverfolgung 1959-1961, machte die Vorgänge insgesamt wahrscheinlicher.
Die neuen Zahlen, über die die Russische Auslandskirche nunmehr verfügt, gründen sich auf die Archive des "Rates für Religionsangelegenheiten".
Im Mai 1941 gab es in der (durch den Hitler-Stalin Pakt vergrößerten) UdSSR 3.021 Kirchen, die meisten - auf den 1939 besetzten Gebieten. 7.547 Kirchen wurden auf den von den Deutschen besetzten Gebieten eröffnet.
Es bestätigt sich auch hier, daß die Sowjetmacht wenig Kirchen eröffnen ließ. 1943-1944 gab es im Gebiet der Stadt Gor'kij 212 Anträge seitens der gläubigen Bevölkerung, und nur 14 Kirchen wurden eröffnet. Im Januar 1945 gab es im Raum Gor'kij - 22 Kirchen, denen 1101 geschlossene und umfunktionierte gegenüberstanden. 1944-1947 wurden insgesamt 1270 Kirchen mit Erlaubnis des "Rates" eröffnet.
Am 1. April 1946 gab es in der UdSSR 10.544 Kirchen, in denen Gottesdienst gehalten wurde, davon in der Ukraine - 6.077, in Rußland selbst - 2.827, in Weißrußland - 629. 2.491 Kirchen kamen infolge der Zwangseingliederung der Unierten (1946) hinzu. Die Zahl wächst 1947 sprungartig auf 14.092 Kirchen und zum Januar 1948 gibt es 14.329 Kirchen.
Im Rekordjahr 1949 gibt es 14.477 Kirchen, davon in der Ukraine - 9.176, in Rußland - 3.185, in Weißrußland - 1.020 , in der Moldauischen Republik - 562 Kirchen. Die Grusinische Kirche ist mit 56 Kirchen einbezogen.
Zum nächsten Jahr, 1950 geht die Zahl bereits um 133 Kirchen zurück, 1951 sind es nur mehr 13.912. Dieser Prozeß setzt sich fort: 1952 - 13.786, 1953 - 13.555, 1954 - 13.467, 1955 - 13.422 Kirchen. Insgesamt also ein gehöriger Rückgang durch 1055 Kirchenschließungen. Eine Reihe dieser Kirchen, wurde in Klubs umgewandelt, weil sie "gesellschaftliches Eigentum" darstellten das "die Gläubigen während der Okkupationszeit in ungesetzlicher Weise an sich rissen" (laut offizieller Formulierung) - 1948-1955: 384 Kirchen. 292 Kirchen, die nie eine andere als eine kirchliche Verwendung hatten, wurden in anderer Weise umfunktioniert oder völlig zerstört.
Was die Klöster betrifft, so gab es 1939 auf sowjetischem Gebiet kein einziges Kloster. Infolge der Annexionen von 1939-1940 kamen zunächst 64 Klöster zur UdSSR, weitere ca. 40 (so heißt es in der Aufzeichnung) entstanden in den von den Deutschen besetzten Gebieten. Insgesamt wird ihre Zahl für 1945 mit 101 Kloster angegeben (bisher: 103, zu denen im September 1945 das Dreieinigkeitskloster als einziges auf dem Territorium hinzukam, das ununterbrochen in sowjetischer Hand gewesen war). Zum Jahre 1948 gibt es 85 Klöster, 1956 - 57 Klöster. Im Januar 1960 gibt es 14 Männer- und 28 Frauenklöster, im Januar 1961 - 13 Männerklöster und 20 Frauenklöster, ein Jahr später nur noch 8 Männerklöster und 14 Frauenklöster.
Ein kaum nenenswerter Anstieg der Zahl der Kirchen und der Geistlichkeit ist in den Tauwetter-Jahren 1956-1957 zu verzeichnen. Schon im Januar 1958 liegt die Zahl der Kirchen mit 13.413 unter der Zahl von 1955. Es folgen weitere Kirchenschließungen: im Januar 1959 gibt es 13.372 Kirchen, im Januar 1960 - 13.008 Kirchen. Hier bricht die Zahlenreihe ab. Aus der Statistik, die Charçev in "Nauka i religija" (11/1989) publizieren ließ, ergibt sich, daß 1961 die Kirche 11.742 Gotteshäuser hatte, was einen Verlust von 1.266 Kirchen innerhalb eines Jahr bedeuten würde.
Es ist zu begrüßen, daß jetzt Licht in die vergangenen Zeiten kommt.
Was aber die Zahlen und deren "Transparenz" weiterhin betrifft, so geht das Spiel in Bezug auf Zahlen seitens des Moskauer Patriarchats und des "Rates für religiöse Angelegenheiten" vorerst weiter. Über die Zahl der im Jahre 1988 eröffneten Gemeinden erschienen unterschiedliche Angaben: 500, 697 (bzw. 700), 830, 1000 Kirchen. Die Tendenz, einen Hunderter zuzulegen, steigt: unter dem Titel "Kirche und Staat. Ein Jahr des Verständnisses" behauptet der Metropolit Vladimir von Rostov, es seien innerhalb des Jahres seit dem 29. April 1988 1700 Kirchen eröffnet worden. Die gleiche Zahl nennt Metropolit Juvenalij in seiner Osterrede: "mehr als eintausendsiebenhundert Gotteshäuser wurden auf dem Antlitz unserer russischen Erde für den Gottesdienst eröffnet", - von "fast zweitausend neuregistrierten Gemeinden" spricht die neugegründete kirchliche Wochenzeitung (Moskovskij Cerkovnyj Vestnik = MCV 2/1989, S.1 und 5). Endlich bringt "Izvestija" die Information, daß "in den letzten anderthalb Jahren 1715 Kultgebäude an religiöse Vereinigungen gegeben wurden. Es wurde 229 Mal die Erlaubnis zu einem Neubau gegeben" (Izvestija, 27.6.89). Unklar bleibt, wieviele davon an die Orthodoxen gegeben wurden, und wieviele in Rußland liegen, wo es besonders wenig Kirchen gibt.
Wir erinnern uns: in Lemberg-Ternopol sollen im Jahre 1988 - 430 Gemeinden eröffnet worden sein, das wäre etwa ein Viertel des früheren Bestandes (über 1500). Aber mit diesen Gemeinden macht jetzt diese Diözese allein ihrerseits ein Viertel der sich heute ergebenden Gesamtzahl der Kirchen in der UdSSR - etwa 8500 (?) - aus. Das unverhältnismäßige Übergewicht bleibt also dasselbe. Anders sind die Proportionen im anderen Teil der Ukraine: die Diözese Charkov hat 62 Gemeinden, 15 warten zwar auf eine Registrierung, aber nur 3 neue Kirchen wurden real geöffnet (MCV 3/1989). Leider läßt die unklare Formulierung nicht erkennen, in welchem Zeitraum das geschah. Andere Diözesen haben auch andere Größenordnungen: die Diözese von Smolensk verfügt nunmehr über 50 Kirchen - drei neue wurden bis Ostern 1989 eröffnet, die von Vologda wuchs um zwei auf 18 Kirchen an (Nevskij Duchovnyj Vestnik (Samizdat) = NDV 4/1989), die Diözese von Kaluga hat 27 Kirchen, die von Archangel'sk - 24 Kirchen, die von Omsk-Tjumen' - 13 Kirchen (NDV 1/1989). Die Diözese Irkutsk hatte bis 1985 - 30 Gemeinden, dann wurde eine Diözese Chabarovsk herausgelöst (M.c.v. 3/1989), die heute aus 15 Kirchen besteht (NDV 1/1989, S. 30). Sibirien, wo es insgesamt etwa 250 Kirchen gibt, wird noch um Kirchen kämpfen müssen. Insgesamt ist die Feststellung von Zahlen weiterhin schwierig und geheimnisumwoben.
Die Zahl der offiziell geöffneten Kirchen in Moskau liegt unter 50. Was istdas für eine 8 Millionen-Stadt?Aber in mancher Millionenstadt gibt es nur eine Kirche, wenn überhaupt. Den vollen Kirchen und schönen Chören steht in der Provinz (infolge der Landflucht) eine allzu große Zahl von Gemeinden des Moskauer Patriarchats gegenüber, in denen sich zum Sonnabendgottesdienst 10-12 Gläubige versammeln, zur regulären Sonntagsliturgie 30-40. In der Kursker Diözese (der größten in Zentralrußland nach der Moskauer Diözese!) gibt es 172 Gemeinden. In einer von diesen Kirchen wurden die Gottesdienste von nicht mehr als 2-3 Personen besucht. Zehn weitere Gemeinden könnten eine Renovierung ihrer Gebetshäuser (nicht Kirchengebäude!) unmöglich aus eigenen Mitteln bestreiten. Diese Information ergibt sich auf dem Hintergrund der künftigen lichtesten Perspektiven eines Neuanfangs, wie er von Metropolit Juvenalij in der mit vielen Farbfotos und auf Glanzpapier für das Ausland konzipierten Monatszeitschrift "Moskovskij cerkovnyj vestnik" (= M.c.v. 3/1989) geschildert wird. Das läßt ahnen, was Charçev mit "zerschlagen" meinte, als er die Kirche mit einem "geschlagenen Hofköter" verglich (s. unten).
Nach Angaben des Moskauer Konzils hatte das Patriarchat im Sommer 1988 - 6674 Priester. An jeder größeren Stadtkirche dienen mindestens 3 Priester. Die Zahl der mangelhaft versorgten Kirchen wird die der am Rande des Ruins dahinsiechenden übersteigen.
Wie im Landeskonzil (6.-9. Juni 1988) zur Sprache kam, wurden in der weißrussischen Diözese (die in den 60-er Jahren über die Hälfte ihrer Kirchen - 383 verlor) bis vor kurzem 61 der noch vorhandenen 369 Kirchen durch aus anderen Gemeinden anreisende Priester versorgt (RM 5.5.1989, S.12). In der Diözese von Poltava versorgte mancher Priester 3-4 Gemeinden (Russkoje Vozroazdenije 15/1981, S. 142). In der Diözese Tambov gab es noch vor kurzem 39 Kirchen, die von 24 Priestern versorgt wurden.
Wenn man also die bisher etwa 7000 Kirchen der Patriarchatskirche nicht undifferenziert im Durchschnitt auf die geschätzte Gesamtzahl der Gläubigen (heute mit 60 Mio. angegeben) anlegt, sondern versucht, die reale Situation der Gemeinden einzubeziehen, kommt man zu wesentlich erschreckenderen Ergebnissen als das ohnehin nicht gerade erbauliche Verhältnis 7000:60 Mio., nach dem im Schnitt ca. 8600 Gläubigen 1 Kirche zur Verfügung stand.
Im "Ogonjok" (Nr.50/1988) verkündete Charçev, 1987 seien insgesamt 16 Gemeinden registriert worden, im Jahre 1988 dagegen hätten 500 Gemeinden "die Erlaubnis zur Registrierung" erhalten. Man beachte die Nuance: den real registrierten 16 Kirchen werden nicht etwa 500 reale Kirchen gegenübergestellt, das scheint nur auf den ersten Blick so. Tatsächlich hängt die Genehmigung einer Gemeinde von der örtlichen Exekutive ab, die zahllose Möglichkeiten für Boykottierung und Absagen hat. Diesen Kampf um die Kirchen können wir heute beobachten.
Die Gruppe um Alexander Ogorodnikov, die das "Bulletin der Christlichen Öffentlichkeit" im Selbstverlag herausgibt, konnte zum Mai 1989 nur 39 wiedereröffnete Kirchen verifizieren. In Moskau war zu dem Zeitpunkt nur 1 Kirche real neueröffnet. Die Liste der angeblich 1700 neuregistrierten Gemeinden wurde auf Anfrage nicht vorgelegt. Obwohl sich offensichtlich etwas regt - geht doch der Zahlenpoker weiter.
Anläßlich der Übergabe von 22 Millionen DM seitens der Mainzer Landesregierung an Metropolit Pitirimwar sogar zu lesen: "Seit 1988 hat der Staat der Orthodoxie mehr als 3000 Kirchen zurückgegeben" - diese zweifelhafte Information wird zu recht kommentiert: "zurückgegeben - als Besitz, nicht als Eigentum - und nicht selten die verrottetsten und renovierungsbedürftigsten. Die Kirche muß dann zahlen" (Rheinischer Merkur/Christ und Welt Nr.40, 6.10.1989, S. 32). In der Tat wurde der Kirche in Saratov angeboten, bevor sie das genehmigte Kirchengebäude beziehen könne, solle sie für 800.000 Rubel die alte Mühle renovieren, in die die staatlichen Institute aus dem Kirchengebäude umziehen könnten. Danach könne sie die Kirche auf eigene Kosten renovieren und beziehen (MCV 3/1989, S.6).
Helfen hier gutwillige staatliche Gaben der Bundesrepublik für Prestigeprojekte hochgestellter Vertreter des Moskauer Patriarchats? Nur gehöriger Druck seitens der öffentlichen Meinung, die sich aus wolkigen Träumen über die Freiheit der Kirche in Rußland auf den Boden nüchterner Tatsachen begeben sollte, kann weiterhelfen. Freiwillig gibt die Partei Gorbaçovs dem Volk nichts, und der Kirche schon gar nicht.
Im übrigen sind wir in einer Phase, da es nicht so sehr um die Quantität der Kirchen geht, als um die qualität des Inhalts. Hierzu sagte K.M. Charçev im März 1988 vor dem Lehrkörper der Parteihochschule: "ungeachtet aller unserer Bemühungen hat die Kirche überlebt, und sie hat nicht nur überlebt, sondern sie beginnt sich zu erneuern. Und es entstehen die Fragen, was ist nützlicher für die Partei - ein an Gott Glaubender, einer der an gar nichts glaubt oder einer, der sowohl an Gott glaubt als auch an den Kommunismus. Ich denke, von zwei Übeln wählt man das geringere. Nach Lenin muß die Partei alle Lebenssphären der Bürger unter Kontrolle halten, da man aber die Gläubigen nicht verschwinden lassen kann... ist es für die Partei einfacher, den aufrichtig Gläubigen zu einem auch an den Kommunismus Glaubenden zu machen".
Beiläufig warnt Charçev seine Parteigenossen: "selbst die Geduld eines geschlagenen Hofköters ist nicht unbegrenzt", und er unterstrich: "... und hier stehen wir vor der Aufgabe: die Erziehung eines Priesters neuen Typs. Die Auswahl und die Einsetzung der Priester ist eine Sache der Partei!"
Der "neue Typ" des russischen Priesters dürfe besser an die Gemeinde gebunden werden, dürfe religiöse Unterweisung geben. Entscheidend ist in welchem Geiste dies geschieht: "...ob wir wollen oder nicht, die Religion tritt in den Sozialismus ein, sie tritt nicht einmal ein, sondern sie fährt hinein wie auf glatten Gleisen. Da wir aber die Macht ganz und gar besitzen, glaube ich, können wir diese Gleise in die eine oder in die andere Richtung wenden je nach unseren Interessen".
Als erster hoher Würdenträger der Russischen Orthodoxen Kirche besuchte Metropolit Pitirim die gleiche Parteihochschule und wies auf die großen "Möglichkeiten der Zusammenarbeit" von Partei und Kirche (FAZ 17.3.1989).
Der neue "Geist" zeigt sich zunehmend in der Sowjetpresse in der Selbstdarstellung von Priestern.
A. Ignatov (APN) schrieb seinerzeit, eine "Koexistenz des Sozialismus und des Christentums" habe als Grundlage: die "Befreiungstheologie", die gegenwärtige vornehmlich soziale Stoßrichtung der Religionen, die Aktivitäten der Hierarchen verschiedenster Konfessionen an Friedenskonferenzen in der ganzen Welt ("Perestrojka und Religion, Sozialismus und Christentum", Sovetskaja Litva, 18.6. 1988). Es gehe um einen in der ganzen Welt vor sich gehenden Prozeß der Entwicklung der Religion. Dieser "Entwicklung" widmet sich jetzt die Propagandamaschinerie.