Starez Hieromonachos Adrian und seine Schüler Varnava, Vasilisk, Zosima und andere 1746-1775.
Die letzten russisch-orthodoxen Einsiedler, 1745-1820
Der zweite Abschnitt des Einsiedlertums, zuerst in den Wäldern von Brjansk und dann in denen von Roslavl, ist mit dem Namen und dem Wirken von Priestermönch Adrian (als Schemamönch Aleksej), der ebenfalls aus dem Plo¡s¡cansk Kloster stammt, verbunden.
Über diesen Starez schreibt sein Schüler Hieromonachos Iona in seinen Aufzeichnungen: Adrian wurde 1722 im Dorf Orel, Kreis Solikamsk, Gouvernement Perm, von frommen und edlen Eltern, Ioann und Marfa Blinsk, geboren und auf den Namen Vasilij getauft. Volljährig geworden, trat er in den Militärdienst ein, den er 24 Jahre lang ehrenvoll erfüllte. Nachdem er auf Vermittlung des hochgeweihten Innokentij, des Bischofs von Pskov, aus dem Dienst entlassen worden war, begab er sich in die Eparchie von Orel mit der Absicht in das Plo¡s¡cansk Kloster einzutreten. Der Superior des Klosters, Hieromonachos Ioel, nahm ihn liebevoll auf und bestimmte ihn für den Küchendienst. Zu jener Zeit wurde in die Zahl der Bruderschaft ein gewisser Ioann aufgenommen, ein Kleinbürger aus Volchov, dem die Obedienz in der Bäckerei zugewiesen wurde. Beide Novizen versahen ihren Dienst vier Jahre lang mit großer Gewissenhaftigkeit, und ihre Demut war eine Zierde für das Kloster; so kamen sie sich innerlich immer näher und versprachen sich gegenseitig, alle Sorgen und Mühen des monastischen Lebens gemeinsam zu tragen. Vasilij brannte in dem Verlangen nach der Mönchsweihe, aber da es zu jener Zeit in der ganzen Eparchie von Orel keine freien Mönchsstellen gab, beschloß er mit dem Segen des Vorstehers, in das Simonov Kloster nach Moskau überzuwechseln; das war im Jahre 1772. Zwei Jahre später wurde er als Mönch eingekleidet und erhielt den Namen Adrian; 1775 kehrte Adrian im Rang eines Hieromonachos in das Plo¡s¡cansk Kloster zurück.
Der gottesfürchtige Mönch Adrian hatte schon seit langem eine Neigung zum Einsiedlerleben verspürt; nach der Einkleidung in das engelgleiche Gewand verlangte seine Seele noch mehr nach völligem Schweigen; so entsagte er mit der Zustimmung des Superiors noch in demselben Jahre 1775 dem Gemeinschaftsleben, um sich in der Waldeinsamkeit niederzulassen. Zusammen mit Ioann und noch zwei Novizen schritt er aus dem Kloster und machte sich zu den damals undurchdringlichen Urwäldern von Brjansk auf den Weg. Lange wanderten diese Liebhaber des Eremitenlebens umher, um einen passenden Unterschlupf für ihre hesychiastischen Übungen zu suchen. Schließlich wies ihnen der Herr einen Ort, der von dichten Bäumen umgeben und von reinem Wasser umspült wurde. Er gehörte einem achtbaren Gutsbesitzer, der es liebte, Einsiedler aufzunehmen, und ihnen alles zu einem ungestörten Leben Notwendige zur Verfügung stellte.
Nachdem sie Gott für seine große Güte gedankt hatten, wies Adrian seine Begleiter an, das Baumaterial für die Klause herzurichten; er selbst machte sich schon am nächsten Tag wieder auf den Weg zum Kloster, denn er mußte das Pferd zurückgeben, das ihm der Superior zur Beförderung ihres Gepäcks zur Verfügung gestellt hatte. Iona und zwei Novizen begannen die Bäume zu fällen, und innerhalb von 3 Wochen hatten sie genügend Material fertig, um mit dem Bau anfangen zu können. Die Zeit verging, aber der Starez kam einfach nicht zurück. Die Novizen murrten und wollten ins Kloster zurückkehren, aber Iona sprach ihnen Geduld zu, und tröstete sie mit der Versicherung, der liebevolle Starez würde sie bestimmt nicht in ihrem Lebenskampf an diesem für sie ungewohnten Ort verlassen.
Es war Mitternacht. Die Novizen wärmten sich an einem Lagerfeuer und redeten von dem Starez. Iona versuchte wie gewöhnlich sie zu trösten. Plötzlich hörte man von Ferne ein Klopfen, als ob jemand Stöcke aneinanderhaut. Die erschrockenen Novizen vermuteten Räuber und horchten genau auf den Klopflaut, der immer näher kam. Schließlich hörten sie eine menschliche Stimme, in der sie freudig diejenige des Starez erkannten, der, nachdem er vom Weg abgekommen war, durch das Aufklopfen seines Wanderstabes seine Rückkehr kundtat. Sie antworteten sofort durch lautes Rufen und fuhren fort damit, bis Adrian den gesuchten Pfad gefunden und das Obdach erreicht hatte. Als sie ihn wiedersahen, war der Jubel der Schüler unaussprechlich groß, und sie brachten sogleich Dem ihren Dank dar, Der die Quelle aller irdischen und himmlischen Freuden ist. Als Adrian nun nach seiner Rückkehr in den Wald das bereitgestellte Baumaterial sah, holte er aus dem Nachbardorf einige Zimmerleute herbei, die eine Klause für die Einsiedler bauen sollten.
Nachdem sich der Starez in ihr eingerichtet hatte, unterwies er stufenweise seine Schüler in den Übungen und Entbehrungen des Einsiedlerlebens, indem er sie in der Hoffnung auf den zukünftigen Lohn tröstete. Anfangs ertrugen die Schüler nur ungern die Härte des von ihnen gewählten asketischen Weges und waren dem Verzagen nahe; die Worte und das Vorbild Adrians jedoch stärkten sie, und sie wappneten sich mit Geduld und gewöhnten sich allmählich an die Anfechtungen. Nach Ablauf eines Jahres, als sie sich schon weitgehend an die Entbehrungen des Einsiedlerlebens gewöhnt hatten, auferlegte ihnen der Starez folgende Regeln: 1) in der Einöde nur getrocknete Nahrungsmittel verwenden, unter Weltlichen jedoch die Mönchsregel einhalten, 2) aus der “Welt” nichts in die Einöde bringen, und wenn ihnen irgend etwas angeboten wird, dies zwar demütig anzunehmen, aber es dem ersten, der ihnen unterwegs begegnet, weiterzugeben; wenn sie jedoch niemandem begegnen, die geschenkte Sache auf den Weg zu legen mit einem Gebet, daß der Finder sie ohne jegliches Zögern an sich nehmen möge. Die Schüler fügten sich demütig dem Willen Adrians und versprachen, sein Gebot einzuhalten.
Der Versucher zögerte nicht, die Neulinge auf dem geistigen Weg zu verwirren. Kaum hatten sie versprochen, das Gebot des Starez einzuhalten, als eine fromme Magd Gottes, bewegt von ihrem Eifer Adrian zu dienen, zum Fest der Geburt Christi ihm Käse, Öl und Eier als Geschenk brachte. Die Schüler waren sich unschlüssig und fragten den Starez, ob er ihnen erlaube, anläßlich eines so hohen Festtages ein letztes Mal diese ihnen geschickten Speisen zu verzehren. Der Starez antwortete: “Meinen Segen dazu habt ihr nicht, denn wißt ihr etwa nicht, daß man abgelegte Gelübde streng einhalten muß, und wenn man sie einmal abgelegt hat, man sich nicht mehr von irgendwelchen Verlockungen, die einem begegnen, verleiten lassen darf. Diese stammen vom Teufel, der den Verderb des Menschen sucht. Wozu haben wir denn die ganze schöne Welt hinter uns gelassen und sind ins Kloster gegangen, wenn nicht dazu, um auf dem engen Pfad, dem Pfad der Abtötung des Fleisches dem Himmelreich nahezukommen? Wozu haben wir zuletzt gar noch das Kloster hinter uns gelassen und uns in die Wildnis begeben, wenn nicht dazu, um hier freier und strenger der Askese zu leben? Verstehen wir recht, daß wir uns wegen unserer Vernachlässigung einer härteren Verurteilung aussetzen, als die im Kloster Gebliebenen. Wollen wir geduldig und mutig das auf uns genommene Kreuz tragen in der Nachfolge unseres geliebten Jesus: Verschmähen wir die weltlichen Lüste, die die Sinne verlocken, den Verstand schwächen und den Willen demoralisieren. Wenn Versuchungen uns überfallen, erinnern wir uns an die Heldentaten der heiligen Märtyrer, welche aus Liebe zu Gott unbeirrbar die grausamsten Leiden erduldeten und mit Freuden ihr Leben opferten; erinnern wir uns auch an unsere ehrwürdigen und gottragenden Väter, die ihr Fleisch mit derartig strengem Fasten abzehrten, daß sie fast körperlos wurden, und als Lohn für ihre Askese der höchsten Gnadengaben teilhaftig wurden; ja, schauen wir auch auf den Ersten der Dulder, unsern Herrn Jesus Christus, der um unseretwillen Hunger und Durst, Armut und Verbannung, Schmach und Bespeien, Ohrfeigen und Auspeitschung, und zuletzt den Kreuzestod erlitt. Sollten wir etwa nach all dem, um einer uns verlockenden Speise willen nicht nur zu Sklaven unseres Bauches, sondern auch noch zu Meineidigen werden? Wir haben das unglückselige Beispiel unseres Urvaters vor Augen, der wegen des Verzehrens der verbotenen Frucht aus dem Paradies der Seligkeit verjagt wurde und dann sein ganzes Leben lang seinen Ungehorsam beweinen mußte. Wenn der von uns gewählte Pfad auch hart ist, so sollte er für uns eigentlich weniger schwer sein, insofern wir ihn ja freiwillig gewählt haben”.
Die Schüler vernahmen ehrfürchtig die weisen Worte des Starez, bereuten ihren Kleinmut und erfüllten demütig seinen Willen, indem sie die dargebotenen Speisen zurücksandten.
Während sie sich so im Fasten übten, oblagen die Asketen eifrig dem Gebet. Täglich zelebrierten sie außer der Liturgie gemäß dem Typikon der Kirche auch das Abend- und Morgenamt, und fügten noch andere Gebetsregeln für Eremiten hinzu. Das Psalmodieren war ihre geliebte und beständige Übung. Nicht selten traten sie zu mitternächtlicher Stunde, wenn die Natur vollkommen schwieg, aus ihrer Hütte, um die üblichen Psalmen zu rezitieren. Der Wind trug ihre Stimmen in die Ferne, der Wald hallte wider von ihrem Gebetsgesang; es war, als ob die Natur zusammmen mit ihnen ihren Schöpfer und Herrn pries. Unnötig zu sagen, daß der Starez Adrian durch sein Vorbild seiner kleinen Gefolgschaft voranschritt und sie beflügelte, ohne nachzulassen das freiwillig auf sich genommene Joch des strengen Einsiedlertums zu tragen.
Den heiligen Asketen des Altertums nacheifernd wuchs der Selige schnell im geistlichen Leben. Die Reinheit des paradiesischen Menschen spiegelte sich in seinen äußeren Zügen und Handlungen wider. Sogar die stumme Kreatur neigte sich vor ihm, und schenkte dem in ihm erwachten Ebenbild Gottes Achtung. Einmal geschah es, daß ihm drei Bären entgegenkamen. Der Starez drohte ihnen mit dem Stock, und die grimmigen Tiere entfernten sich und gaben dem Mann Gottes den Weg frei. Ein anderes mal sah er eine Bärin mit Jungen, die sich mit wildem Brüllen auf ihren Hinterpfoten erhob und sich gerade auf ihn stürzen wollte; der mannhafte Starez ließ sich jedoch nicht einschüchtern, und im Herzen betend, drohte er ihr wie schon früher mit seinem Stab: da tauchten die Bärenjungen ins Gebüsch, die Bärin machte einen Bogen um den Starez und lief ihnen nach. Ein andermal ging der Starez mit seinem Schüler Iona durch den Wald, als in der Ferne wieder die Bärin mit ihren Jungen auftauchte. Der erschrockene Schüler schrie laut: “Vater, schau nur, was für eine Bestie auf uns zukommt”. Tatsächlich kam die Bärin auf sie zugerannt. Vater Adrian betete wie üblich, gebot dem Schüler sich zu bekreuzigen; da machte die Bärin kehrt und verschwand aus ihrer Sicht.
Eine gottesfürchtige Frau, die den Starez hoch achtete, sandte ihren Boten mit einem Brief zu ihm. Nicht weit von seiner Hütte entfernt verlief ein Fluß, über den eine Floßbrücke gelegt war. Nachdem der Bote diese überschritten hatte, wollte er auf sein Pferd aufsitzen und hatte schon ein Bein auf den Steigbügel gesetzt, als das Pferd plötzlich losstürmte und den Reiter, der mit einem Bein in dem Steigbügel hing und dessen Kopf auf den Boden aufschlug, mit sich riß. Bewußt der Gefahr, in welcher er sich befand, rief er: “Heilige Einsiedler-Väter helft mir”. Durch diese Schreie erschreckt, blieb das Pferd plötzlich stehen, und der Bote traf schließlich wohlbehalten bei dem Starez ein.
Starez Adrian, dessen ganzes Streben dem Seelenheil galt, sorgte sich nur wenig um den Körper. Er verwendete niemals warme Kleidung und trug keine Schuhe; wenn er sich unbedingt in die umliegenden Dörfer begeben mußte, die etwa 20 Werst von seiner Einsiedelei entfernt lagen, so ging er barfuß ungeachtet des Weges oder der Jahreszeit. Im Winter klebte der Schnee so fest an seinen Fußsohlen, daß die Haut von ihnen abfiel; und sommers floß das Blut wegen seiner ununterbrochenen Askesemühen in Strömen aus seinen Beinen und sein ganzer Körper war von Wunden bedeckt. Der demütige und weise Starez verbat seinen Schülern, anderen etwas von seinen Askeseleistungen zu erzählen, denn er hatte ständig die Worte Christi, des Erlösers, vor sich: “... damit die Menschen nicht sehen, daß du fastest - nur dein Vater, der im Verborgenen ist” (Mt 6,18).
Auf diese Weise oblagen die seligen Einsiedler mehr als acht Jahre lang ungestört ihren Askeseübungen in ihrer Waldeseinsamkeit. Bald jedoch begannen die umliegenden Bewohner, den Wald zu holzen und nötigten daher Starez Adrian, einen anderen, für das Einsiedlerleben geeigneteren Ort zu suchen. Der neue Gutsherr nahm den Seligen ebenfalls mit Liebe auf, baute ihm eine Klause und versorgte ihn mit allem, was er für ein friedvolles Leben nötig hatte.
Etwa 10 Werst von der Einsiedlerzelle des Vaters Adrian entfernt mühte sich ein anderer Starez namens Varnava, der Gott durch völliges Schweigen gefällig war. Er hatte nur einen Schüler bei sich, und nahm auch keinen anderen bei sich auf; sogar die Nachbarschaft des sich neu dort niedergelassenen Einsiedlers, Vater Adrian, war ihm lästig, insbesondere, weil letzterer wegen der ihm eigenen Herzensgüte keinen von sich wies. Von dem gottgefälligen Leben Adrians hörend, kamen nämlich auch Laien und Mönche von entfernten Landstrichen um das Wohl ihrer Seele willen zu ihm. Der Starez nahm sie mit christlicher Freude auf, und erlaubte ihnen zuweilen bis zu einer Woche bei ihm zu bleiben. Durch diese Pilger fühlte sich Varnava in seinem stillen Dasein derart gestört, daß er beschloß, in eine Entfernung von 100 Werst von der Einsiedelei Adrians wegzuziehen. Aber der Herr führte die zwei Eremiten wieder zusammen: Der sich im Herbst bemerkbar machende Nahrungsmangel zwang Varnava dazu, Adrian um seinen Segen zu bitten, sich erneut in der Nähe von dessen Kellion niederzulassen. Der liebevolle Starez nahm den Ankömmling freudig auf, und ihr Leben floß wieder friedvoll und gottgefällig dahin.
Die Eremiten erfreuten sich jedoch nicht lange ihres stillen Lebens. Eines Nachts fielen die Räuber über sie her, und nachdem sie zuerst die Klause Adrians verwüstet hatten, machten sie sich auch über die Varnavas her. Der Herr bewahrte das Leben Adrians, Varnava jedoch war die Märtyrerkrone beschieden: er erlag nach 10 Tagen den Verletzungen durch die ihm zugefügten Schläge und übergab seine rechtschaffene Seele dem Herrn. Adrian vollzog das Totenamt, und übergab dann seinen ehrwürdigen Körper der Erde, unweit der von ihm bewohnten Zelle.
Nach diesem Vorfall verließen die Einsiedler die Wälder von Orel und siedelten in die Gegend von Smolensk über, wo sie durch Gottes Fügung Wohltäter fanden, die sie mit großem Eifer aufnahmen und Kellien für sie bauen ließen. So wie “eine Stadt, die auf einem Berge liegt”, so konnte auch der tugendreiche und sanftmütige Lebenswandel von Starez Adrian nicht verborgen bleiben. Viele Gottliebende, die von seinem hohen geistigen Lebenswandel gehört hatten, wünschten seine erfahrenen Ratschläge zu empfangen. Um ihn endgültig an den von ihm gewählten Wohnort zu binden, boten sie an, in der Nähe seines Kellions eine Kirche zu bauen, um so den Grundstein für eine echte Eremitage zu legen; der Starez stimmte dem Plan jedoch nicht zu, denn er fühlte, daß auch an diesem Ort bald ein Ende seines Bleibens sein würde.
Und diese Ahnung bewahrheitete sich schnell. Im Gouvernement von Smolensk war es nicht üblich, daß die Mönche im Wald lebten, und daher blickte nicht nur die staatliche, sondern auch die geistliche Obrigkeit mißbilligend auf das Eremitentum. Diese Sicht der Dinge wirkte sich auch auf das Schicksal von Starez Adrian aus. Zuerst begannen die Priester, die Grundbesitzer über ihn auszufragen, und nachdem sie genauere Angaben über seine strenge Lebensführung bekommen hatten, hielten sie ihn für einen “Raskolnik” (Altgläubigen), der gar noch die Grundbesitzer in die Irre leiten würde. Allmählich flößten sie dem Gemeindepriester ein, er solle der Ortspolizei anzeigen, daß in seiner Gemeinde im Wald Leute unbekannter Herkunft hausten, die sich für Mönche ausgeben und seltsame Gottesdienste abhalten, ähnlich denen der “Raskolniki”. Daher erschien nach einiger Zeit bei dem Gutsherrn, auf dessen Besitztum Vater Adrian lebte, der Polizeichef, um ihn zu verhören, welche Mönche da bei ihm im Walde hausten. Der Gutsbesitzer antwortete, daß tatsächlich einige gottesfürchtige Starzen auf seinen Ländereien wohnten, die ihm schon lange bekannt seien; und indem er dem Polizeichef kurz über ihre große Askese berichtete, brachte er ihn zu Vater Adrian: “Wer bist du, woher kommst du, und warum lebst du nicht im Kloster?” fragte der Polizeichef den Starez, und ging einfach in seine Zelle hinein. “Wir sind keine Ausreißer und keine Vertriebenen - antwortete demütig Adrian - sondern wir haben unser Kloster freiwillig verlassen, mit dem Segen der Obrigkeit, um in vollkommener Einsamkeit ein Leben des Schweigens und des Gebetes zu führen. Und diesen entlegenen Ort haben wir deshalb zu unserer Bleibe erkoren, weil er uns als günstig für die Rettung unserer Seele erschien. Obgleich wir sündige Knechte Gottes sind, so wollen wir doch den heiligen Männern der alten Zeit nacheifern, die sich angesichts der Verlockungen der Welt in Einöden und Berge, in Höhlen und Erdschluchten retteten. Lege uns um Christi willen kein Hindernis in den Weg; Er versprach den himmlischen Lohn für auch nur eine Tasse kalten Wassers; um wieviel mehr wird Er denjenigen belohnen, der die Pilger versorgt und ihnen die Möglichkeit gibt, Gott dem Herrn zu dienen”. Der Polizeichef war so gerührt durch die Worte des Starez, daß er ihm nun von ganzem Herzen zugetan war und versprach, in jeder Hinsicht für ihn zu sorgen; am nächsten Tag schon sandte er ihm als Zeichen seiner Liebe und Achtung einen Sack Weizenmehl.
Als die Priester merkten, daß ihre Verlautbarung an die weltliche Obrigkeit erfolglos geblieben war, wandten sie sich mit einer Anzeige gegen den Starzen an den Bischof von Smolensk Parfenij, der bald daraufhin diesen zu sich rief. “Wer und woher bist du?” fragte ihn Parfenij. “Ich bin der sündige Priestermönch Adrian aus dem Plo¡s¡cansk Kloster”, antwortete der Starez. “Du hältst dich wohl schon lange in meiner Eparchie auf, mit wessen Erlaubnis denn?” Der demütige Einsiedler fiel dem Hierarchen zu Füßen und sprach: “Verzeiht mir, heiliger Vladyka, daß ich, der ich nur Staub und Asche bin, mich erkühne, nicht nur vor eurer Hochwürden zu stehen, sondern gar das Wort an euch zu richten. Ich verberge nichts vor euch, habt Geduld mit mir: schon vor langer Zeit habe ich das Kloster verlassen und halte mich in den Wäldern von Orel auf, wo ich auch bis zum Tode geblieben wäre, wenn nicht die Räuber über uns hergefallen wären und uns viel Arges angetan hätten. Mein Mitbruder wurde von ihrer Hand erschlagen, und ich entschloß mich ob meines Kleinmutes daraufhin, einen sicheren Unterschlupf in eurer Eparchie zu suchen, wo mich der hiesige Vizegouverneur Chrapovitzkij unter seine Obhut nahm und mir gestattete, mich in seinen Wäldern aufzuhalten”.
“Wenn du hier bleiben möchtest, dann mußt du in meinen Amtsbezirk kommen, und ich nehme dich gerne auf, andernfalls kann ich nicht gestatten, daß sich fremde Mönche in meiner Eparchie herumtreiben.”
Der Starez dankte dem Kirchenfürsten mit einer tiefen Verbeugung für sein mildes Wort, bat jedoch um die Erlaubnis, sich vorsorglich mit seinen Schülern zu beraten, was Parfenij ihm gestattete. Nach der Rückkehr in seine Einsiedelei teilte Vater Adrian seinen Schülern mit, was der Bischof ihm gesagt hatte und bat um ihre Meinung dazu.
“Wir sind mit allem einverstanden - antworteten die Schüler einmütig - mit dir sind wir bereit, überall hinzuziehen, nur laß uns nicht im Stich.”
“Ich vertraue auf eure Liebe - sagte der Starez - aber welche Antwort geben wir Vladyka? Wir dürfen keine Stunde mehr verlieren, und müssen uns daher sofort entscheiden: ob wir uns dem hiesigen Kirchensprengel anschließen wollen oder nicht. Vergeßt nur nicht, daß in den hiesigen Klöstern Mangel an Mönchen herrscht, und es leicht passieren könnte, daß uns die geistliche Obrigkeit zwar in ihren Bereich aufnimmt, uns aber bald nicht mehr gestattet, in der Wildnis zu leben und uns gegen unseren Willen in irgendein Kloster steckt”.
Lange beratschlagten die Einsiedler; schließlich erinnerte sich Iona an einen Hieromonachos, einen Bekannten Vater Adrians, der zu jener Zeit in der Alexander Nevskij Lavra wohnte und in der Gunst von Metropolit Gavriil stand. Iona riet dem Starez, einen Brief an ihn zu schrieben, was dieser denn auch sogleich tat. Nachdem er in allen Einzelheiten seine Lage geschildert hatte, bat Vater Adrian den Hieromonachos, ihm mitzuteilen, ob er mit seinen Schülern einen ruhigen Unterschlupf in den Eparchien von Novgorod oder Sankt Petersburg finden könne. Nach geraumer Zeit erhielt er folgende Antwort: “Heiliger Vater! Ich unterbreitete deine Angelegenheit dem Metropoliten selber, und er nimmt dich gerne auf. In unserer Eparchie gibt es viele Einsiedeleien, in denen du Frieden und Ruhe finden kannst. Vladyka wird Sorge dafür tragen, dich unterzubringen, wo es dir beliebt: er hat Sympathie für Einsiedlermönche und nimmt sie stets mit Vergnügen in seinen väterlichen Schutz.” Bald danach erging aus Petersburg eine Order an den Bischof von Smolensk Parfenij, er möge dem Hieromonachos Adrian vom Plo¡s¡cansk Kloster eine schriftliche Genehmigung zur Reise nach Petersburg erteilen. Aufgrund dieser Order rief der Bischof den Starez zu sich, und indem er ihm den Paß aushändigte fragte er: “So bist du sogar in Petersburg bekannt?” Vater Adrian nahm den Paß entgegen und machte sich mit seinen Schülern auf den Weg nach Petersburg.
Bei seiner Ankunft in der Hauptstadt des Nordens begab er sich unverzüglich zu Metropolit Gavriil. Nach einer langen Unterredung unter vier Augen mit dem Kirchenfürsten, ersuchte ihn der Starez, ihm und seinen Schülern auf der Insel Valaam einen zum Einsiedlerleben günstigen Platz anzuweisen, damit er dort im Schatten des großen Klosters friedlich seine Tage beenden könne. Der Metropolit antwortete: “In der jetzigen Herbstzeit ist der Ladoga See sehr stürmisch, und für euch, die ihr an Seefahrt nicht gewöhnt seid, wäre das Übersetzen dorthin nun zu schwierig. Hört auf meinen Rat und mit Gottes Hilfe begebt euch in das Kloster auf der Insel Konevetz und überwintert dort. Wenn dann der Frühling kommt, wird man sehen, wo ihr euch niederlassen könnt”.
Mit dem Segen des Kirchenfürsten begaben sich Adrian und seine Schüler nun in das Konevetz Kloster, wo sie von dem dortigen Superior Iona mit Freude empfangen wurden. Bald wurde jedoch auf Anordnung des Metropoliten, Iona als Superior in das Kloster Modena versetzt, und Vater Adrian an seiner Statt zum Superior des Konevetz Klosters ernannt, das ihm große Dankbarkeit schuldet hinsichtlich seiner inneren und äußeren Ausstattung. Nachdem er dem Kloster 10 Jahre lang vorgestanden war (von 1790 - 1800), legte er sein Amt nieder, weil er seine Tage in dem Simonov Kloster von Moskau beenden wollte, wo er fast 30 Jahre zuvor das engelgleiche Gewand (Mönchskleid) angelegt hatte. Zusammen mit seinem Schüler, Hieromonachos Iona, siedelte er im Jahre 1800, unter dem Abt Ioann, dorthin über. Bereits im folgenden Jahr wurde er unter dem Namen Aleksij in das große Schema eingekleidet, und die restlichen 10 Jahre seines Lebens verbrachte er dort in Fasten und Gebet.
Sein Antlitz leuchtete in reiner Freude, denn es spiegelte die Reinheit seines Herzens wider. In seinem Blick lag engelgleiche Sanftmut, ein Ausdruck seines inneren Friedens. Seine Liebe erstreckte sich nicht nur auf die Menschen, sondern auch auf die stumme Kreatur. Mit väterlichem Erbarmen blickte er auf kranke Vögel und Tiere; er pflegte sie und die geheilten ließ er mit kindlicher Freude wieder fliegen. Viele, die vertrauensvoll zu ihm kamen, bemerkten bei ihm die Gabe der Hellsichtigkeit. So sah er die für Rußland, und besonders für Moskau denkwürdige Epoche 1812 voraus, und noch ein Jahr zuvor forderte er seine Schüler und Besucher auf, ihre Gebete für die Errettung des Vaterlandes zu verstärken. Nicht selten geschah es, daß er nach längerem Schweigen gleichsam erwachte: mit großem Eifer wandte er sich dann an die ihn Umgebenden und sprach: “Betet, Brüder, betet, es kommt eine große Feuerbrunst”. Es war ihm jedoch nicht bestimmt, bis zu dieser Zeit zu leben. Anfang 1812 zeigte sich eine Schwellung in seinen Beinen, und er wurde merklich schwächer und schwächer. Sein Leben erlosch nach und nach gleich dem stillen Glimmern einer erlöschenden Lampe; als die heiligen Pfingsttage nahten, war er äußerst erschöpft und konnte nur noch mit Mühe sprechen. Geduldig ertrug er die Qualen vor dem Sterben und erwartete gebetsvoll sein Ende, wobei er auf die unschätzbaren Verdienste des Erlösers der Welt hoffte. Einige Tage vor dem Ende empfing er die Heilige Ölung und die Heiligen Gaben. Nachdem er so die letzte Wegzehrung erhalten hatte, hörte er gänzlich auf zu sprechen, und gab nur noch durch seine zum Himmel gerichteten Blicke den Schülern zu verstehen, daß sein gebetsinniger Geist danach strebt, sich schnell von den Banden des Fleisches zu lösen, um mit Christus vereint zu sein. In der 4. Woche der Großen Fasten (Kreuzverehrung) schließlich, am Donnerstag, den 28. März, legte er während des Abendgottesdienstes friedlich seinen Geist in die Hände des Herrn, in seinem 90. Lebensjahr.
Der Körper des seligen Aleksej ruht gemäß seinem letzten Willen gegenüber dem Altar der Krankenhauskirche, die der Herabkunft des Heiligen Geistes geweiht ist, nicht weit von der Zelle, in der er sein heiliges Leben geführt hatte und zuletzt still im Herrn entschlafen war. Es gibt auch einige jenseitige Zeugnisse über sein gottgefälliges Leben, aber wir wagen nicht uns darüber auszulassen, um nicht der Vorsehung Gottes vorzugreifen, und nicht die Demut des seligen Starez zu beleidigen, der es im dieseitigen Leben nicht gern hatte, daß man viel Aufhebens von seinen asketischen Errungenschaften machte. Wir beenden unseren Bericht über sein Leben mit denselben apostolischen Worten, mit denen auch sein frommer Jünger, Hieromonachos Iona, seine Beschreibung beendete: “Den edlen Kampf hat er vollendet, die geistige Schlacht geschlagen, den Glauben bewahrt. Und jetzt wird ihm die Krone der Wahrheit bereitet, welche ihm der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tage aufsetzen wird”.
Übrigens ist auch uns gewöhnlichen und unwürdigen Kindern der Kirche das Bewußtsein und die Empfindung ihrer Einheit und konziliaren Einwesentlichkeit nicht vollkommen unzugänglich. Wenn wir die Heiligenleben lesen, fühlen wir zuweilen trotz all unserer Unw
Von den Schülern des Eremiten Adrian (als Schemamönch nahm er wieder den Namen Aleksij an) sind die bekanntesten: der Mönch Vasilisk und der Schemamönch Zosima.
Der Mönch Vasilisk war gebürtig aus dem Gouvernement Tver, Bezirk Ka¡sin, Kreis Kaljazin, Dorf Ivani; seine Eltern waren bescheidene Bauern, die ihn auf den Namen Vasilij tauften. Von jungen Jahren an zeigte er Neigung zu einem frommen Leben und zog Stillschweigen und Einsamkeit allem anderen vor. Aber ehe er seinen Wunsch verwirklichen konnte, hatte er nicht wenig Versuchungen und Kummer zu erdulden. Er war zwar von seinen Brüdern freigestellt worden, aber hatte noch nicht die völlige Entlassung aus der Dorfgemeinschaft erhalten; er besorgte sich einen befristeten Paß und begab sich damit auf Wanderschaft zu verschiedenen Eremitagen, in der Hoffnung einen günstigen Ort, wo er sich der Rettung seiner Seele hingeben könne, zu finden. Man riet ihm jedoch, sich zu den Einsiedlern zu begeben, da man ihn nach Ablauf des Passes in den Klöstern nicht behalten würde.
Im Verlauf seiner Wanderungen kam er auch in das Vvedenskij Kloster von Ostrovo, das damals unter der Leitung von Vater Kleopa, eines Mannes von hohem geistigem Ansehen, stand. Als er das streng asketische Leben der dortigen Starzen sah, bat er darum, in ihre Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Da forderte ihn Vater Kleopa auf, allein mit ihm zu dem hinter dem Kloster gelegenen See zu gehen. In jener Nacht war Frost, der See zog sich allmählich zu, und um seine Willigkeit zu prüfen, befahl ihm Vater Kleopa: “Lauf mal schnell aufs Eis hinaus, und schau, ob es schon fest ist”, während die Eisdecke, die sich über Nacht gebildet hatte, offensichtlich noch viel zu dünn war, um einen Menschen zu tragen. Vasilij rannte jedoch los, ohne zu widersprechen oder zu überlegen, das Eis könnte ihn nicht tragen. Doch Vater Kleopa hielt ihn zurück und lobte ihn: “Heil sei dir mein Sohn; du wirst im Mönchsleben wohl voranschreiten, wenn du stets den geistlichen Vätern so gehorsam bist!” Er versah ihn mit allem Notwendigen und segnete ihn liebevoll zu seinem hesychastischen Einsiedlerleben.
Vasilij hatte gehört, daß in den Wäldern von Brjansk der Hieromonachos Adrian mit seinen Schülern in der Einöde lebt. Er suchte ihn daher auf, und da er von seinem einfachen Lebenswandel und seiner demütigen Haltung sehr angetan war, wünschte er bei ihm bleiben zu können und bat, in die Schar seiner Schüler aufgenommen zu werden. Adrian nahm ihn auf, aber bald erwachte wieder der Wunsch nach dem völlig einsamen Leben in ihm. Außerdem bereitete ihm der Gedanke Sorgen, daß er nach Hause zurückkehren müsse, um seinen Paß zu erneuern, denn auf eine Freistellung für immer konnte er nicht hoffen wegen seiner Armut und seiner Zaghaftigkeit.
Als Vater Adrian sah, daß Vasilij ein so edles Leben führt und mehr als alle anderen in seiner Askese fortschreitet, daß er sich auszeichnet durch Unterordnung, sanften Umgang, durch seine vernünftige, demütige Gesinnung, weihte er ihn mit dem Namen Vasilisk zum Mönch und mit der Auflage und dem Gelöbnis seinerseits, daß er sein ganzes Leben lang in der Einsamkeit verbringen würde. Von dieser Zeit an verlangte Vasilisk noch mehr nach einem Leben völliger Einsamkeit und oftmals bat er Vater Adrian, er möchte ihn dazu segnen.
Adrian sah zwar, daß Vasilisk demütigen Gemüts war und zu einem abgesonderten hesychastischen Leben fähig war, aber er ließ ihn trotzdem nicht sogleich wegziehen, und vertröstete ihn auf die nahe Zukunft. Vasilisk war betrübt über diese Hinhaltung, wagte jedoch nicht, eigenwillig den Starez zu verlassen, denn er fürchtete den Zorn Gottes.
Allmählich lehnten sich gegen Adrian die Priester der Umgebung auf, weil er pflegte, den Gutsherren die Beichte abzunehmen. Sie argwöhnten, daß er von ihnen große Geschenke und Geld annehme. Als Vater Adrian solch einen Unwillen der Priester gegen sich bemerkte, zog er es ob seiner Bescheidenheit vor, diese Gegend zu verlassen.
Um diese Zeit gesellte sich der fromme Jüngling Zacharia Verchovskij (im Mönchstum Vater Zosima) zu den Einsiedlern, der später ein ergebener Schüler und untrennbarer Begleiter seines Starez Vasilisk wurde. Überlassen wir ihm selber die Erzählung, was er bei den Einsiedlern von Roslavl vorfand, als er sie das erste mal besuchte.
“Zu jener Zeit, – so schrieb er, – empfand auch ich, sündiger Zosima, Schüler von Starez Vasilisk, den Wunsch, ein Mönchsleben in der Einsamkeit zu führen. Ich hatte in den Lese-Minäen die Viten der heiligen Väter studiert, und wunderte mich sehr, wie diese ganz alleine in entfernten, tiefen Wäldern leben konnten. Aus Neugierde suchte ich daher den Eremiten Adrian auf. Er empfing mich mit großer Freude und Gunst. Ein einziger Blick auf ihn versetzte mich bereits in Erstaunen: er trug ein dünnes, zerschlissenes Gewand, selber war er großwüchsig, hager und bleich, hatte einen ausgezehrten und eingetrockneten Körper. Allein schon sein Anblick verwunderte mich derart, daß ich zwei Tage bei ihm blieb, um genauer die Lebensweise, das Gebaren und das Tun der Einsiedler in Augenschein zu nehmen. Ich sah, daß alles bei ihnen ärmlich, einfach und nachlässig war, denn sie besaßen nur das allernotwendigste, und wie sie nachts aufstanden, um zu beten. Sie aßen alle das gleiche, nur Fastenspeisen: es gab weder Milchprodukte noch berauschende Getränke bei ihnen: nur Getrocknetes und Gemüse aus ihrem Garten, und sie tranken nur Wasser und Kwass. Wie Vater Adrian selbst, so waren auch alle anderen, die bei ihm wohnten sanften Gemüts, schweigsam und gehorsam; auch ihr übriges Verhalten oder was sie mir sonst noch zeigten, versetzte mich in Verwunderung, insbesondere, als sie das von mir angebotene Geld nicht annahmen. Das erstaunte mich dermaßen, daß ich nicht umhin konnte, auszurufen: “O Wunder, gibt es tatsächlich Leute, die kein Geld brauchen, und die sich über das Weltliche keine Sorgen machen. Sie führen ein derartiges Leben, an dem man unmöglich hängen oder gegeneinander aufgebracht oder beleidigt sein kann. Sie haben alle nur einen Gedanken: Gott und die Sorge um ihr Seelenheil!” Ja, und wie konnten sie an irgend etwas hängen, wo sie doch kein persönliches Eigentum hatten; die wenigen Dinge, die sie bei sich hatten, betrachtete sie alle als dem Vater Adrian gehörend. Wenn er etwas von den Wohltätern annahm, so bewahrte er dies nicht für sich selber auf, sondern um der mit ihm lebenden Brüder willen. Er eignete sich nämlich selbst nichts an, sondern betrachtete alles als gemeinsamen Besitz. Aus ihrem eigenen Willen und Wunsch taten die Mönche nichts, denn sie ordneten sich widerspruchslos dem Willen von Vater Adrian unter; für alle galt das gleiche, und keiner betrachtete etwas als sein eigen. Deshalb herrschte Frieden und Stille bei ihnen, innerlich waren sie voller Liebe und Freude: als hätten sie eine Seele und einen Willen. Am erstaunlichsten ist, was für ein ungeheucheltes Wohlwollen sie füreinander hegten und wie sie sich ohne Schmeichelei gegenseitige Achtung entgegenbrachten. All dies habe ich mit eigenen Augen gesehen, denn ich besuchte sie noch oftmals hernach; dermaßen von ihrer Lebensweise bewegt und belehrt, dachte ich bei mir: Wie glücklich wäre ich, könnte ich nur gleich ihnen ein so unbesorgtes, stilles Leben führen, das Gott geweiht ist in dem Bestreben, allein Ihm gefällig zu sein. Und so faßte ich den festen Entschluß in meinem Herzen, mich zu ihnen zu gesellen; ich eilte nach Sankt Petersburg, um dort die Demission aus meinem Regiment zu erhalten und daraufhin in den Mönchsstand zu treten.
Bevor ich mich auf den Weg machte, gab mir Vater Adrian einen Brief an seinen geistlichen Sohn, Archimandrit Iosif, den Vorsteher eines Kiewer Klosters mit, der sich damals gerade in Petersburg aufhielt; ich berichtete ihm alles ganz genau über mich. Als er diesen Brief von mir erhielt, war er erfreut darüber und erstattete sogleich dem Metropoliten Gavriil davon Bericht. Dieser schickte daraufhin bald einen Brief, in dem er Vater Adrian einlud, zu ihm nach Petersburg zu kommen. Und als er eintraf, schickte er ihn in das Kloster Konevetz, und wies den Vorsteherdes Klosters an, in allem für ihn zu sorgen.
Als Vater Adrian nach Petersburg abreiste, gestattete er meinem Starez Vasilisk, sich in der Zelle niederzulassen, die ihm am meisten beliebte: entweder in der seinigen oder in der Zelle Vater Varnavas, denn alle Zellen standen leer. Da sprach der Starez zu sich selbst: “Gott hat also deinen Wunsch erfüllt; jetzt mußt du auch ein geistliches Leben führen”. Starez Vasilisk, der nun allein geblieben war, begann ein Eremitenleben zu führen; er erduldete viele Kämpfe, Versuchungen und qualvolle Träume mit allerlei dämonischen Heimsuchungen, die ihn gewaltig erschreckten. Vom Schlaf erwachend hörte er sie drohen: “Du bist alleine hier, aber unserer sind viele, wir werden dir schon noch den Garaus machen!”. Viele Male verlor er das Bewußtsein vor Entsetzen und wartete stets sehnlichst, bis endlich der Tag anbrach; und sobald die Nacht sich näherte, überkam ihn wieder diese Öde, dieses Entsetzen und diese Eintönigkeit. Die Furcht ergriff ihn, daß er wieder eine so schreckliche Nacht verbringen müsse. Als Mensch ließ er den Mut sinken und wußte nicht mehr, was er tun solle. Zu all dem war er noch von schwacher Gesundheit und mit allerlei Gebrechen behaftet. Er ernährte sich ganz einfach, aß keine wohlschmeckenden, sondern herbe und trockene Speisen. Auf Honig und Milch verzichtete er ganz, als Getränk verwendete er irgendeinen Kräuteraufguß und an Festtagen gönnte er sich auch nichts besseres. Auf seinem harten Lager mit dem Holzblock unter dem Kopf konnte er sich auch keines erquickenden Schlafes erfreuen. Wenn man ihm einmal etwas Gutes zum Essen sandte, dann verteilte er dies sogleich an andere. Viele hegten großes Zutrauen und Liebe zu ihm, darunter auch Archimandrit Gennadij (der frühere, aus Brjansk gebürtige Vorsteher der Nikander-Einsiedelei), der ihn zuweilen besuchte und ihm Leinwand, Honig und guten Fisch sandte. Wenn er derartige Dinge bekam, dann verteilte er wie gewöhnlich die Leckerbissen an die ihn besuchenden Brüder und behielt nur einen kleinen Teil der Speisen bei sich, und auch dies wenige aß er nicht alleine, sondern nach und nach, wenn jemand zu ihm kam. Ein kleines Honiggefäß konnte zuweilen zwei oder drei Jahre dastehen, ohne daß er Gebrauch davon machte, denn nur seinen Besuchern bot er davon an, während er sich selber, sogar wenn er krank war, mit irgendeiner dünnflüssigen Brühe anstatt Tee, zufriedengab. Um seiner eigenen Bedürfnisse willen oder um sich Abwechslung zu verschaffen, begab er sich niemals in die umliegenden Gehöfte oder Dörfer, sondern er vertraute ganz auf die göttliche Vorsehung. Einmal ging bei ihm das Mehl und alle Speise zur Neige; die Bauern, die ihm sonst diese Dinge gebracht hatten, waren seit Beginn des Winters nicht gekommen, selbst aber wollte er nicht ins Dorf gehen, sondern dachte bei sich: “Wenn ihnen Gott nicht eingegeben hat, mich aufzusuchen, so gebührt es auch mir, mich dem Willen Gottes zu fügen und um meiner Sünden willen auszuharren und das zu essen, was ich bei mir habe”. Und so verbrachte er den ganzen Winter, sich nur von Kartoffeln ernährend.
Die Bojaren achteten ihn so hoch, daß sie sich oft ein wenig Brot von ihm geben ließen, das sie dann zuhause ihren Angehörigen verteilten; oder wenn sie eine von ihm geschnitzte Handarbeit bekamen, etwa einen Löffel oder einen einfachen Spazierstock (diese waren nicht sehr kunstvoll geschnitzt), gaben sie ihm dafür unvergleichlich mehr für seinen Unterhalt als anderen Einsiedlern, obwohl diese viel feiner zu schnitzten verstanden als er. Ob seines einfachen Lebenswandels und seines demütigen Umgangs willen wurde er von den Gutsherren und den Priestern, von allen Bauern und insbesondere von der Mönchsbruderschaft überaus geschätzt, geliebt und geachtet. Deshalb besuchte er auch zuweilen die anderen Eremiten. Er begab sich auch zu den weit entfernten und blieb einen Monat bei ihnen; die in der Nähe Wohnenden kamen reihum bei einem von ihnen an Feiertagen zusammen, und alle zusammen zelebrierten sie dann die Nachtwache und den Gottesdienst. Alle so Versammelten verbrachten den ganzen Tag mit erbaulicher Lektüre, geistlichen Gesprächen und freundschaftlichem Umgang, was ihrem frommen Lebenswandel in keiner Weise hinderlich war. Der Mönch, bei dem sie sich versammelt hatten, sorgte für das Mahl und eine gebührende Bewirtung. Wenn einer von ihnen nicht genug Vorräte bei sich hatte, dann brachten die anderen alles Notwendige mit.
Auf diese Weise verbrachten sie den Festtag in freudschaftlicher Gemeinschaft, ergingen sich im Wald und in den Hainen und Tälern oder führten geistliche Gespräche. Wenn irgendeiner der Väter oder Brüder oder Schüler eine zweifelhafte oder zweideutige Stelle in der Heiligen Schrift fand, dann brachte er die Frage im Kreis aller vor, und zusammen lösten sie den Zweifel durch gemeinsame Überlegung. Jeder legte entsprechend seinem Verständnis seine Ansicht dar. Sie baten zuweilen meinen Starez Vasilisk, daß er ihnen erklären möge, was nicht leicht verständlich und zweitdeutig erschien. Dann antwortete der Starez, um nicht widerspenstig und unwillig zu erscheinen (er hütete sich streng vor diesen Fehlern) mit großer Demut: “Ich bin doch gänzlich unwissend, nur um des Gehorsams willen will ich sprechen”. Und dann erklärte er, was er vermochte. Wenn die Brüder so seine Auslegungen und Meinungen hörten, erschienen ihnen diese völlig zufriedenstellend. Dann kamen ihnen im Vergleich dazu die Worte der Väter, die zuvor ihre Meinung dargelegt hatten, unzulänglich und verschwommen vor. Wegen dieser seiner Fähigkeit zur feinsinnigen und rechten Auslegung achteten ihn die in der Umgebung wohnenden Einsiedler sehr hoch; aber auch gottinnige und geistig hochstehende Väter anderer Klöster hegten große Achtung für ihn. Alle, die sich wahrhaft um ihr Seelenheil sorgten, fanden in ihm einen Ratgeber ohne Tadel, dem sie willig folgten, und alle, die ihn kannten, bemühten sich stets eifrig, ihm zu dienen und ihm alles, was er nötig hatte, zu beschaffen. So diensteifrig waren sie, daß es schien, sie stünden in seinem Gehorsam.
Starez Vasilisk seinerseits war so voller Erbarmen, Mitleid und Mitgefühl, daß er nicht einmal vermochte, ein träges Pferd durch einen Peitschenhieb in Bewegung zu setzen – nur mit der Stimme und schmeichelnden Worten versuchte er es anzutreiben. Und wenn das Pferd seiner Stimme nicht gehorchen wollte, dann beharrte er nicht darauf: lieber machte er sich selber auf einen langen, beschwerlichen Weg, als daß er aus Ungeduld zum Mörder würde, und um sich selbst zu zügeln, sagte er: “Die im Mönchsstand Stehenden dürfen niemand eine Beleidigung zufügen”.
Einmal, als er zum Fluß ging, bemerkte er eine Schlange, die sich aus Angst vor ihm in den Fluß warf. Plötzlich war sie vor seinen Augen verschwunden und er wußte nicht, ob sie nun ertrunken oder nur untergetaucht war. Das bekümmerte ihn überaus: als ob er sie getötet hätte, klagte er sich selbst an und suchte dieSchuld bei sich. Noch nach vielen Jahren machte er sich Gewissensbisse, warum er damals nicht einen Bogen um die Schlange gemacht und sie ruhig hatte liegenlassen.
Niemals konne er sehen, wie jemand gezüchtigt wurde. Er vertrug auch nicht den Anblick von Vieh oder Schafen oder Vögeln, die unschuldig getötet wurden und konnte nicht gleichgültig auf ihre Schlachtung oder auf einen zappelnden Fisch blicken; noch lebende Fische konnte er überhaupt nicht putzen, ebenso wie er sich weigerte, sie selbst zu angeln; einen bereits gefangenen Fisch nahm er in die Hände, und betrachtete ihn liebevoll, nicht etwa weil es ihn danach gelüstete, sondern wegen der Schönheit und Güte seiner Form lobte er den Schöpfer-Gott, der solch eine herrliche Kreatur geschaffen hat. Dann sprach er, als ob er der Fisch selber wäre: “Laß mich frei, daß ich noch so frei wie du leben kann, dank deiner Güte; mein einziger Fehler ist, daß ich keine Hände habe, um mich selber aus dem Netz zu befreien, in das ich geraten bin, aber ich fühle auch Schmerz und möchte auch leben, ebenso wie du, und ich liebe die Freiheit: laß mich bitte los, wenn du barmherzig bist!” Und so von Erbarmen und Mitleid gerührt, ließ er den Fisch ins Wasser zurückspringen, um ihn nicht lebendig zappeln sehen zu müssen.
Vor dem Ende der Fastenzeit bereitete der Starez niemals die Festspeisen für die Lichte Auferstehung Christi oder die Geburt Christi zu, denn er war gewiß, daß der Herr auch in jenen Tagen für sie alle sorgen wird. Einmal kam am Vortag des Festes der Lichten Auferstehung Christi ein in der Nachbarschaft lebender Eremit zu ihm, der den Starez aufforderte, mit ihm ins Dorf zu gehen, um dort in der Kirche zu beten und dann mit einem für solch einen hohen Feiertag ziemenden Schmaus das Fasten zu beenden; von den Wohltätern mit feinen Speisen ausgerüstet, würden sie schnell in ihre Einöde zurückzukehren. Aber mein Starez stimmte nicht zu und sagte: “Wir sind für die Welt tot, denn um Gottes willen verließen wir die Welt, und die Welt braucht uns schon nicht mehr, es gebührt uns also nicht, mit ihr zu frohlocken; wenn wir nur um eines guten Schmauses willen zu den Weltlingen gehen, wie stehen wir dann vor Gott da? Gott ist unser hiesiges Gebetsleben in der Abgeschiedenheit gefälliger; unser Fest besteht in Entäußerung und Entbehrung jeglicher leiblichen Tröstung. Doch mächtig ist der Herr, auch unsere Fastenspeise in Manna zu verwandeln, und das bittere Wasser in ein süßes Getränk und uns mit geistiger Freude zu trösten, die größer ist als die aller festschmausenden, frohlockenden und sich belustigenden Weltlinge. Solche erhabenen Göttlichen Tage, besonders die Lichte Auferstehung Christi, sollten wir feierlich begehen, und womit könnten wir sie besser heiligen, als indem wir sie, ohne uns ablenken zu lassen, verbringen, innerlich mit dem Herrn Zwiesprache haltend, mit dem Lesen der Heiligen Schrift und uns in das Göttliche versenkend; wenn wir kleinmütig werden und es uns langweilig wird, wie können wir dann sprechen: “Erduldend harrte ich, und der Herr vernahm mich und hörte meine Stimme.” Überdies wohnen wir ja gar nicht so weit von einem Dorf entfernt, und dort leben keine Barbaren, sondern rechtgläubige Leute – bestimmt wird Gott irgend jemand bewegen, uns entweder einzuladen, wenn es uns frommt, zu ihnen zu gehen, oder uns etwas Gutes für diese Festtage zu bringen.”
Aber der Bruder wollte nicht auf meinen Starez hören und sprach: “Wer sollte uns schon an einem so hohen Festtag besuchen? Wir werden uns langweilen ohne jegliche Tröstung; so werde ich alleine gehen, und dir bringe ich dann die Osterleckerbissen mit: so werden wir die ganze Lichte Woche über etwas zu schmausen haben”. Er hörte nicht auf meinen Starez und begab sich in der Hoffnung auf die vielen Gläubigen und seine Freunde, die ihn zuvor nie im Stich gelassen hatten und ihn stets mit allem Notwendigen versorgt hatten, ins Dorf. Dort fand er alle bereits in der Kirche versammelt vor; in den herrschaftlichen Häusern waren alle äußerst betriebsam und voll mit den Festvorbereitungen beschäftigt, sie lehnten es ab, sich ihm zu widmen oder mit ihm zu plaudern, denn sie hatten dazu nun keine Zeit. Nach Ende der Heiligen Liturgie gingen seine besten Wohltäter in die Dorfschenke und von dort aus besuchten sie sich noch scharenweise gegenseitig. Sie nahmen die Anwesenheit des Eremiten überhaupt nicht wahr, und nicht einer seiner Freunde lud ihn in sein Haus zum Festschmaus ein; mit einem Wort, er wurde von allen mißachtet und vergessen; einige lachten ihn gar noch aus: “Schau da, ein Einsiedler sucht unter den Saufbrüdern sein Seelenheil!” So kehrte er hungrig zum Starez zurück und erzählte diesem, was ihm zugestoßen war. Als der Starez sah, daß er hungrig war und nichts mitgebracht hatte, setzte er ihm ein solches Festmahl vor, welches er trotz all seiner Aufdringlichkeit im Dorf nicht bekommen hatte. Dann bereute der Bruder tief ob seines Ungehorsams und seines Kleinmutes und verspeiste, was der Starez ihm vorsetzte, unter Gewissensbissen, aber der Starez sprach zu ihm: “Sieh, so sorgt Gott für alle, daß Er auch mich Unwürdigen, auf Seine Gnade Hoffenden nicht verachtet, sondern den Priester, der mein Beichtvater ist, bewegte, vor allen anderen mir etwas zu bringen: er schickte mir reichlich Weizenpasteten, Gebäck, Eier und Fische; dir jedoch sandte er überhyaupt nichts, denn er dachte natürlich, daß du, der du ja selber ins Dorf gegangen bist, dort noch viel mehr von den Wohltätern erhalten hättest.”zürdigkeit ganz deutlich und real unsere Verwandtschaft mit ihnen; wir empfinden die Wesentlichkeit, Nähe, die Lebenswichtigkeit der Interessen, Erlebnisse und Worte bei Kirchenvätern und Kirchenlehrern, von denen uns eine Zeitspanne von über tausend Jahren trennt.
Die Kirche bemüht sich, dieses konziliare Empfinden in uns zu entwickeln, indem sie uns beispielsweise die Möglichkeit gibt, bei den festlichen Gottesdiensten dieselben Gefühle zu erleben, welche diejenigen, die ursprünglich an dem jeweils begangenen kirchlichen Ereignis beteiligt waren, erfuhren und uns so konziliar mit ihnen, die jetzt unzertrennlich der triumphierenden, himmlischen Kirche angehören, zu vereinigen.
Ganze Abschnitte des Gottesdienstes widmet die Kirche sogar dem Nacherleben der alttestamentlichen Epoche und gibt uns, ihren hilflosen Kindern, so die Mittel zur Realisierung der konziliaren Einheit auch mit den Kindern jener entfernten Epoche, die zu ihren Lebzeiten die Kirche wohl erahnten und erhofften, jedoch erst nach ihrem Tod durch Christus, den Erlöser, in der Stunde seines Sieges über die Hölle, mit ihr vereint wurden.
Und dank dieser Gemeinschaft untereinander kann jeder von uns orthodoxen Christen bei der Begegnung mit irgendwelchen, manchmal ganz unbekannten, aber doch tief orthodox gläubigen Menschen diese Einheit erfahren. Sie erscheinen uns sozusagen sofort wie Verwandte und Nahestehende, näher und vertrauter als uns zuweilen sogar unsere eigenen Verwandten sind, die weniger eins im Denken und im Glauben mit uns stehen und mit denen uns nur die körperliche Verwandtschaft verbindet – es ist dies ein Abglanz der ursprünglichen, nach dem Sündenfall verloren gegangenen Einwesentlichkeit.
Dies empfanden wir einige Male sehr deutlich und klar bei der Begegnung oder dem Briefwechsel mit gläubigen Menschen aus der UdSSR, die nun schon 25 Jahre lang von uns getrennt sind, die ein ganz anderes Leben führen und die uns nichtsdestoweniger durch die kirchliche Konziliarität als so vollkommen nahe erscheinen.
Eine ähnliche, sehr bedeutsame Erfahrung machte ich 1938 in England auf der Studenten-Konferenz in Hayley. Unter den orthodoxen Teilnehmern waren Russen, Griechen, Serben, Bulgaren, Rumänen, Syrer – Menschen verschiedener Völker, Rassen, Kulturen und verschiedenen kulturellen Niveaus, die, was das außerkirchliche Leben anbetrifft, überhaupt nichts Gemeinsames miteinander hatten. Aber in Sachen des Glaubens, sofern sie auf dem Boden der Kirche blieben, waren sie vollkommen einmütig – und gerade diese Tatsache machte einen großen Eindruck auf die andersgläubigen Teilnehmer der Konferenz.
Leider blieben einige der offiziellen orthodoxen Konferenzteilnehmer nicht auf kirchlichem Boden und brachten deshalb Unstimmigkeit in unsere Mitte und schwächten den missionarisch so wichtigen Eindruck der vollen konziliaren Einheit unter den Orthodoxen. Um richtig über diese Einheit und über vieles andere zu urteilen, muß man immer bedenken, daß schließlich nicht die offizielle Zugehörigkeit zu der Kirche einen Menschen orthodox macht, sondern die Kirchlichkeit seines Denkens und Wollens.
Dabei gab es andere Konferenzteilnehmer, nämlich die Anglikaner, die ein und demselben Volk, ein und demselben kulturellen Milieu angehören und in ihren Neigungen und Gewohnheiten eine völlige Einheit darstellen; in Glaubenssachen waren sie jedoch tief gespalten, obwohl sie offiziell zu ein und derselben Kirche gehören.
Dabei wird die Einheit in der Orthodoxen Kirche nicht durch äußere Autorität, etwa ähnlich der päpstlichen Autorität in der römischen Kirche, sondern ausschließlich durch die innere Einheit des Lebens sichergestellt. Eben diese Einheit des Lebens macht die Konziliarität aus.
In den ersten Jahrhunderten des Christentums, als das kirchliche Leben sich der größten Konzentriertheit erfreute, als die Christen völlig und gänzlich in der Kirche lebten und sie außerhalb der Kirche keinerlei Interessen hatten, trat diese Konziliarität mit besonderer Kraft zu Tage. In den verschiedenen Randgebieten der damaligen christlichen Welt, in Spanien und Mesopotamien, in Mauretanien und Gallien, führten Christen, die sich nicht untereinander abgesprochen hatten, ein innerlich so vollkommen identisches Leben, daß Christen die aus Damaskus nach Massilia übersiedelten, sich in der kirchlichen Gemeinschaft des fremden Landes völlig zuhause fühlten.
Und alles, was sich ohne offizielle Versammlungen, ohne besondere Beschlüsse damals an äußerlich bunten, aber innerlich vollkommen einmütigen, verschiedenartigen christlichen Gesellschaften entwickelte, war der Ausdruck des Willens und des Lebens des in der Kirche wirkenden Heiligen Geistes.
In der Folge, als sich die Möglichkeit dazu auftat, manifestierte sich dieser Geist der Konziliarität, eine Funktion des Heiligen Geistes, auf der Versammlung der Bischöfe, welche die feierliche Bezeichnung “Ökumenische Konzilien” erhielten, und die kühn und im vollen Bewußtsein ihrer Berufung, verkündeten: “Es gefiel dem heiligen Geist und uns.”
Die Konziliarität ist keine allgemeine Unterordnung unter eine heutige oder frühchristliche Autorität, sie ist keine sklavische Unterwerfung unter Anordnungen darüber, was man zu glauben oder zu denken habe, sie ist keine detaillierte Erörterung von Fragen, wie man über dieses oder jenes im Altertum dachte. Der orthodoxe Christ glaubt und bekennt nicht so, wie es ihm dieser oder jener Patriarch oder Hierarch befiehlt, nicht so, wie es ihm dieser oder jener frühe Kirchenlehrer vorschreibt, sondern so wie es ihm sein Gewissen eingibt, sein in der Kirche lebendes Bewußtsein; aber dieses sein Gewissen, dieses sein Bewußtsein prüft er ständig an der Stimme der Orthodoxen Konzilien, der heiligen Väter und jener seiner Zeitgenossen, von denen er weiß, daß sie wirklich und echt in der Kirche leben. Und wenn er in seinem Gewissen und in seinem Bewußtsein eine Divergenz mit ihnen feststellt, dann beharrt er nicht hartnäckig auf seinem im Widerspruch zur Kirche stehenden Standpunkt wie ein Protestant, er ordnet sich aber auch nicht in sklavischer Weise nur äußerlich der autoritativen Stimme der Kirche des Konzils oder des Hierarchen unter, sondern er ist sich bewußt, daß, wenn sein Verständnis in Widerspruch zu der kirchlichen Lehrmeinung gerät, dies ein Zeichen dafür ist, daß in seinem Bewußtsein irgendein wesentlicher Fehler steckt, und nicht nur einfache Unterordnung nötig ist, sondern eine Besserung seiner gesamten geistlichen Haltung durch Reue und demütiges Gebet, solange bis er wieder die innerliche Einheit mit der Kirche erlangt. In der Konziliarität zu stehen, ist nicht einfach. Das fordert eine ständige Anspannung und großen Einsatz. Dazu, sowie in bezug auf das gesamte Leben in der Kirche, sagt Christus: “Das Himmelreich (d.h. die Kirche) wird mit Gewalt bestürmt und Gewaltsame (auf kirchenslavisch: die sich dazu Nötigenden) reißen es an sich” (Mt 11,12).
Aber die Kirche ist nicht nur eine, sondern sie ist die einzige, weil sie ein Haupt hat, Christus. Alles, was mit Ihm in Gemeinschaft steht, ist eins mit ihr, und wird folglich zu dem ihrigen.
Außerdem ist die in der Kirche verkörperte Wahrheit eine einzige. Wahrheiten kann es keine zwei oder mehrere geben. Wenn in wichtigen und präzisen Glaubensfragen zwei oder mehrere verschiedene Meinungen zum Ausdruck gebracht werden, dann kann die richtige nur eine sein, während alle anderen falsch sind. Und das bedeutet, daß die wahre Kirche nur eine sein kann.
Damit man uns nicht der Willkürlichkeit in der Lehre über die Kirche als des Leibes Christi und über die konziliare Einheit ihrer Glieder bezichtige, führen wir die Belehrung des Apostels Paulus zu diesem Thema an.
Der Apostel schreibt: “Gott hat unseren Herrn Jesus Christus zum Haupt über alles der Gemeinde gegeben, die sein Leib ist... Und euch, die ihr tot wart durch eure Übertretungen und Sünden, in denen ihr einst nach dem Gesetz dieser Welt gewandelt seid – unter dem Einfluß jenes Fürsten, der mächtig ist im unsichtbaren Bereiche, jenes Geistes, der jetzt noch in den Glaubenslosen wirksam ist... Und wir waren von Natur aus Kinder des Zornes wie alle übrigen... Gott aber, reich an Erbarmen, wie Er ist, hat in seiner großen Liebe, die er uns erwiesen... uns, die wir durch unsere Vergehen tot waren, mit Christus lebendig gemacht... Jetzt aber seid ihr, die einstmals Fernen, in Christus Jesus nahegekommen durch Christi Blut. Denn er ist unser Friede, Er hat die beiden Teile eins gemacht und die trennende Scheidewand, die Feindschaft, beseitigt: in seinem irdischen Leibe hat Er das Gesetz mit seinen fordernden Geboten außer Kraft gesetzt, um als Friedensstifter die beiden Teile in seiner Person zu dem einen neuen Menschen umzuschaffen und beide mit Gott in seinem einen Leibe zu versöhnen... Ja durch ihn haben wir Zutritt zum Vater, in einem Geiste. So seid ihr denn nicht mehr Fremde und Beisassen, sondern seid Vollbürger mit den Heiligen und seid Hausgenossen Gottes” (Eph 1,23 – 2,19).
“Und so gab Er die einen als Apostel, andere als Verkünder aus dem Antrieb des Geistes, wieder andere als Evangelisten, als Hirten und Lehrer, um die Heiligen für das Werk des Dienstes zu bereiten: zum Aufbau des Leibes Christi... bis wir alle durch wahre Liebe zu dem zurückkehren, der das Haupt ist, Christus... aus dem der ganze Leib zusammengefügt und zu fester Einheit verbunden durch jedes Glied, das dem Ganzen dient, gemäß der Kraft, die jedem einzelnen Teile zugemessen ist; und so wirkt Er das Wachstum des Leibes zu seinem Aufbau in der Liebe” (Eph 4, 11-16).
“Christus ist das Haupt seines Leibes, der Kirche” (Kol 1,18).
“Wie Christus das Haupt der Kirche ist” (Eph 5,23).
“Jetzt ergänze ich in meinem irdischen Leben, was an den Leiden Christi noch aussteht, zugunsten seines Leibes, der Kirche” (Kol 1,24).
“Denn wie wir an einem Leibe viele Glieder haben, doch nicht alle Glieder den gleichen Dienst versehen, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, und im Verhältnis zueinander Glieder” (Röm 12,4-5).
“Denn wie der Leib eine Einheit ist und doch viele Glieder hat, und wie alle Glieder des Leibes, obwohl eine Vielheit, den einen Leib bilden, so ist es auch mit Christus. Sind wir doch alle in einem Geiste zu einem Leib getauft, ob Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und alle sind wir mit einem Geiste getränkt. Auch der Leib besteht nicht aus einem Gliede, sondern aus vielen... und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied ausgezeichnet ist, so haben alle an seinem Wohlsein teil” (1 Kor 12,12-26).
Gerade ein solches Verständnis der Kirche bildete stets den Reichtum der gesamten orthodoxen Welt...
So ist die Kirche etwas vollkommen Neues, Besonderes und die einzige Vereinigung auf Erden, die sich einer präzisen Definition mit aus dem weltlichen Leben genommenen Begriffen entzieht.
Die Bezeichnung der Kirche als “Gesellschaft” ist sehr ungenau, weil eine irdische Gesellschaft aus Personen besteht, die fast gänzlich selbstbezogen sind, wie die Individuen unserer gefallenen Welt es eben im allgemeinen sind; sie unterliegt juristischen Gesetzen, die diese Selbstbezogenheit implizieren und durch sie bedingt sind, und die sich sogar noch über jene Reste von Konziliarität hinwegsetzen, die der Mehrheit der Menschen angeboren sind. Wir können uns einfach keine Gesellschaftsform vorstellen, die nicht auf einem Kodex von Rechten und Pflichten der Mitglieder beruht, sondern auf gegenseitigem Mitleiden und Mitgefühl oder auf der gegenseitigen Anteilnahme am Leben des anderen wie des eigenen.
Die Kirche ist aber durch und durch konziliar, und jeder Ersatz der konziliaren Beziehungen ihrer Glieder durch juristische führt zu Fall und Verlogenheit.
Man könnte die Kirche mit der Familie vergleichen, der einzigen Art von Gemeinschaft, die sich nicht auf juristischen, sondern auf natürlichen, wenn auch unvollständigen, konziliaren Grundlagen aufbaut. (Es wird davon ausgegangen, daß der Mann die Frau wie sich selber liebt, und ihr Leben als das seinige lebt sowie umgekehrt, und daß dieser Art auch die Beziehungen der Eltern zu den Kindern sind). Aber die Familie ist doch etwas zu spezifisch und begrenzt, obwohl sich die Heilige Schrift zur Klärung des Begriffes Kirche auch der Analogie mit der Familie bedient: kraft unseres Status als Kinder der Kirche rufen wir Gott mit “Unser Vater im Himmel” an; die Vereinigung des Christen mit Christus in Einwesentlichkeit ist wie eine Ehe der Seele mit dem Himmlischen Bräutigam; die Ehe des Lammes, u.ä.
Die beste Analogie vermittelt der vom Apostel Paulus angeführte Vergleich mit dem Leib. Aber der Gedanke des Apostels, der auf den Zweck des Leibes, d.h. der Kirche, nämlich “sein Zunehmen an Liebe” hinweist, verletzt schon das Bild des Leibes, der ja gar keine Liebe kennt. Dadurch wird wieder deutlich, daß der Begriff von der Kirche ein ausschließlicher, in irdischer Sprache nicht auszudrückender ist.
Aus allem oben Ausgeführten sehen wir, daß die Kirche das Ebenbild des Dreieinigen Seins ist, ein Idealbild, in dem viele Personen zu einer einzigen Existenz werden.
Warum ist uns ein solches Dasein, wie das der Trinität so unverständlich und so schwer in Worte zu fassen?
Weil in unserem natürlichen Bewußtsein die Persönlichkeit ein egozentrisches, jeglicher anderen Person völlig entgegengesetztes Wesen ist, und dies in einem solchen Maße, daß die Erörterung des grundlegenden Gegensatzes von “ich” und “nicht ich” zu dem Eckstein der europäischen Philosophie wurde (Descartes).
Dagegen schließt die sich in der Kirche entwickelnde Persönlichkeit die gesamte Konziliarität ein: Selbstentsagung und wahre Nächstenliebe, verbunden mit einem hohen Grad der Entwicklung des personalen Selbstbewußtseins. Als typischer Vertreter der Aneignung einer solchen konziliaren Haltung gilt der Typus der Heiligen in der Kirche – wir denken dabei an die Märtyrer, die Asketen, die heiligen Bischöfe... In allen diesen drei Typen, die den äußeren Gegebenheiten des Lebens nach in höchstem Grade voneinander verschieden waren, finden wir ein und dieselbe Harmonie zweier Prinzipien, die sonst mit der natürlichen, gefallenen Vernunft nicht vereinbar erscheinen.
All diese drei Typen sind Giganten des Willens mit einem sehr intensiven Bewußtsein ihrer eigenen Verantwortung, und gleichzeitig ist ihnen nicht nur jeder grobe, alltägliche Egoismus, sondern auch jegliche feine Überheblichkeit, jeglicher Anspruch auf persönliche Rechte völlig fremd.
Die christliche Wahrheit über die Kirche, als über eine konziliare Daseinsform ähnlich der der göttlichen Dreieinigkeit – nicht nur in der Idee, sondern auch in der Praxis – befreit den Menschen von dem natürlichen Widerspruch zwischen selbstbewußter Persönlichkeit und selbstverleugnender Liebe als Lebensprinzip. Eben deshalb ist das Dogma der Trinität ein grundlegendes Dogma des christlichen Glaubens, und die Eigenschaft der Konziliarität eine grundlegende Kategorie der Kirche.
Die Schaffung der Kirche als eines gottmenschlichen Organismus war die größte Tat der göttlichen Liebe, der Sieg Christi über den Teufel.
Die Listen des Fürsten der Finsternis wurden durch das Werk des größten göttlichen Erbarmens zerstört, was der Teufel in seinem Hochmut nicht erwartet hatte. Er, der stolze, mächtige Geist, die Morgenröte, der Erstling der Schöpfung, verachtete die Menschen, die geistigkörperlichen, hilflosen Geschöpfe; er konnte überhaupt nicht ahnen, daß der Sohn Gottes, der Schöpfer und Herr, mitherrschend mit dem Vater und dem Heiligen Geist, selbst einer der Menschen werden würde.
Doch das Reich der Finsternis wurde dadurch zerstört, die Hölle zerschlagen. Die Tore des Himmelreiches öffneten sich wieder weit für die Menschen, noch weiter als zuvor, und in breitem Strom strömten die Geretteten in das Reich der Freude, das ihnen “seit Anbeginn der Welt bereitet war” (Mt 25,34).
Aber der Feind Gottes und der Menschen wollte die Waffen nicht strecken. Da er sich beschämt sah durch die Schaffung der Kirche, konzentrierte er nun seinen ganzen Haß auf sie und bemühte sich zuerst, die Kirche physisch zu zerstören durch den direkten Angriff auf sie zu Zeiten der Christenverfolgungen, und als er sich von der Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen überzeugt sah, versuchte er sie von innen her, durch das Aufkommen von Häresien zu sprengen.
Aber die ersten Häresien erreichten ihr Ziel nicht. Bei der hohen Anspannung des kirchlichen Lebens, mit der fortschreitenden Entwicklung der Konziliarität und der ungeteilten Konzentration der frühen Christen in der Kirche wurden diese falschen Lehren von den Christen leicht als andersartige, fremde Elemente erkannt, die nicht allgemein gültig, d.h. nicht konziliar waren, und ihre Träger wurden daher aus der Kirche Christi ausgestoßen. So wurden die Gnostiker, Sabellianer, Doketisten ziemlich leicht entlarvt und widerlegt.
Aber mit dem Wachstum der Kirche in die Breite, mit dem Einströmen von immer neuen und neuen Menschenmassen erschlaffte die Fülle des Lebens in der Kirche und christlichen Gesellschaft, die Wachsamkeit ließ nach, die Feinfühligkeit stumpfte ab, und wir sehen, wie die Häresien des Arius, des Nestorius und der Monophysiten viele Millionen von Christen an sich ziehen.
Nichtsdestoweniger brachten auch diese Häresien dem Christentum noch keinen einschneidenden Schaden. Von irgendeinem Menschen oder einer Gruppe von Menschen, deren Auffassung über dieses oder jenes religiöse Problem mit dem konziliaren, katholischen Verständnis konfrontierte, ausgeklügelt, zogen diese Häresien eine größere oder kleinere Zahl von Anhängern mit sich – zuweilen auch, wie es beim Arianismus der Fall war, abgesehen von einigen geistigen Helden, fast die ganze offizielle christliche Welt. Aber die Menschen folgten den Neuerern nicht aus innerer Übereinstimmung, sondern entweder aus Furcht vor dem Zwang der weltlichen Macht oder einfach aus Denkfaulheit, weil das Durchhalten in der Orthodoxie eben immer heldenmütige Anstrengung erfordert.
Dann begannen, nach dem ursprünglichen Erfolg, die Häresien zu erschlaffen, und zwar nicht so sehr äußerlich als innerlich durch das Abnehmen der Rechtschaffenheit, den Verlust des Gefühles der Katholizität, d.h. der Konziliarität. Und wenn die Nachfolger dieser Häresien auch noch an manchen Orten vorhanden waren, so spielten sie doch bald nur noch eine regionale Rolle.
Trotz der Erschütterung durch die Häresien, des Mangels an Kirchlichkeit, hervorgerufen durch ein Hereinfluten in die Kirche von Leuten, die noch gestern Heiden waren, trotz einer gewissen Erkaltung des religiösen Eifers im Vergleich zu der Zeit der Verfolgungen, bot die christliche Welt in der Periode vor dem Beginn der Teilung in West- und Ostkirche, d.h. im 5., 6. und 7. Jh., ein verhältnismäßig klares und lichtes geistiges Bild.
Die Heiligenviten, das Leimonarium (Pratum spirituale), die Historia Lausiaca und andere Werke des Altertums berichten uns, wie sich damals im ganzen geographisch Raum, den der Horizont des europäischen Menschen umfaßte, die heilige Kirche Christi in die Breite und in die Tiefe wuchs. Millionen von Menschen rissen sich aus der Macht der Sünde los und wurden zu Gliedern des Leibes Christi. Trotz der Verschiedenheit der in die Kirche gekommenen Völker war das kirchliche Leben von Spanien bis Mesopotamien eines; und in diesem ganzen Raum lebten nicht etwa nur einzelne, sondern Tausende von Gerechten, so daß in jeder Ecke der christlichen Welt, jeder Mensch, der gänzlich Christus dienen wollte, ein wahres, gutes Vorbild für sich finden konnte.
Im 9. Jh. zeichnet sich zuerst der unheilvolle Riß zwischen Christen des Orients und des Okzidents ab, jener Riß, der in der Folge das bedauerliche Schisma nach sich zog, das nun schon jahrhundertelang von der ganzen christlichen Welt so schmerzlich empfunden wird. Wie kam diese Spaltung zustande?
Die dunkle diabolische Kraft baut ihre Verführung stets auf diesen oder jenen, im Grunde genommen nicht sündigen menschlichen Schwächen auf. Das gilt auch in bezug auf das ganze Volk oder die Gesellschaft und die ganze Menschheit. Klären wir dies anhand eines Beispieles: Der Mensch ist hungrig, was an sich noch keine Sünde ist, aber durch das Gefühl des Hungers fängt der Teufel den Menschen und zwingt ihn, seinem Bauch zu dienen. Diese Bauchdienerei ist nun bereits schon Sünde. Erinnern wir uns z.B. an den Vorgang der Versuchung Christi, des Erlösers, durch die Brote in der Wüste.
Die Trennung zwischen der Westlichen und der Östlichen Kirche wird oft durch einen psychologischen Unterschied zwischen Ost und West erklärt. Dieses Argument ist jedoch nur teilweise zutreffend. Der Unterschied selbst ist noch keine Sünde und noch kein zwingender Grund zum Schisma. Er bestand nämlich schon von Anfang an, und nichtsdestoweniger lebte die Kirche Christi ein einziges Leben. Die segensreiche Einheit der Kirche war fähig, alle verschiedenen Formen menschlicher Mentalität zu überdecken, so wie ein wasserreicher Fluß über alle Sandbänke und im Flußbett liegenden Felsen hinwegfließt. Dagegen sorgt die psychologische Mannigfaltigkeit der verschiedenen der Kirche angehörenden Menschengruppen für Reichtum und Vielseitigkeit kirchlicher Kultur.
Dennoch gab es in der Reihe der Ursachen, die die psychologische Differenz zwischen Orient und Okzident bedingten, eine, die bis zum Zeitpunkt der Trennung vielleicht noch keine Sünde, doch zumindest ein Mangel des Okzidents im Vergleich zum Orient war.
Der Orient und der Okzident empfingen von der heidnischen Antike ein verschiedenes kulturelles Erbe. Der Orient übernahm die hellenistische Philosophie, der Okzident das römische juristische Staatsdenken.
Doch der Osten schmolz die von ihm übernommene hellenistische Philosophie in eine christliche um. Versuche, die Früchte heidnischer Philosophie unmittelbar in das christliche Bewußtsein einzupflanzen, wie sie von Gnostikern, Sabellianern, Arianern und anderen Häretikern unternommen wurden, wies die Kirche kategorisch zurück, und die Philosophie begann ihren Platz im kirchlichen Bewußtsein des Ostens erst dann einzunehmen, als sie durch das ganze kirchliche Prisma gelaufen war.
Eine solche Entwicklung sehen wir im Westen nicht. Dort wurden die juristischen und staatlichen Vorstellungen des heidnischen Roms nicht vom Christentum umgeschmolzen. Im Westen sehen wir weder den Kampf um die Schaffung einer christlichen Weltanschauung, noch die Arbeit um die Umformung der römischen heidnischen Psychologie.
Solange die Einheit mit dem Orient noch bestand, war diese innere Inaktivität des Westens noch nichts Schlimmes, da der rechtgläubige Westen seine grundlegende christliche Weltanschauung einfach aus dem orthodoxen Osten schöpfte.
Dagegen erwies sich in der stürmischen Periode des Aufkommens der Häresien und des Kampfes mit ihnen der ruhige, in der Rechtgläubigkeit nicht wankende Westen als eine wertvolle Stütze für den Osten.
Für den Westen jedoch barg gerade diese Gelassenheit eine große Gefahr in sich. “Es muß auch Spaltungen in eurer Mitte geben, damit die Bewährten in eurer Mitte offenbar werden” (1 Kor 11,19), schreibt der Apostel Paulus.
Der Osten hat sich daran gewöhnt, daß die Orthodoxie von vielen Stürmen umtost wird, daß man für sie kämpfen muß, daß alle Christen, vom Hierarchen bis zum Laien, für sie Verantwortung tragen, während der Westen sich an den Gedanken gewöhnt hat, daß die Rechtgläubigkeit ihm ein für allemal geschenkt ist, und er einfach deshalb rechtgläubig ist, weil er der Westen ist.
Bote 1993-3
“Jetzt will ich von mir berichten, seinem Schüler, dem unwürdigen Zosima. Als ich noch im weltlichen Stand war und unseren gemeinsamen geistlichen Vater, den Einsiedlermönch Adrian zu besuchen pflegte (der später als Schemamönch im Simonov-Kloster wohnte), wurde dort unter den Brüdern viel von einem Starez Vasilisk gesprochen, daß dies ein gottgefälliger Starez sei, der sich mehr als alle anderen auf dem Wege des Heils abmühte, und daß er wegen seiner Sanftmut und seines Edelmuts von allen hoch geachtet werde. Mir rieten sie, falls ich ein Leben in der Einsamkeit führen wolle, mich niemand anderem als nur ihm anzuschließen. ‘Ausgezeichnet wäre es für dich - so sprachen sie - wenn er geruhte, dich bei sich aufzunehmen, oder dir zumindest gestatten würde, in seiner Nähe zu wohnen, unter seiner Führung und Aufsicht.’ Aber manche seien auch verzweifelt, denn viele hätten ihn bereits um diese Gunst ersucht, und er hätte ihrer Bitte nicht entsprochen und würde überhaupt niemand bei sich aufnehmen. Nachdem ich so viel Gutes über ihn gehört hatte, entbrannte ich noch mehr vor Eifer und Liebe zu ihm und entschied unverzüglich in meinem Herzen, mit niemand anderem als mit ihm zu leben.
Einmal, als ich bei ihm war, eröffnete er mir, daß sein Paß abgelaufen sei. Freudig versprach ich, ihm einen neuen zu besorgen; und so machte ich mich eigens seinetwegen im Frühjahr, im Schlammwetter auf den Weg; eine große Strecke mußte ich zu Fuß zurücklegen, denn wegen der Ungangbarkeit der Wege konnte man nicht die ganze Strecke reiten. Schließlich kehrte ich mit dem neuen Paß krank zu ihm zurück. Als er sah, daß ich von dieser beschwerlichen Reise erkrankt war, geruhte er mich, ob meiner treuherzigen Zuneigung zu ihm, bei sich aufzunehmen, nur riet er, ich solle mich zuerst etwas im Klosterleben versuchen und daran gewöhnen und erst dann zu ihm kommen.
Als er nach Ablauf eines weiteren Jahres niemand hatte, der ihm einen neuen Paß hätte besorgen können, begab er sich selber in sein Heimatdorf. Als er zu seinen Brüdern kam, wollte er vermeiden, daß die Leute etwas von seiner Anwesenheit erfahren. Daher zeigte er sich keinem, lebte bei einem Bruder in einer unbewohnten Zelle und ging überhaupt nicht aus; er wartete geduldig, bis sein Bruder etwas unternehmen würde, um ihm den Paß in einen ständigen umzuschreiben; doch hatte er kaum Hoffnung, einen solchen je zu bekommen, so sehr achtete er sich für niedrig, nichtswürdig und nichtswissend. Er war auch nicht keck genug, um irgendeine einflußreiche Person zu bitten, ihm eine lebenslange Freizügigkeit zu erwirken.
Einige Zeit danach verschwand der Sohn des städtischen Kaufmanns spurlos; auf Bitte des Kaufmanns befahl der Polizeimeister, alle Häuser zu durchsuchen, ob er sich nicht irgendwo verberge. Die Fahnder durchsuchten auch das Haus des Kozma, des Bruders des Starzen, und als sie meinen Starez Vasilisk fanden, der dort in einem getrennten Zimmerchen saß, dachten sie, daß dies der Sohn des Kaufmanns sei oder sonst irgendein Entlaufener; sie nahmen ihn in Polizeigewahrsam; als er ihnen erzählte, daß er selber aus den bäuerlichen Kreisen dieser Stadt Kaljazin stammt, wollten sie keinem seiner Worte glauben und sandten ihn ins Landständegericht zum Kreisrichter, und dort legten sie ihn wie einem Ausreißer in Fesseln. Obwohl der Starez körperlich bereits siech war, dankte er doch in seinem Herzen Gott, daß er ihm dieses Joch auferlegt hatte. Als sie ihn ins Gericht vor den Kreisrichter brachten, glaubte dieser den Worten des Starez nicht und befahl, ihn mit Ruten auszupeitschen. Da begann der Starez, flehentlich zu rufen; er bat jedoch nicht den Kreisrichter um Gnade, sondern rief Gott den Herrn mit herzzerreißenden Worten an, so daß alle um ihn Stehenden zu Mitleid gerührt wurden. Als der Kreisrichter merkte, daß der Starez unschuldigerweise gedemütigt wurde, rief er unverzüglich den Amtmann und den Dorfältesten und sprach zu ihnen: “Warum hält man solch einen Menschen, der nur Gott dienen will, fest und gibt ihm nicht die Befreiung aus der Dorfgemeinschaft?” Und er befahl, ihm unverzüglich die dauernde Freizügigkeit zu bescheinigen und sprach: “Wenn seine Sippe es nicht übernimmt, die Abgaben für ihn zu entrichten, dann werde ich es für ihn tun”. Dann gaben sie ihm den Freistellungsbescheid, den der Kreisrichter selbst bescheinigte; außerdem gab er ihm Wegzehrung mit, bat ihn um Verzeihung, daß er ihn unwissentlicherweise derartig gezüchtigt hatte und trug ihm auf, für ihn zu Gott zu beten. Ebenso dankte Starez Vasilisk dem Kreisrichter aus ganzem Herzen für die ihm erwiesene Wohltat und versprach, für ihn zu beten. Nachdem der Starez also die Entlassung aus der Dorfgemeinschaft bekommen hatte, blieb er nicht mehr lange bei seinen Brüdern, denn die vielen Besucher fielen ihm zur Last und kehrte eilends in seine Waldeseinsamkeit zurück, indem er Gott lobte und pries; er war zutiefst erstaunt über Seine Vorsehung, die Leid so schnell in Freude verwandelt hatte. Als er seine Einsiedelei wieder gewonnen hatte, setzte er dort sein friedvolles Leben fort: Er beschäftigte sich nur wenig mit Handarbeit und verbrachte sonst die meiste Zeit mit dem Studium der heiligen Bücher, indem er daraus Stellen herausschrieb, die seinem Herzen besonders zusprachen. Seine Gebetsrezitationen nahmen kein Ende: Außer den Kanons und den Verbeugungen las er an die zehn Kathismen, aber er hudelte dabei keineswegs, so daß ihm im Laufe von 24 Stunden kaum 3 Stunden für sein Handwerk übrigblieben. Er sprach zu sich selbst: “Jetzt gibt es keine Entschuldigung für dich, wenn du nicht zu Gott betest, denn die Freiheit wurde dir nicht für die Arbeit, sondern fürs Gebet geschenkt”. Dafür liebte ihn auch der Gutsherr, auf dessen Waldbesitz er lebte, und alle, die ihn sonst kannten; er selbst entfernte sich niemals aus seiner Einsiedelei, um nichts bat er und übte sich stets in Geduld, seine Hoffnung allein auf den Herrn setzend.
Damals begab ich mich mit seinem Segen in das Kloster Konevetz der Sankt Petersburger Eparchie, und dort trat ich in den Gehorsamsdienst unseres bereits erwähnten geistlichen Vaters Adrian, des ehemaligen Eremiten, der bald von dem Metropoliten Gabriel zum Superior dieses Klosters beordert wurde. Vater Adrian gewann mich bald sehr lieb wegen meines ungeschmeichelten Gehorsams ihm gegenüber. Aber dennoch verlangte es mich immer mehr nach einem Leben in völliger Abgeschiedenheit, insbesondere zusammen mit dem Starez Vasilisk: oftmals bat ich Vater Adrian, er möge mich doch zu ihm ziehen lassen. Aber dieser überredete mich stets, auszuharren und versprach, wir würden bald zu einer Spendensammlung dorthin aufbrechen, um Mittel für unseren Unterhalt zu sammeln, dann würden wir Starenz Vasilisk mit uns hierher bringen, und ich könnte dann mit ihm zusammen hier in der Nähe wohnen.
So begaben wir uns nach etwa einem Jahr in jene Gegend und besuchten alle dortigen Einsiedler. Als wir bei Starez Vasilisk ankamen, drängte ihn Vater Adrian, doch zu uns ins Konevetz Kloster überzusiedeln, und malte ihm aus, daß er dort ein sorgloseres Leben führen könne, als hier in der Einöde, wo er allerlei Versuchungen und Entbehrungen ausgesetzt sei, und außerdem sei es Gott gefälliger, wenn er in der Nähe seines geistlichen Vaters wohnen würde. Er versprach ihm, falls er dies wünsche, in einiger Entfernung vom Kloster in der Einsamkeit des Waldes für uns beide Zellen zu bauen; er würde mich ihm übergeben, daß ich für immer bei ihm in der Einsiedelei bliebe, und alles zum Leben Notwendige würden wir vom Kloster bekommen; nur an Festtagen würden wir auf unseren Wunsch hin zur Nachtwache ins Kloster kommen und nach Beendigung der Liturgie gleich wieder in unsere Abgeschiedenheit zurückkehren; wenn wir ins Kloster kämen, hätten wir so Gelegenheit, die Unterweisungen geistlich gelehrter Starzen zu hören. Und mit vielen ähnlichen Versprechungen suchte er Vasilisk zu überreden, doch dieser wollte einfach nicht zustimmen und meinte, er sei hier vollkommen versorgt, mit allem zufrieden und hätte, wenn auch nicht in unmittelbarer Nähe, Einsiedler-Nachbarn, die ihn sehr liebten und bereit seien, ihm in allem beizustehen; besonders deshalb wolle er seinen Einsiedlerort nicht verlassen, weil ihn hier niemand hindere oder belästige und er hier keine direkten Nachbarn hätte. Als Vater Adrian seine Unnachgiebigkeit sah, sprach er zu ihm: wenn du mir nicht gehorchst, dann wirst du fortan nicht mehr mein geistlicher Sohn sein, ich nehme dich nicht mehr geistig auf mich, und deine Sünden werden gebunden durch mich, weil du deinem geistlichen Vater ungehorsam warst (er hatte ihn selber in die Mantija eingekleidet). Da brach Starez Vasilisk in Tränen aus und versprach schließlich, mit ihm zu kommen. Wir freuten uns alle, als wir seine Zusage hörten, aber da Vater Adrian noch einige Wohltäter aufsuchen wollte, verließen wir vorerst Vasilisk, damit er Vorbereitungen zur Abreise treffen könne. Als er meine aufrichtige Zuneigung zu ihm und Bereitschaft, in seiner Nähe zu wohnen, sah, stimmte der Starez willig zu, daß ich mich unter seiner Obhut im Einsiedlerleben üben sollte und er zeigte sich erfreut über diese meine Gewogenheit für ihn. Später gestand er mir selbst, daß er oftmals zu Gott gebetet hatte, ihm einen gleichgesinnten Bruder zur Gesellschaft zu senden, denn viel Kummer und Unangenehmes, allerlei Versuchungen hätte er erduldet und viel Unerwartetes sei ihm begegnet, als er so alleine hauste; so wußte er aus eigener Erfahrung, wie wichtig ein gleichgesinnter geistiger Bruder ist, mit dem man sich über alles, was einem widerfährt, beraten kann, mit dem man Zeiten unerträglicher Langweile teilen und zweifelhafte Gedanken erörtern kann. Als der Starez also sah, wie sehr ich ihm zutan war, da wollte er mir keine Absage erteilen, denn er dachte, daß ich vielleicht durch die göttliche Vorsehung zu seinem Gefährten bestimmt war.
Und so begab ich mich zu ihm, um ihn abzuholen, gemäß seiner Zusage, daß er zu uns ziehen würde. Zu dieser Zeit war der Gutsherr, in dessen Besitztum der Starez sich aufhielt, gerade abwesend; und das war für uns ein klares Zeichen, daß unser Vorhaben gottgefällig war, und wir uns beeilen sollten mit der Abreise, denn der Gutsbesitzer hätte niemals zugestimmt, den Starez ziehen zu lassen und sich von ihm zu trennen. Er selbst hatte gedroht, er würde den Starez in seine Gemächer zu sich holen, und zwar so lange bis ich abgereist wäre. So sehr liebte er den Starez, daß er, als er bei seiner Rückkehr hörte, daß der Starez weggezogen war, entsetzlich betrübt war seinetwegen und viel weinte und trauerte, daß er solch eines edlen Mannes beraubt worden war. Aber nicht nur der ihm Unterhalt gewährende Gutsherr grämte sich seinetwegen, sondern alle benachbarten Bojaren beklagten seinen Weggang. Was für eine Verabschiedung wurde ihm nicht zuteil von all den Eremiten, die nicht nur schluchzten ob seines Wegganges, sondern sogar untröstlich weinten, so daß jeder, der es hörte, zu Mitleid gerührt wurde; während der ganzen Zeit seiner Abreisevorbereitungen machten alle Mönche und der Starez selber, der nun sah, wie ungeheuer sie ihn liebten, ein betrübtes Gesicht und gingen mit hängendem Kopf einher, als ob sie alle ein großes, unvermeidliches Unglück ereilte - so großen Kummer bereitete ihnen die Trennung von ihm! Als sie ihn zum letztenmal küßten und ihm das Abschiedsgeleit geben wollten, da hielten es manche nicht aus und brachen in lautes Weinen aus, so daß ihr Schluchzen sich über die ganze Eremitensiedlung ausbreitete: es war, also ob der Ort selbst seine Verwaisung beweinte, und die im Winde sich wiegenden Bäume verneigten sich gleichsam vor ihm, und das Säuseln der Bäume im Winde glich einem Stöhnen: Alles kam einem so entsetzlich traurig vor. Die ihn begleitetenden Brüder riefen: “Ach, nun werden wir unseren geistlichen Freund nicht mehr sehen! An wen sollen wir uns ohne ihn wenden, wem sollen wir unsere Geheimnisse anvertrauen; wer wird uns fortan guten Rat erteilen? Es ist uns klar, daß wir deiner Gesellschaft nicht würdig sind!” Diese und ähnliche Worte richteten sie an ihn, indem sie unwillkürlich Tränen vergossen; sie baten, daß er wenigstens ihrer Liebe gedenken und sie in seinen Gebeten nicht vergessen möge. Und so konnten sie sich kaum von ihm trennen, nachdem sie ihn noch ein großes Wegstück begleitet hatten. Wir hatten uns schon aus ihrer Sicht entfernt, als wir immer noch ihr Weinen und Klagen in der Ferne vernahmen.
Aber so wie dort, an seinem früheren Wohnort die zurückgebliebenden Brüder ihn weinend und voller Traurigkeit begleiteten, wurde er bei unserer Ankunft bei Vater Adrian von allen Mitbrüdern mit unaussprechlicher Freude begrüßt. Und ich freute mich am allermeisten, daß ich so einen gottesfürchtigen Vater bekam, den ich von Herzen liebte, und der mir ebensolche Liebe entgegenbrachte; er vertraute mir wahrhaftig an, daß er seinen einsamen Wohnort und seine Mitbrüder, die ihn so sehr liebten und so sehr über die Trennung von ihm trauerten, nicht verlassen hätte, wäre ich nicht gewesen. Es hätte sonst keinen vernünftigen Grund gegeben, ein so friedvolles Leben vollkommener Schweigsamkeit aufzugeben, und nur meine Zuneigung zu ihm hätte ihn dazu bewogen. Von jenem Augenblick an ließ ich jeden Zweifel fahren und nahm mir in meinem Herzen vor, bis zum Tode bei ihm zu bleiben und in seinen Gehorsamdienst zu treten: dafür daß er mir so wohl gesonnen war und es ihm zu leid getan hätte, mich ob meiner Jugend im Stiche zu lassen und mich der Gefahr auszusetzen, daß ich von irgendeinem nicht in Gott wandelnden Bruder vom rechten Weg abgebracht werden könnte; denn damals, als Vater Adrian ihm ins Gewissen redete, sagte er ihm auch, daß er für meine Seele Rede stehen müsse, wenn er mich nicht in seine Obhut nehme. Von jener Zeit an wurde ich zu seinem ständigen, unzertrennlichen Begleiter und betrachtete mich als seinen Schüler, obwohl er mich nicht offiziell als Schüler oder geistlichen Sohn annahm, denn aus seiner großen Demut heraus pflegte er zu sagen: “Auch noch andere retten und unterweisen, das ist zu viel für mich Unwissenden”. Doch ich selbst sah, wie alle Brüder mit Liebe an ihm hingen, und ich achtete ihn immer als einen mir von Gott geschenkten Vater, ich ehrte ihn wie einen guten Lehrer, liebte ihn wie einen geistlichen Freund, erwies ihm Ehrfurcht wie einem wahren Mönch, und horchte stets auf seine Ratschläge und Wünsche; er war so ruhig, umgängig und gutherzig, daß er unwillkürlich meine Seele an sich zog; derart dürstete ich immer nach seiner Gegenwart, daß ich mich nie genug an ihr sättigen konnte, wie mein Herz es begehrte; dieses Verlangen war so grenzenlos, daß es mir kaum stillbar vorkam, obwohl ich doch Tag und Nacht bei ihm war. Alle Worte und Taten des Starez waren für mich süß und willkommen. Niemals sah ich ihn von Zorn entbrannt. Und wenn es notwendig war, Mißfallen oder Ärger zu bekunden, so tat er dies gänzlich ohne innere Erregung. Speise nahm er völlig leidenschaftslos zu sich, zumeist einfache, getrocknete oder hart gewordene; meistens waren es irgendwelche wildgewachsenen Kräuter, Früchte und Beeren des Waldes, wie sie ihm eben in den Weg kamen. Wenn ihm irgendwo süße Speise angeboten wurde, so nahm er nur wenig davon, und auch das nur, wenn es unumgänglich war, etwa anläßlich eines Festes, wenn er von Mitessenden dazu aufgefordert wurde oder zur Genugtuung des Gastgebers. Mit einem Wort, er hielt nur etwas von spärlichem, nicht kostbaren und leicht zu gewinnenden Essen. In all den 40 Jahren, die ich bei ihm war, wollte er keine Kopeke bei sich haben, um so mehr weigerte er sich, Silberlinge zu erwerben und aufzusparen. Nichts von dem, was er bei sich hatte, war ihm zu schade für Bittende. Jedem Menschen, besonders jedem Rechtgläubigen begegnete er mit aufrichtiger Liebe, allen bemühte er sich, gefällig zu sein. Und für einen heilbringenden Zweck, um Gott zu gefallen, war er bereit für jeden alles herzugeben; von denjenigen jedoch, die gegen das Mönchstum waren, nahm er Abstand, und von jenen, die nicht in Einmütigkeit standen mit unserer heiligen Ostkirche, kehrte er sich ab. Jede Nacht - so sah ich es - stand er auf und betete insgeheim für sich alleine. Niemals sah ich ihn müßig dasitzen: entweder war er mit einer Handarbeit beschäftigt oder las er ein Buch oder führte er geistliche Gespräche. Kam es vor, daß er aus Unvorsichtigkeit irgendeinem Bruder zum Ärgernis geworden war, so setzte er alles daran, um sich mit dem Bruder zu versöhnen, und stets kam er ihm mit der Bitte um Verzeihung zuvor. Er kam allen so sehr entgegen, daß er, obwohl er zuweilen selber an großer Schwäche litt, sich dennoch gewaltsam gesund stellte und so tat, als sei er erfreut über den Besucher und sich so lange mit ihm abgab, bis dieser von selber wegging. Als ich ein solches Verhalten bei ihm wahrnahm, war sich höchst erfreut und erachtete es als ein großes Glück, daß ich mit ihm begegnet war.
Nach unserer Ankunft im Kloster Konevetz segnete uns Vater Adrian zu unserem Vorhaben, und wir lebten daraufhin zehn Jahre lang in der Einsamkeit, etwa 3 Werst vom Kloster entfernt, wie darüber in einem in Sankt Petersburg gedruckten Büchlein namens “Historischer Abriß des Konevetz Klosters” berichtet wird. Als Vater Adrian die Vorsteherschaft niederlegte (im Jahre 1800), hatte er vor, sich nach Moskau zu begeben, um dort seinem Gelübde gemäß im Simonov-Kloster das große Schema anzulegen; bei seiner Abfahrt aus dem Kloster Konevetz segnete uns Vater Adrian und riet uns, unser Einsiedlerleben in Sibirien fortzusetzen, was wir denn auch taten.”
Nach einem langen Leben der Askese entschlief Starez Vasilisk in Sibirien im Alter von 80 Jahren. Im Jungfrauenkloster des Hl. Nikolaus in der Stadt Turinsk, Gouvernement Tobolsk, das von eben diesem Zosima gegründet worden war, wurde er in der Nähe des Altars begraben. Der Tod ereilte ihn um 5 Uhr morgens am 29. Dezember 1824.
Nach dem Tod Vasilisks hatte Starez Zosima viele Verfolgungen zu erdulden, worauf er zusammen mit seinen Schülern nach Moskau übersiedelte; in der Umgebung Moskaus gründete er daraufhin 1826 im Landkreis von Vereisk die Gemeinschaft der Hodigitria, wo er am 21. Oktober 1833 in vorgerücktem Alter starb und in der Kirche eben dieses Klosters begraben wurde. Nach Motiven von Erzählungen aus dem Leben seines Lehrmeisters, des Starez Vasilisk, hinterließ Starez Zosima, der ein schriftstellerisches Talent besaß, seinen Schülern ein anonymes Manuskript “Aufrichtige Erzählungen eines Pilgers seinem geistlichen Vater”. Von letzteren wurde es später in die Optina Einsiedelei gebracht und gelangte in der Folge zu großer Berühmtheit.
Fortsetzung folgt