am Tag der Ermordung der Zarenfamilie, dem 4./17. Juli

Bote 1994-4
Predigt von Erzbischof Mark
am Tag der Ermordung der Zarenfamilie, dem 4./17. Juli 1994, in der Kathedralkirche in München

Liebe Brüder und Schwestern!
Heute gedenken wir in dieser neuerbauten Kirche der Heiligen Zaren-Märtyrer und ihres Werkes - eines Werkes äußerster Liebe, deren Beispiel sie der Welt haben aufleuchten lassen. Die Märtyrer-Zarin war eine deutsche Prinzessin, weshalb wir ihr hier besonders verbunden sind. Sie nahm den heiligen orthodoxen Glauben aus innerer Herzensüberzeugung an und bemühte sich, der Kirche nach ihren Möglichkeiten und Kräften zu dienen. Liebe zu Gott und Rußland lenkte das Leben der Hll. Zaren-Märtyrer in all ihren Werken und Gedanken.
Die Einheit Rußlands als eines orthodoxen Kaiserreiches war begründet und wurde bewahrt durch die Einheit der Kirche. Als sich die Menschen von der Kirche entfernten, zerfiel auch die Einheit des Reiches. Heute nun wird auch die kirchliche Einheit gesprengt, wie wir das in den verschiedenen neuentstandenen Staaten sehen. Wenn wir aber hier und heute um die Einheit des Staates und die Einheit der Kirche besorgt sind, so müssen wir uns zunächst darum bemühen, Einheit in unser persönliches Leben einziehen zu lassen, in unsere Familie, unsere Gemeinde, unsere Gesellschaft. Der Märtyrer- Zar stellte mit seiner Familie ein deutliches Symbol solcher Einheit dar. Sie alle waren wirklich fromm. Die innere Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit ihrer Frömmigkeit wurden in den furchtbaren Prüfungen offfenbar, die der Herr der Zaren-Familie schickte. Äußerlich aber zeigte sich diese Frömmigkeit nicht zuletzt in der Errichtung von Gotteshäusern. So ist auch hier, in unserem Land, mit dem Namen des Märtyrer-Zaren Nikolaus II. der Bau der Kirche in Darmstadt und der Kauf der Kirche in Wiesbaden verbunden. (Anm. S. 2)
Heute ist wahre Frömmigkeit zu einer Seltenheit degradiert. Davon sprach bereits der Hl. Tichon von Zadonsk: “Es ist zu fürchten, daß das Christentum, welches Leben ist, Mysterium und Geist, sich unbemerkt aus der menschlichen Gesellschaft verflüchtigt, welche diese unschätzbare Gabe Gottes nicht zu hüten versteht”.
Wir bemerken diese Verflüchtigung nicht, solange wir selbst in Eitelkeit leben und dieser Welt dienen. Nur diejenigen, die auf ihre innere Stimme hören, bemerken diesen “unbemerkbaren” Fall. Ihnen bleibt es überlassen wie denen “die in Judäa weilen”, “in die Berge zu fliehen” (Mt. 24, 16; Lk. 21,21)... Eine solche Flucht vor der Eitelkeit der Welt “in die Berge” unternahm der Märtyrer-Zar durch seinen Thronverzicht.
Denen, die in der Welt leben und an weltliche Sorgen gebunden sind, mag eine solche Flucht als ein Zeichen von Feigheit erscheinen. Tatsächlich aber ist sie ein Ausdruck höchsten Mutes, denn sie stellt den ersten und entschiedensten Schritt auf das Schlachtfeld dar, auf die Arena des geistlichen Kampfes. Die Briefe des Märtyrer-Zaren aus der Haft in Jekaterinburg zeugen davon, daß er keinen Moment den Verlust der irdischen Herrschaft bedauerte, da er völlig dem Himmelreich zugewandt war. Doch das Schicksal des heiß geliebten irdischen Vaterlandes hörte nicht auf, den Zaren bis zum letzten Tag seines Lebens zu beschäftigen. An diesem Werk der Liebe hatte seine ganze Familie anteil. Verrat und Haß entledigten sie der Zarenkronen - die Heldentat der Liebe des Evangeliums aber verlieh ihnen Märtyrerkränze.
Viele russische Asketen des 18. und 19. Jahrhunderts sagten das künftige Elend voraus - “nur die besondere Barmherzigkeit Gottes kann es auf einige Zeit aufhalten” - sagte der Hl. Bischof Ignatij Brja¡caninov. Wie viele andere auch sagte er die herannahende Katastrophe in einer Zeit vollkommenen Wohlergehens der Kirche und des Staates voraus.
Vor der eigentlichen Katastrophe erleuchtete das Licht Christi noch einmal ganz hell das russische Land. Aus solchen Klöstern wie Optina Einsiedelei verbreitete es sich in die Welt, die es mit dem Licht christlicher tätiger Askese erleuchtete und heiligte. Mönche und ein Teil der gebildeten Gesellschaft nahmen sich des Studiums und der Veröffentlichung der Werke der Heiligen Väter und ihrer Verwirklichung im Leben an. Nicht nur Menschen im Mönchsstand, sondern auch viele Laien ließen die Werke der alten Wüstenväter aus Ägypten, der Thebais und Palästina zu wegweisenden Belehrungen für ihr eigenes Leben werden. Im Geist eines solchen neugefundenen Christentums nimmt der Märtyrer-Zar lebendigen Anteil an der Verherrlichung des Hl. Seraphim von Sarov.
Inmitten dieses ungeahnten Aufschwungs ereilt die Russische Kirche und das russische Volk an der Spitze mit dem Märtyrer-Zaren nie dagewesenes Leid. Es beginnt die Zeit des Martyriums und Bekennertums. Und auf die Seele des russischen Volkes fällt das furchtbare Verbrechen - der Zarenmord. Dieses Verbrechen und seine Folgen können wir alle, als Kinder der Russischen Kirche, nur durch tiefe und aufrichtige Buße überwinden.
Im Geiste der Buße nahm der Märtyrer-Zar sein Schicksal wie aus den Händen Gottes entgegen. In Buße und durch Reue wird das innere Gotteshaus erbaut. Leider verbauten sich die Menschen in vergangenen Jahrhunderten häufig beim äußeren Kirchenbau den Weg zum inneren, oder sie vergaßen ihn einfach, da sie sich von irdischen Sorgen gefangennehmen ließen. So gewinnt auch heute in Rußland das Äußere die Oberhand über dem Inneren, dem Ritus wird höhere Bedeutung beigemessen als der Kirche Selbst.
Hier kann ich mit Freude sagen, daß diejenigen unserer Gemeindemitglieder, die am tätigsten beim Bau unserer neuen Kathedrale teilgenommen haben und teilnehmen, sich auch am eifrigsten um den Bau ihres inneren Gotteshauses mühen - in erster Linie durch unaufhörliche und aufrichtige Buße.
Der Gottessohn “wurde arm”, indem Er Seinen Himmlischen Thron verließ und zum Menschensohn wurde. Er wurde zu unserem Bruder, um unsere Sünden auf Sich zu nehmen - die Sünden derer, die Ihn verrieten, bespieen, ohrfeigten, kreuzigten.
Das Bild Christi ist im Alten Testament in der Person Hiobs des Vielduldenden gegeben. Am Tag des Gedächtnisses dieses alttestamentlichen Gerechten wurde der ihm geistlich verwandte Märtyrer-Zar geboren. Hiob duldete die Vorwürfe seiner engsten Freunde. Der Märtyrer-Zar Nikolaus erduldete nicht nur Vorwürfe von seiner gesamten Umgebung - er mußte “Verrat, Feigheit und Betrug” derer erleben, die ihm noch vor kurzem Treue geschworen hatten.
Wenn wir heute das Gedächtnis der Heiligen Märtyrer-Zaren begehen und die Sünde beweinen, die auf dem russischen Volk lastet, so erinnern wir uns hoffnungsvoll der Worte des unlängst verherrlichten neuen russischen Heiligen, des Erzbischofs Johannes von Shanghai und San Francisco:
“Für die sündigen Freunde Hiobs konnte nur der gerechte Hiob selbst zu Gott beten, und für das sündige und jetzt leidende Rußland ist heute das Gebet der Märtyrer-Zaren vonnöten und kräftig”.
Amen.