Die Russische Auslandskirche in den Jahren des “Zweiten Bürgerkrieges”.
Es versteht sich, daß die Kirche neben der Betreuung der Zivilbevölkerung und der “Ostarbeiter” auch der gegen den Willen Hitlers gebildeten Russischen Befreiungsbewegung ihre Fürsorge nicht versagen konnte. Dazu zeigte sich auch bei Leuten, die noch vor kurzem sowjetisch waren, großes Interesse für die Emigranten. Nach den Worten Kromiadis gab Vlasov der ersten Emigration “große Bedeutung. In dem bevorstehenden antikommunistischen Kampf wies er ihr einen Platz als Trägerin der alten Traditionen des russischen Volkes und seiner von den Kommunisten mit Füßen getretenen moralischen Werte, kulturellen und religiösen Ideen zu. In seinen Vorstellungen sollte die alte Emigration als Verbindungsglied zwischen dem vergangenen historischen Rußland und dem jetzigen dienen. Darüber hinaus bedeutete die Einbeziehung der alten Emigration in den Kampf gegen die Bolschewiken zusammen mit der neuen die Ausnutzung all unserer Möglichkeiten, denn praktisch ergänzten sich im großen und ganzen beide Emigrationen wechselseitig”1.
Gewiß entstanden wegen des weltanschaulichen Unterschiedes oftmals Reibungen zwischen der alten und der neuen Emigration. “Der Antibolschewismus der Emigration ist prinzipieller und ideeller”, die Emigranten verstanden sehr gut, wie die ganze Pyramide der kommunistischen Macht funktioniert, während die “unter dem Sowjetregime stehenden Leute, die selber ein Bestandteil dieser Pyramide waren, ihre Struktur nicht so genau sehen konnten, wie dies von der Seite aus sichtbar war.... Sie bestritten selten das System im ganzen”2, – wie dies A. Kazancev beschrieb. Charakteristisch ist auch in dem Prager Manifest von Vlasov die Erwähnung “der Rechte, die ... in der Volksrevolution von 1917 erkämpft wurden” nach “dem Sturze des Zarentums”: konnte dies nicht wie eine tatsächliche Errungenschaft in den Augen der rechten Emigration aussehen? Bezeichnend ist die vorsichtige Haltung der Generäle des ROVS (Militärunion zur Befreiung Rußlands) zu dem Manifest: Biskupskij (“er ist ein Monarchist und kann daher nichts sagen”) und von Lampe (“er ist verpflichtet, zuerst den Chef der Union, General Archangelskij, über den Text zu informieren”)3. Das war eine der Hauptursachen, warum einige alte Emigranten, größtenteils Monarchisten (insbesondere General Krasnov), den “roten General” Vlasov nicht als Führer der ganzen Bewegung anerkannten.
Schließlich drängte das Vorhandensein eines konkreten Feindes derartige Mißverständnisse in Militärkreisen in den Hintergrund. Umso mehr als die Generäle Truchin, Meantrov und Vlasov selbst von Kindheit an gläublig waren; Vlasov besuchte vor der Revolution das Geistliche Seminar und fand daher sofort gemeinsame Sprache mit Metropolit Anastasij, der ihm seinen Segen für sein Vorhaben erteilte. Das Haupthindernis für die Aufstellung der russischen Befreiungsarmee waren nicht interne Meinungsverschiedenheiten, sondern das Verbot Hitlers, der nicht grundlos fürchtete, daß die ROA (Russische Befreiungsarmee) der deutschen Kontrolle entgleiten könne. (Damit hatte er recht: die wichtigste militärische Aktion der ROA war die Befreiung Prags von der Hitler-Herrschaft).
Hitler stimmte der Aufstellung der ROA erst in auswegsloser Situation zu, als der Krieg bereits im wesentlichen verloren war und es kein russisches Territorium mehr gab, auf das die Bewegung sich hätte stützen können. Am 14. November 1944 wurde in Prag das Komittee für die Befreiung der Völker Rußlands (KONR) mit dem Status einer unabhängigen russischen Regierung proklamiert. Vlasov wählte dazu speziell eine slawische Hauptstadt aus, wohin sich alle in einem Tag mit einem Sonderzug begeben konnten. Dieser feierliche Akt fand im Einklang mit der internationalen Etikette statt: es waren die diplomatischen Vertreter der mit Deutschland verbündeten Länder anwesend und ausländische Korrespondenten. Die Gründung des KONR wurde von der Geistlichkeit der Russischen Auslandskirche begrüßt; ihr Ersthierarch Metropolit Anastasij und Metropolit Serafim (Lade) waren bei der zweiten Zeremonie, der Verkündigung des Manifests des KONR (speziell für die russische Emigration) am 18. November in Berlin anwesend, und von den Geistlichen hielt Vater Alexander Kiselev eine Ansprache.
In dem Manifest hieß es, daß das “Komittee zur Befreiung der Völker Rußlands die Hilfe Deutschlands unter Bedingungen, welche die Ehre und die Unabhängigkeit unserer Heimat nicht verletzen, begrüßt. Diese Hilfe biete sich nun als die einzige reale Möglichkeit, einen bewaffneten Kampf gegen die stalinistische Clique zu organisieren”. Im Januar 1945 schloß das KONR mit Unterschrift Vlasovs ein Abkommen mit der deutschen Regierung über die Zuverfügungstellung von Waffen und Ausrüstung in Form von Krediten, welche das KONR sich in Zukunft zurückzuzahlen verpflichtete. Erst danach begann die Aufstellung von zwei Vlasovschen Divisionen. Das deutsche Außenministerium betrachtete das Abkommen mit dem KONR als einen außenpolitischen Akt, und am 28. Januar 1945 wurden die Streitkräfte des KONR (viele nannten es weiterhin ROA) als eine mit dem deutschen Staat verbündetete Armee deklariert. Die deutschen Vertreter in den russischen Teilen hatten nur konsultatorische und kommunikatorische Funktionen. Diese russische Armee war in juristischer und militärischer Hinsicht gesondert von der Wehrmacht, sie trug auf der grauen deutschen Uniform (eine andere zu nähen war unmöglich) russische Dienstgradabzeichen und auf der Mütze die Kokarden der ROA. Das Emblem der ROA (ein weißer Brustschild mit einem blauen Andreaskreuz in roter Einfassung) wurde auf Vorschlag General Maly¡skins noch im Februar 1943 gebilligt (damals strich Rosenberg die ersten neun Entwürfe mit der weiß-rot-blauen Flagge durch, worauf Vlasov meinte: “Ich hätte sie so gelassen: die russische Flagge, von den Deutschen durchgestrichen, weil sie sie fürchten”4). Auf der Standarte des Oberkommandierenden der Russischen Befreiungsarmee war Georg der Siegreiche abgebildet. Die Hymne war “Wie wunderbar ist unser Herr in Zion”.
In den Truppeneinheiten erschienen russische Priester, sowohl Militärpriester als auch andere. “Einige von ihnen befanden sich bereits in der Jurisdiktion der Auslandskirche, während andere, die erst kürzlich aus der UdSSR in den Westen gekommen waren, ihre Heimat verlassen hatten, als sie der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats angehörten und daher konnten sie aus einer Reihe von Gründen ihre neue kanonische Lage nicht regeln. Aber auf solche Dinge legte man damals keinen besonderen Wert. Ein Teil der Priester blieb auch in der Jurisdiktion des Ökumenischen Patriarchats”5. So beschreibt es der Militärgeistliche der Streitkräfte des KONR, Erzpriester D. Konstantinov (jetzt ein Kleriker der Amerikanischen Jurisdiktion). Außer ihm standen der geistlichen Betreuung der ROA zeitweise Vater Alexander Kiselev aus Estland und Archimandrit Serafim (Ivanov) vor6. An einem feierlichen Gebetsgottesdienst, der Herr möge den Streitkräften des KONR den Sieg schenken, nahmen außer Metropolit Anastasij und Metropolit Serafim (Lade) Erzpriester Adrian Rymarenko und Vater George Benigsen teil7.
Das heißt, zu jener Etappe des Krieges konstatieren wir bei Vertretern verschiedener orthodoxer Jurisdiktionen eine “Zusammenarbeit mit Hitler”. Unverständlich ist nur, warum eben dieser Erzpriester George Benigsen, der sich nach dem Kriege der Amerikanischen Kirche anschloß, den Synod der Auslandskirche beschuldigt, er hätte “Dankensschreiben an Hitler verfaßt, dessen Soldaten... an der Front die Kinder ‘einfältiger’ orthodoxer Amerikaner töteten”8.
Um so natürlicher war die Anwesenheit der Geistlichkeit in russischen Einheiten, die von den Soldaten der ersten Emigration vor Gründung der ROA gebildet wurden. In dem “Russischen Corps”, das bereits im Sommer 1941 auf dem Balkan aufgestellt wurde, befanden sich unter den dienstältesten Militärgeistlichen so bekannte Autoren wie Igumen Nikon (Rklickij) und Vater Boris Mol¡canov. In der “Russischen Nationalen Volksarmee” (die 1942 unter Führung des Ingenieurs S.N. Ivanov und des Oberst I.G. Kromiadi zusammengestellt wurde) war auch Vater Germogen Kiva¡cuk. Auch in den von General B.A. Cholmston-Smyslovskij aufgestellten Truppenteilen (spätere Bezeichnung: Erste Russische Nationalarmee) gab es russische Geistliche und sogar in den Kosaken-Einheiten der Emigranten-Generäle Krasnov, Turkul und Schkuro.
Dazu sollte man hinzufügen, daß es den Vertretern der Kirche nicht so sehr um die geistliche Führung des militärisch-politischen Kampfes der ROA gegen die gottlosen Versklaver des Vaterlandes ging, als um die Erfüllung ihrer ewigen Mission der Rettung der Seelen, wobei sie den Krieg eben als ein Faktum betrachteten. Wie unlängst Bischof Serafim (Dulgov) erinnerte, war in den Jahren des russisch-japanischen Krieges eben diese auch die Haltung von Erzbischof Nikolaj (Kasatkin) in Japan: er blieb bei seiner japanischen orthodoxen Herde, die gegen Rußland kämpfte, obwohl die Japaner heimtückische Feinde der Russen waren! Nichtsdestoweniger erfüllte Erzbischof Nikolaj seine Hirtenpflicht, wogegen von der russischen kirchlichen Obrigkeit kein Wort des Vorwurfes geäußert wurde. (Inzwischen wurde er sowohl von dem Moskauer Patriarchat als auch von der Auslandskirche in den Kanon der Heiligen aufgenommen).
Ebenso waren auch die Priester der ROA mit ihrer Herde dort, wohin die patriotische Pflicht sie rief, und sie halfen ihr, sich ihres Standes als Christen unter so schweren Bedingungen würdig zu erweisen. Sie nahmen kirchliche Amtshandlungen vor, hörten Beichte, teilten die hl. Kommunion aus, gaben den Verstorbenen ein kirchliches Begräbnis. Man mußte auch den ehemaligen sowjetischen Armeeangehörigen die Grundlagen der Orthodoxie beibringen (wie in der Schule der ROA in Dabendorf). Und erneut halten wir fest, daß die orthodoxe Geistlichkeit in den gegen Deutschland kämpfenden Ländern – eingeschlossen die in den USA gebliebenen Hierarchen der Auslandskirche – ihre Brüder in Deutschland nicht verurteilte, weil sie meinte, daß diese an Ort und Stelle besser wissen müssen, was sie zu tun haben.
Diese politische Bewegung war jedoch viel größer als nur die ROA, sie umfaßte weite Schichten der Zivilbevölkerung. Daher wird sie von vielen als Russische Befreiungsbewegung bezeichnet (ROD) oder Befreiungsbewegung der Völker Rußlands (ODNR). Kromiadi bezeugt: “In jener Zeit betrachtete, mit Ausnahme der Hurra-Patrioten, welche die Kommunisten für die ihrigen hielten, die ganze übrige Emigration die ROA wie ihre eigene nationale Armee und teilte Kummer und Freude mit ihr”9. Diese Feststellung ist wohl nicht übertrieben: als am 24. Juli 1943 in Paris General V.F. Maly¡skin als Vertreter General Vlasovs vor der russischen Emigration in dem Wagram-Saal eine Rede hielt, brachten ihm 6000 Emigranten Ovationen dar; sein Auftritt “rief sogar bei den demokratischen Kreisen der russischen Emigration, die in unversöhnlicher Opposition zu den Deutschen standen, einen sehr starken Eindruck hervor”, schrieb B. Nikolaevskij, wobei er sich auf den begeisterten Brief des bei der Versammlung anwesenden V.A. Maklakov bezog: “Nach den Urteilen sogar jener, die gegen Vlasov geladen waren, schlug dieser Vortrag wie eine Bombe ein”10.
Eben solch ein Bild zeichnet A. Kazancev: “Spontan bildeten sich an allen Enden des kleinen, bereits damals existierenden neuen Europas Kooperationsgruppen und Gesellschaften, wurden Mittel und Spenden gesammelt, die Bauern brachten ihre simplen Kostbarkeiten, silberne Brustkreuze und Verlobungsringe, die Arbeiter ihre bescheidenen Ersparnisse, die sie in mühevollen Jahren zusammengetragen hatten. Bei allen Instanzen des Komittees gingen täglich bis zu 3000 Briefe und Telegramme ein mit der Erklärung der Bereitschaft, nach Kräften an dem Kampf teilzunehmen”11.
Zum Vergleich muß man die Zahl jener Emigranten anführen, die eine andere Wahl trafen: sie nahmen auf der Seite der westlichen Demokratien am Krieg teil. Offensichtlich dienten die meisten Russen damals in der französischen Armee (es wurden etwa 3000 mobilisiert), dazu einige hundert Leute im “Widerstand”12... in der amerikanischen Armee waren es auch nicht mehr.
Zu den Aufgaben des KONR gehörten auch kulturelle, wirtschaftliche, soziale – es war eine Art “Staat im Staat”. Dem KONR gelang es in beachtlichem Maße, die Lage der russischen Gefangenen und “Ostarbeiter” zu bessern, da sie nun den übrigen Fremden gleichgestellt wurden. “Während der kurzen Zeit seiner Existenz wurde der KONR zu einem Partner, dem Deutschland Rechnung tragen mußte. Die Deutschen, daran gewöhnt, mit den Millionen russischer Massen umzugehen, wie es ihnen beliebt, stießen nun auf eine Einrichtung, die ihre Macht einschränkte. Die recht- und schutzlosen Russen hatten nun einen einflußreichen Verteidiger, der für ihre lebenswichtigen Interessen eintrat”13, bemerkt Hoffmann. Außerdem trug der Klerus nicht wenig dazu bei.
Man sollte sich daran erinnern, daß die Leitung der Auslandskirche während des Krieges in Serbien blieb, wie später der serbische Patriarch Gabriel sagte: “Metropolit Anastasij verhielt sich während der deutschen Besatzung mit großer Weisheit und viel Taktgefühl, er war stets den Serben loyal, weshalb er sich das Vertrauen der Deutschen nicht zunutzte machte und einige Male kränkenden Durchsuchungen unterworfen wurde”14.
Wie bekannt, lehnten gegen Kriegsende die westlichen Demokratien alle Versuche der ROD ab, Erklärungen für ihr Bündnis mit den Deutschen zu geben. Vlasov, Meandrov und auch die alten Emigranten Generäle S.K. Borodin (Regimentskommandeur bei Turkul) und P.N. Krasnov verfaßten Memoranden. Sie erklärten, daß die stalinsche Regierung nicht vom Volk bemächtigt ist, welches fortwährend die Bolschewiken bekämpfte (Bürgerkrieg, Aufstände), und daß die ROA diesen Kampf nun fortführt. Daher dürfe nicht Stalin der Bündnispartner der Demokratien sein, sondern die ROD. Es gab gemeinschaftliche Briefe an den König Georg VI, an die Vereinten Nationen, an das Internationale Rote Kreuz, an den Erzbischof von Canterbury, an Frau Roosevelt (darin wurde erwähnt, daß in dem Stalin Regime Millionen von Menschen umgebracht wurden)... Einer der Versuche, Kontakt mit den Westmächten aufzunehmen, wurde (mit Hilfe von Metropolit Anastasij und dem Philosophen B.P. Vy¡seslavcev) über die Schweiz unternommen.
Keiner von ihnen wußte, daß das Los der ehemaligen sowjetischen Bürger schon längst von den verbündeten demokratischen Regierungen beschlossen war. Die ersten Gruppen der ubiquitären Russen in deutscher Uniform wurden bereits 1943 von den Engländern und Amerikanern in Nordafrika ergriffen und still und leise einer mündlichen Vereinbarung zufolge durch Ägypten und den Iran an die UdSSR ausgeliefert. 1944 verfuhr man ebenso mit den in Europa gefaßten Gefangenen. Am 11. Februar 1945 wurde diese Absprache in Jalta durch ein geheimes Abkommen zwischen den demokratischen Staaten und Stalin über die Auslieferung aller sowjetischen Bürger an die UdSSR nach dem Stand der Grenzen vom 1. Sept 1939, unabhängig von deren Zustimmung, ratifiziert (General de Gaulle schloß mit Stalin seine “Jalta-Vereinbarung” am 29. Juni 1945 ab15).
Die Auslieferungen wurden zu verschiedenen Zeiten vorgenommen, aber immer auf betrügerischem Wege und mit großer Härte. Die Befreier von Prag (Erste Division), Vlasov und sein Stab wurden von den Amerikanern bereits am 12. Mai ausgeliefert: auf die Stellungen der entwaffneten Vlasov-Soldaten wurden sowjetische Panzer losgelassen, die die fliehenden Menschen erschossen. Die Kosaken mit ihren Familien wurden im Mai-Juni von den Engländern unter Hunderten von Opfern ausgeliefert. Die zweite Division der ROA (bereits ohne Truchin, Bojarskij, @Sapovalov, Zverev) unter dem Kommando von Meandrov wurde interniert und ihr stand die Deportation in die UdSSR in Etappen bevor (nur ein Zehntel von ihr wurde gerettet). Die Auslieferungen fanden in allen Ländern statt, darunter auch in Skandinavien und Amerika, wobei in Frankreich die Tschekisten volle Handlungsfreiheit hatten und die mit Autobussen entweichenden Flüchtlinge einfingen. Nur das kleine Fürstentum Liechtenstein weigerte sich, bei diesem allgemeinen Verrat an der Demokratie mitzumachen.
Die alte Emigration legte gewaltige Anstrengungen zur Rettung ihrer dem Tode ausgelieferten Landsleute an den Tag (man half ihnen, aus den Lagern zu fliehen, versteckte sie, versorgte sie mit falschen Dokumenten). Dabei ist der Verdienst der Auslandskirche kaum zu überschätzen. Auf offizieller Ebene konnte nicht so viel getan werden.
In seinem Buch bemerkt J. Hoffmann ebenfalls: im August 1945 “erhob Metropolit Anastasij Protest gegen General Eisenhower, was zweifellos einen Einfluß auf die Entscheidung ausübte, die Auslieferung zu stoppen”, aber nur zeitweise. Am Vorabend der Auslieferung “protestierte Papst Pius XII. im Februar 1946 in Plattling als Antwort auf die Bitte der Orthodoxen Kirche im Ausland um Hilfe gegen die Repatriierung von Menschen gegen ihren Willen und Verweigerung des Flüchtlingsrechtes”. Der Sekretär des Synods “Erzpriester Graf Grabbe und Oberst Kromiadi besuchten im Auftrag des Synods das Stabsquartier in Frankfurt und versuchten vergebens, eine Aufhebung des Befehls zu erreichen. Man sandte sie zur Regierung nach Washington, aber diese antwortete auf das Schreiben des Synods erst am 25. Mai 1946, als bereits alles abgeschlossen war”16.
Derartige Versuche von seiten des Synods, der Auslieferung Einhalt zu gebieten, gab es zahlreiche. Es gab Priester, die sich mit Kreuzen in der Hand den englischen und amerikanischen Soldaten entgegenstellten, um sie zur Vernunft zu bringen und sie aufzuhalten, aber nicht selten schaffte man sie mit Gewehrkolben und Gummiknüppeln beiseite.
Metropolit Anastasij beschreibt in einem Brief an den amerikanischen Oberkommandierenden Eisenhower eine solche Auslieferung in Kempten: Die Amerikaner fanden “alle Emigranten in der Kirche, wie sie glühend zu Gott beteten, Er möge sie vor der Deportation retten... sie wurden gewaltsam aus der Kirche getrieben. Frauen und Kinder wurden von den Soldaten an den Haaren gezogen und geschlagen ... die Priester versuchten auf jede Weise, ihre Herde zu schützen, aber ohne Erfolg. Einen von ihnen, einen alten und geachteten Priester, zogen sie am Bart heraus. Einem anderen Priester sickerte Blut aus dem Mund, nachdem ihm einer der Soldaten, der ihm das Kreuz aus der Hand entreißen wollte, ins Gesicht schlug. Die Soldaten, die die Menschen jagten, brachen in den Altarraum ein. Die Ikonostase, welche den Altarraum von der Kirche abtrennt, wurde an zwei Stellen zerbrochen, der Altar wurde umgestürzt, einige Ikonen auf den Boden geworfen. Einige Leute wurden verletzt, zwei versuchten, sich zu vergiften; eine Frau, die ihr Kind retten wollte, warf es aus dem Fenster, und ein Mann, der es auf der Straße auffangen wollte, wurde von einer Kugel im Bauch verwundet...”17.
Die Engländer gingen besonders hinterlistig vor, indem sie versicherten, daß “die Auslieferung unvereinbar mit der Ehre Großbritanniens sei”. So geschah es in Österreich, im Lager Peggetz bei Linz (dort war der Kosaken Feldstützpunkt des Generals Domanov, eine halbmilitärische Siedlung). Zuerst wurden alle entwaffnet (unter dem Vorwand des “Waffenwechsels”). Dann wurden die Offiziere am 28. Mai 1945 (angeblich zu einem Vortrag) abgeholt und dem SMERSCH übergeben. Am 1. Juni wurde das Lager (mehr als die Hälfte davon waren Frauen und Kinder) während des Gottesdienstes unter offenem Himmel, unter dem Gesang des Vaterunsers aus tausend Kehlen, im Sturm genommen; man schoß auf die Betenden, schlug mit Bajonetten auf sie ein, die Priester wurden geschlagen, der Altar umgestoßen... Dutzende von Leichen, blutbespritzte Ikonen und Fahnen blieben auf dem Schauplatz zurück. An den folgenden Tagen veranstalteten die Engländer zusammen mit dem SMERSCH eine gemeinsame Jagd auf die Flüchtlinge in den Bergen – die Zahl der Opfer war über 150.
Dabei gingen die Engländer sogar über das Soll der Verpflichtung von Jalta hinaus: “Tausende von Flüchtlingen, die niemals in der Sowjetunion gelebt und ihr Land 1919 als Verbündete der Engländer und Amerikaner verlassen hatten, und die daher überhaupt nicht von dem Abkommen von Jalta betroffen wurden, wurden in Österreich nur auf eine mündliche Übereinkunft hin an den SMERSCH ausgeliefert, so daß man bis heute die ungewöhnlichsten Maßnahmen ergreift, um die Spuren dieser Operation zu vertuschen”18, schreibt N. Tolstoj.
So “waren nach den Verzeichnissen des Kosaken Feldstützpunktes nicht weniger als 68% der Offiziere von Domanov, also etwa 1430 Personen, alte Emigranten” – viele von ihnen waren gewöhnliche Leute und Familienglieder. Unter den der Auslieferung nicht unterliegenden Personen waren die den Engländern aus dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg gut bekannten Bundesgenossen, die Generäle Krasnov, Schkuro (ausgezeichnet mit dem Englischen Bun-Orden), Sultan-Girej Klytsch (Anführer der Kaukasier). “Man muß schon sagen, daß die alten Emigranten nichts unversucht ließen, um auf ihren Status aufmerksam zu machen. Sultan Girej kam in der vollen Uniform eines Zaren-Offiziers in das Lager von Spittal, General Ku¡cuk Ulagaj schwenkte... seinen albanischen Paß. In Peggetz präsentierten viele Major Davis ihre Nansen-Pässe und Pässe verschiedener europäischer Länder”. Überhaupt konnten die Engländer “den Eindruck gewinnen, daß bei den Kosaken ausschließlich die alten Emigranten den Ton angeben”19.
Dennoch schloß der von dem englischen Brigadegeneral Messon erhaltene “mündliche Befehl vollkommen jede Möglichkeit aus, Kosaken, obwohl sie keine sowjetischen Bürger waren, nicht auszuliefern”. Ein anderer englischer Offizier bezeugt: “Mir war befohlen, den weißen Emigranten in unserem Lager mitzuteilen, daß ihnen die Überführung in ein anderes russisches Kriegsgefangenenlager bevorstehe. Dann mußte ich sie alle, darunter auch Frauen und Kinder, auf Lastwagen verladen, in die sowjetische Zone bringen und den sowjetischen Behörden übergeben”20.
Viele, die wußten, daß ihnen Marter und Hinrichtung bevorsteht, setzten ihrem Leben gleich nach der Auslieferung ein Ende, um der erzwungenen Lossagung von ihren Idealen zu entgehen. Metropolit Anastasij gestattete die Aussegnung solcher Selbstmörder, denn “ihre Tat kommt dem Heldentum der Hl. Pelagia von Antiochia (8. Okt.), die sich von einem hohen Turm herabstürzte, um Schimpf und Schande zu entgehen, näher als dem Verbrechen des Judas”21. An den Orten besonders blutiger Auslieferungen zelebriert die Russische Auslandskirche alljährlich Panichiden, zu denen Russen aus verschiedenen Ländern zusammenkommen.
Dieser Krieg war die schwerste Prüfung für unser gesamtes Volk. Getrennt durch die sowjetische Grenze und Frontlinie hatten die einzelnen Volksteile verschiedene Möglichkeiten, für die Verteidigung Rußlands vor seinen diversen Feinden zu wirken. Daher wurde auch die Wahl des geringeren Übels auf unterschiedliche Weise von ihnen getroffen. Diese komplizierte moralische Frage hing nicht nur von dem geographischen Aufenthaltsort, sondern auch von der persönlichen Einschätzung einer ganzen Reihe von Faktoren ab: der Ziele Hitlers, des Terrors Stalins, der Möglichkeit, daß sich die kommunistische Macht in Richtung Patriotismus entwickelt, des antikommunistischen Potentials im Volke, der Möglichkeit der Formung einer unabhängigen russischen Kraft gegen Stalin und Hitler.
Sogar in der sowjetischen Armee wurde diese Frage nicht von allen einheitlich entschieden: dort gab es auf 16 Gefangene einen Überläufer, während in den westlichen Armeen zu jener Zeit ein Überläufer auf 4692 Gefangene kam. Gegen Sommer 1943, noch vor der Schaffung der ROA, kämpfte bereits freiwillig in Form von kleinen Einheiten etwa eine Million ehemalischer sowjetischer Armeeangehöriger auf deutscher Seite (während in den Jahren des ersten Weltkrieges von den 2,5 Millionen russischen Gefangenen nur 2000 ukrainische Unabhängigkeitskämpfer den Versprechungen glaubten und zur deutschen Armee überliefen)22. Solche Ziffern sind schwer mit einfachem Verrat zu erklären. Eigentlich war es eher eine Fortsetzung des Bürgerkrieges im Rahmen des zweiten Weltkrieges. Man kann sich seinen Ausgang nur vorstellen, wenn die Deutschen sich zur Aufstellung einer russischen Nationalregierung entschlossen hätten.
Es ist leicht, über die Vergangenheit zu urteilen, wenn man weiß, womit alles endete. Schwerer war es, eine Entscheidung zu fällen, als noch alles ungewiß war, aber man nicht umhin konnte, eine Wahl zu treffen. Daher haben jene Ankläger, die nicht selbst vor der schwierigen Frage standen, kaum das Recht, jenen Teil der Emigration zu bezichtigen, die sich nicht davor drückte, seinem Volk zu HIlfe zu kommen – in der Form, in der es den Umständen entsprechend möglich war.
Umso weniger hat jemand das Recht, die auslandsrussische Geistlichkeit zu beschuldigen, die ihre russischen Brüder, die diese Wahl trafen, nicht ohne geistliche Fürsorge ließ. Als Besiegte zahlten sie alle einen viel zu hohen Preis – wie übrigens auch die Sieger. Unser ganzes schwer geprüftes Volk zahlt bis jetzt für die Taten jener, die 1917 die Macht ergriffen und deren heutigen Nachfolger.z
1 Kromiadi K. Für die Heimat, für die Freiheit... S. 172.
2 Kazancev, A. Die dritte Macht. Frankfurt a.M. 1974. S. 166-167.
3 Kromiadi K. Für die Heimat, für die Freiheit... S. 172.
4 Steenberg S. Vlasov. Melbourne 1974. S. 99.
5 Konstantinov D., Erzpr. Notizen eines Militärpriesters. Canada 1980. S. 26.
6 Vgl. Kiselev A., Erzpr. Die Gestalt des Generals Vlasov, New York. S. 134.
7 Konstantinov D. Erzpr. idem S. 20.
8 Benigsen G., Erzpr. Auf dem Wege zur Autokephalen Amerikanischen Metropolie (Vestnik RSChD) 1970. No. 95-96. S. 59-61.
9 Kromiadi K. Über das Buch von Erzpr. Alexander Kiselev (Zarubesch’e) München 1978. No. 3-4. S. 38
10 Nikolaevskij B. Defätismus 1941-1945 und General A.A. Vlasov (Novyj Journal) 1948. No. 19. S. 139-140.
11 Kazancev A. idem. S. 289-290.
12 Kovalevsky P. La Dispersion Russe. Chauny (Aisne). 1951. P. 41.
13 Hoffmann J. idem. S. 334-335.
14 Russisch Orthodoxe Kirche im Ausland. S. 17. S. auch: Russisch-Amerikanischer Orthodoxer Bote. 1946. No. 1. Calendar of the Serbian Orthodox Church in the USA and Canada, 1991, p. 105.
15 Tolstoj N. Opfer von Jalta. Paris. 1988. S. 415, 438.
16 Hoffmann J. idem. S. 252-254.
17 Zit. nach Kiselev A., Erzpr. idem. S. 194.
18 Tolstoj N. idem. S. 4.
19 Ebenda S. 177, 274.
20 Ebenda S. 277, 283.
21 Orthodoxe Russische Auslandskirche. S. 23.
22 Hoffmann, J. idem. S. 7-8, 1265, 272. Tolstoj N. idem S. 22