Predigt von S.E. Erzbischof Mark am Sonntag der Orthodoxie, gesprochen am Ersten Sonntag der Gorßen Fastenzeit 1995 in der Kathedralkirche in München (Hebr 11, 24-26, 32 - 12, 2; Joh 1, 43-51)
Ich will aber, daß ihr weise seid zum Guten, aber geschieden vom Bösen (Röm. 16, 19).
Am ersten Sonntag der Großen Fastenzeit begehen wir das fest der Orthodoxie. Ursprünglich wurde dieser Feiertag im Byzantinischen Reich eingeführt; die Größe dieses Reiches ging auf das russiche über. der russiche Mensch, das Russische Reich der vergangenen Jahrhunderte waren aufs engste mit dem Begriff der Orthodoxie verbunden. Die Orthoroxe Kirche, der orthodoxe Zar, das orthodoxeRußland – dies waren Begriffe, die sich organisch in einer Zeit entwickelten, als dieser Staat, dieses Volk und seine Zaren in der ganzen Welt auf der Wache standen und die Orthodoxie verteidigten, als russische Pilger die Heiligen Stätten bevölkerten, russische Zaren den gesamten orthodoxen Osten mit Kirchengeräten beschenkten, als russische Schriftsteller vom Geist der Kirche beseelt waren und den Funken und die Flamme der Orthodoxie zu anderen Völkern trugen.
Orthodoxe Staaten sind vernichtet. Heute leben fast alle orthodoxen Völker im Zusatnd der Verfolgung, sei es der inneren ode rder äußeren. Dennoch begehen wir das “Fest oder den Triumph der Orthodoxie”, preisen und verherrlichen den reinen Glauben unserer Väter und verleihen gleichzeitig unserer Besorgnis um diejenigen Ausdruck, die ihre Orthodoxie nicht kennen oder sie nicht hochschätzen oder sie sogar durch ihre bösartigen menschlichen Erfindungen angreifen.
Das Wort Gottes sagt, daß “Gott den Menschen recht schuf” (Pred. 7, 30). Der Mensch konnte von Anfang an keinen anderen Glauben an Gott besitzen als nur den wahren oder orthodoxen. Gott sah jedoch die kommenden Prüfungen Seiner Kirche voraus: habt acht vor jeglicher Unwahrhaftigkeit (Sir. 17, 12). Der Feind unserer Rettung richtet zuallererst seine Kräfte gegen die Gotteserkenntnis und die Gottesverehrung. Er verdarb das jüdische Volk in solchem Maße, daß sich in ihm zum Zeitpunkt der Ankunft des Gottessohnes auf der Erde kein wahrer Glaube fand. Sowie Christus die wahre Gotteserkenntnis wiederhergestellt hatte, und die Heiligen Apostel den guten Samen ausgesät hatten, begann auf dem Acker Gottes, nach der Vorhersage des Wortes Gottes Selbst, auch Unkraut zu wachsen. Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns (1. Joh. 2, 19). Denn es müssen ja Spaltungen unter euch sein, damit die Rechtschaffenen unter euch offenbar werden(1. Kor. 11, 19). Auch aus eurer Mitte werden Männer aufstehen, die Verkehrtes lehren, um die Jünger an sich zu ziehen(Apg. 20, 30).
Die ersten Häresien waren alle gegen die richtige Verehrung des Sohnes Gottes und der Heiligen Dreieinigkeit gerichtet. Als der Teufel erkannte, daß er den wahren Glauben nicht durch direkten Angriffe vernichten kann, wandte er seine Waffen gegen das Antlitz Gottes, gegen die Ikonen des Heilands und Seiner Heiligen. Er war sich dessen bewußt, daß er damit gleichzeitig auch den Kampf gegen das Antlitz des Menschen aufnimmt, der nach dem Abbild Gottes geschaffen ist. Viele verführte er und trieb sie in die Häresie. Heute sehen wir, wie in unseren bösen Tagen der Mensch, der alle Häresien durchlaufen hat, vollkommen das Abbild Gottes in sich verloren hat und auf die niedrigste Stufe der ethischen Verderbnis gefallen ist. In diesem Moment trat eine neue Häresie auf – die Häresie der Leugnung der Wahrheit der Einen Kirche Christi.
Die Leugnung der Wahrheit bedeutet die Leugnung Christi, denn Er sprach: Ich bin der Weg und die Wahrheit (Joh. 14, 6). Die Leugnung der Einen Apostolischen Kirche Christi bedeutet die Leugnung des Werkes des Begründers der Kirche Selbst, Der sagte: es wird eine Herde und ein Hirte werden(Joh. 10, 16).
Die Häresie des Ikonensturms wurde überwunden, der Friede in der Kirche wiederhersgestellt, und der heutige Feiertag eingeführt. Doch außerhalb der Kirche kamen die Häresien nicht zur Ruhe; im Gegenteil, sie entfremdeten die Menschen immer weiter von der Wahrheit. Viele von unseren Nächsten, die vielleicht dem Namen nach sogar orthodox sind, dies jedoch als Last empfinden oder dem väterlichen Glauben mit unverzeihlicher Oberflächlichkeit gegenüberstehen. Noch mehr an Zahl sind diejenigen, die sich völlig von der kirchlichen Einheit losgesagt haben. Für sie und für uns selbst tragen wir Sorge, wenn all diejenigen preisen, die die Orthodoxie geschützt haben und schützen, und wir überantworten dem Gericht Gottes (Anathema) diejenigen, die die Wahrheit nicht hören wollen, die ihren menschlichen Verstand nicht im Gehorsam gegenüber Christus zu demütigen bereit sind.
Mit dem Fest der Orthodoxie, wie es in unseren Bischofskirche vollzogen wird, dürfen wir in keinem Fall irgendwelche Überheblichkeit oder Stolz verbinden. “Anathema” ist kein böses Wort, sondern vielmehr das demütige Eingeständnis unserer Ohnmacht – wir sind nicht imstande, den besagten Menschen zu Christus zu führen. Besäßen wir wahren apostolischen Glauben, so könnten wir durch unser Leben, unsere Werke und Worte, und, in erster Linie, durch unser Beispiel jeden beliebigen Menschen mit uns auf den Weg der Wahrheit mitreißen.
Durch das demütige Eingeständnis unserer Ohnmacht überantworten wir einen Menschen oder eine Gesellschaft dem Gericht Gottes und grenzen dadurch uns selbst und unsere Nächsten vom zersetzenden Einfluß der falschen Lehre ab. Gleichzeitig überantworten wir uns selbst und einander und unser ganzes Leben Christus, danken Gott dafür, daß Er in uns den Funken des wahren Glaubens bewahrt hat, und beten dafür, daß Er durch Seine unerforschlichen Geschicke alle verirrten Schafe in die Eine Herde zurückführen möge.