Predigt zum 6. Herrentag nach Ostern / Gedächtnis des Blindgeborenen (Apg. 16: 16-34; Joh. 9: 1-38) (02.06.2019)
Liebe Brüder und Schwestern,
eine jede Lesung aus dem Evangelium birgt in sich eine schier unüberschaubare Menge von verborgenen geistlichen Schätzen, die darauf warten, von uns gehoben zu werden, denn jeder noch so kurze Abschnitt der Frohen Botschaft regt bei Vertiefung in seinen Inhalt zur Kontemplation an, so dass durch die Einbindung in den Zyklus der Herrentage zwischen Ostern und Himmelfahrt bzw. Pfingsten sich weitere neue Betrachtungsweisen für uns öffnen.
In den Vorwochen lasen wir vom Gelähmten, der über Jahrzehnte am Teich Bethesda nahe dem Schaftor dahinsiechte, danach von der Samariterin am Jakobsbrunnen in Sychar, die zwar körperlich gesund war und, - heute würden wir sagen, - ein selbstbestimmtes Leben führte (s. Joh, 4:18), dafür aber mit geistlicher Blindheit beschlagen war. Unser Herr heilt beide, wie Er heute auch dem Blindgeborenen das Augenlicht schenkt. Die Fülle an wundersamen Heilungen deutet auf die in unbegrenztem Ausmaß vorhandene Gnade Gottes hin, welche wir durch den Glauben an unseren von den Toten auferstandenen Herrn Jesus Christus sowie durch den Empfang des Heiligen Geistes entgegennehmen können. Es ist die Gnade, die es uns ermöglicht, Teilhaber des ewigen Lebens, verbunden mit der unaussprechlichen, unvorstellbaren, unbegreiflichen und unbegrenzten Wonne der Gemeinschaft mit unserem Herrn in Seinem Königtum zu werden! Was ist dagegen irdisches Glück, zeitliches Wohlergehen und weltliche Freude (s. Koh. 1:2; Phil. 3:7-10)?!.. - Die zahlreichen vom Herrn vollbrachten irdischen Wohltaten beinhalten ja jedes Mal den verborgenen Hinweis darauf, dass es dem Menschensohn ein Leichtes ist, mit der körperlichen Unversehrtheit auch die seelische Reinheit wiederherzustellen (s. Mt. 9:5-7; Mk. 2:9-12; Lk. 5:23-25). Demnach erwartet der Herr, Der uns all das geben kann, dass wir zu jeder Zeit die richtigen Prioritäten setzen. Er sagte: „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? Um welchen Preis kann ein Mensch sein Leben zurückkaufen?“ (Mt. 16:26; Mk. 8:36-37; vgl. Lk. 9:25). Der Mensch hatte doch von Anbeginn alles Notwendige zum Leben – persönliches Glück (s. Gen. 2:22-23), materiellen Überfluss (s. 1:29; 2:16), eine sinnvolle Beschäftigung (s. 2:15), einen angemessenen Lebensraum (s. 2:8); Kleidung benötigten unsere Urahnen noch nicht (s. 2:25) – aber nicht darin bestand der Sinn ihres Daseins, sondern in der seligen Gemeinschaft mit Gott, die auch die ungetrübte Gemeinschaft der Menschen zueinander bedingte. Damals wie heute bemüht sich aber der Widersacher, die Sehnsüchte des Menschen weg von Gott auf irdische Güter zu lenken. Der zum Glücklichsein bestimmte und nach dem Glück strebende Mensch genoss die besagte Wonne anfangs ohne jegliche Mühe seinerseits. Nach der Verführung durch die Schlange und dem darauffolgenden Bruch der harmonischen Gemeinschaft mit Gott wurde diese Seligkeit dank des Erlösungswerks unseres Herrn Jesus Christus zwar wieder zugänglich, allerdings ist dieser ursprünglich selbstverständliche Zustand jetzt nur noch mit vielerlei Anstrengung zu erlangen. Es reicht nicht mehr, gemäß der irdischen Natur des Menschen zu leben, da diese, weil im gefallenen Zustand befindlich, nur irdisches Wohlergehen anstrebt. Zur Überwindung dieser natürlichen Beengtheit bedarf es nun der übernatürlichen göttlichen Gnade, die uns durch das Herabkommen des Heiligen Geistes in der Kirche Christi zuteil geworden ist. Gleichwohl muss der Mensch jetzt gewaltige Anstrengungen unternehmen, um der ihn zur Erlangung der himmlischen Güter befähigenden Gnade teilhaftig zu werden (s. Mt. 11:12). Wo, bitteschön, findet sich im Neuen Testament ein Hinweis auf die Statthaftigkeit eines laxes Verhältnises zum Glauben und zum eigenen Seelenheil – darauf, dass es schon ausreichend ist, „Gott im Herzen zu haben“ oder „ein guter Mensch zu sein“?!.. So etwas können doch nur die behaupten, die die Frohe Botschaft Christi nie wirklich gelesen haben. Folglich leben sie auch weiterhin nach den Gesetzen der unvollkommenen menschlichen Natur (s. Röm. 16:18 und Phil. 3:19), anstatt nach göttlicher Gnade zu streben.
Das Beispiel des Blinden am Teiche Schiloach ist für uns dahingehend lehrreich, als dass der durch göttliche Gnade Geheilte sich seinem Wohltäter gegenüber zunächst dankbar erweist, diesen dann furchtlos vor den feindlich gesinnten Pharisäern bekennt (s. Joh. 9:30-33) und später selbst in der Glaubenserkenntnis des Menschensohnes voranschreitet (s. 9:35-38). Im Gegensatz zum aufgerichteten Gelähmten am Teich Bethesda (s. Joh. 5:15-16) weiß der gerade erst sehend Gewordene mit der ihm geschenkten Gnade Gottes umzugehen. Wäre es ihm letztlich nur um sein irdisches Wohlergehen gegangen, hätte er auf den erlittenen gesellschaftlichen Nachteil und die damit verbundene Demütigung (s. Joh. 9:34) wohl nicht so gelassen reagiert. Er befand sich da schon auf dem unverhofften Weg des Heils und konnte somit mit der von Gott geschickten Prüfung sehr gut umgehen, weshalb wir getrost davon sprechen können, dass die Erlangung des Augenlichts in diesem Fall mit der seelischen Erleuchtung einhergegangen ist. Das sollte uns nun zu der abschließenden Erkenntnis führen, dass das Hauptaugenmerk unseres Glaubens auf die Erlangung des seligen Zustands der Gottesgemeinschaft gerichtet sein soll. Ohne diese spirituelle Ausrichtung ist jegliches religiöses Bestreben kein Glaube, sondern Aberglaube, der nur auf die Dinge abzielt, nach denen auch die Heiden trachten (s. Mt. 6:31-32). Doch nicht deswegen ist der Erlöser unserer Seelen in die Welt gekommen, sondern um die gute Saat in die Herzen der Menschen zu säen, die Ihm trotz ihrer vormaligen Unkenntnis und Verirrung einen fruchtbaren Boden für eine reiche Ernte bereiten (s. Jes. 55:10-13). Amen.