Predigt zum 11. Herrentag nach Pfingsten (1 Kor. 9:2-12; Mt. 18:23-35) (01.09.2019)
Liebe Brüder und Schwestern,
die allegorische Bedeutung der Parabel vom unbarmherzigen Knecht, dem all seine gigantische Schuld von seinem König in einem beispiellosen Akt der Barmherzigkeit zunächst vergeben worden war, der aber im Gegenzug die geringe Schuld seines Gefährten nicht erlassen wollte und dafür schließlich doch mit der vollen Strenge des Gesetzes bestraft wurde, erschließt sich uns unschwer und wird auch vom Herrn Selbst in einem Satz zusammengefasst: "Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt" (Mt. 18:35).
Wir stehen alle in Gottes unendlicher Schuld und nach objektiven Maßstäben der Gerechtigkeit haben wir alle die härtsten Strafen verdient. Auch wenn wir keine Verbrecher oder üblen Missetäter sind, versündigen wir uns an Gottes Barmherzigkeit dadurch, dass wir nur Irdisches im Sinn haben und das Streben nach dem Himmelreich in der lebendigen Gemeinschaft mit unserem Herrn sträflich vernachlässigen. Auch wenn wir oftmals bemüht sind "gute Menschen zu sein", dabei gewisse moralische Standards einhalten, besteht unsere Schuld darin, dass wir in der Realität Gottes Gnade verschmähen. Durch unsere Selbstgerechtigkeit geben wir Christus gleichsam zu verstehen, dass wir auch ohne Seinen Opfertod ganz gut zurechtkommen und die uns von Ihm in den Mysterien der Kirche dargereichte Gnade nicht wirklich benötigen. Unser Problem ist, auf einen Nenner gebracht, dass wir uns nicht als unendliche Schuldner vor Gott sehen und folglich in unserer subjektiven Wahrnehmung Seines Erlösungswerkes nicht bedürfen. Und das bedeutet nichts anderes, als dass wir an unserer Seele krank sind. Nur einer kann uns helfen: Christus.
Gott will ja um unseres Heiles willen Gnade vor Recht walten lassen. Er bietet uns eine "Ersatzlösung" zur Vergebung unserer Schuld an: "Ich vergebe euch eure riesige Schuld, wenn auch ihr euren Schuldigern ihre unbeträchtliche Schuld vergebt" (vgl. Mt. 6:12,14; Lk. 6:37; 11:4). Aber dann müssen wir auch nach Gottes Regeln vorgehen. Der Knecht aus unserem Gleichnis hätte ja vom Standpunkt irdischer Gerechtigkeit korrekt gehandelt, indem er seinen säumigen Kameraden ins Gefängnis werfen ließ, wenn, ja wenn mit ihm nicht zuvor nach himmlischer Barmherzigkeit verfahren worden wäre. Es dürfen jedoch keine doppelten Standards herrschen: entweder wir messen nach göttlicher Gnade oder nach menschlichem Rechtsempfinden. Aber willkürlich das Anwendungsprinzip auswählen, je nach dem was uns gerade in den Kram passt, das geht nicht.
Eigentlich müssten wir jetzt alle bereit sein, um des unendlichen himmlischen Schatzes willen über nichtige irdische Unzulänglichkeiten hinwegzusehen. In der Mehrheit der Fälle handelt es sich bei unseren zwischenmenschlichen Problemen ja nicht um gravierende Verfehlungen, sondern eher um Zwistigkeiten von geringfügiger Bedeutung. Aber selbst Raub, Mord und Verrat wären im Zusammenhang mit der Erlangung des Himmelreichs bloß Bagatellen. Trotzdem sind wir nicht wirklich bereit, unseren Mitmenschen ihre Verfehlungen von ganzem Herzen zu vergeben. Warum? - Weil unser ganzes Dasein auf Irdisches fixiert ist, – darum! Die himmlische Perspektive nimmt in unserer Gedankenwelt nur einen marginalen Platz ein. Wir handeln demnach entsprechend unserer menschlichen Denkweise. Einige denken, es genüge schon, äußere religiöse Vorschriften einzuhalten, um vor Gott rein dazustehen, vergessen aber: "Es kommt nicht darauf an, ob einer beschnitten oder unbeschnitten ist, sondern darauf, dass er neue Schöpfung ist" (Gal. 6:15, vgl. 2 Kor. 5:17). Das ist der Maßstab, der für uns Christen gültig ist!
Stellen Sie sich vor, wir alle leben in einem malerischen Bergtal hinter einem riesigen Staudamm. Nun ergibt sich, dass der Staudamm erste Risse aufweist. In wenigen Stunden wird unser ganzes Dorf von einer Monsterwelle hinweggespült. Es gibt nur einen Ausweg, nämlich den, auf die Gipfel und Kammlagen der uns umgebenden Berge zu klettern. Das ist aber sehr schwer, zumal mein Vater gehbehindert, meine Mutter herzkrank, meine Frau hochschwanger und die übrigen Kinder noch klein sind. Es gibt aber eine einfache Alternative zum beschwerlichen und nicht ganz ungefährlichen Aufstieg zu Fuß: mein Nachbar ist Besitzer einer Seilbahn, in dessen Gondeln genügend Platz für uns und für andere wäre. Das einzige Problem ist, dass ich diesen Vollpfosten nicht ausstehen kann, weil er ein widerlicher Kerl, ein kapitaler Trottel und ein eingebildeter Schnösel ist. Um also bei ihm mitfahren zu können, müsste ich ihm gegenüber wohl eingestehen, dass ich zumindest in einem der letzten 100 Streitfälle unrecht hatte. Ich überwinde mich also. Und was sehe ich? - Der Mann hilft meinen betagten Eltern beim Einstieg in die Gondel, ist liebevoll zu den Kindern, sorgt sich darum, dass auch alle unsere Habseligkeiten gut verstaut sind; seit ich ihm ein wenig entgegengekommen bin und ihn halbwegs respektvoll behandle, entdecke ich plötzlich ganz andere Charakterzüge an ihm! War doch nicht alles so eindeutig, wie mein sonst untrügliches Urteilsvermögen mich erkennen ließ?! Jedenfalls gelangen wir alle gemeinsam in Sicherheit und verstehen uns nun sogar menschlich wieder.
So ist es auch mit dem Himmelreich. Der ursprünglich vorgegebene Weg zu Gott lässt uns angesichts unserer seelischen Unzulänglichkeiten schnell verzagen. Doch wir haben zum Glück einen anderen, viel leichteren Weg zur Rettung aus der Not: die von Herzen aufrichtige Versöhnung mit unseren Mitmenschen. So zeigt sich wieder einmal, dass die Liebe zu Gott und zu den Menschen unauflöslich miteinander zusammenhängen (s. Mt. 22:40). Amen.