Predigt zum 17. Herrentag nach Pfingsten (2 Kor 6:16-7:1; Lk. 6:31-36) (13.10.2019)
Liebe Brüder und Schwestern,
heute werden wir uns mit einem kurzen Abschnitt aus der Bergpredigt befassen, die ja beim Evangelisten Lukas im Vergleich zum Evangelisten Matthäus viel komprimierter verfasst ist (bei Lukas in einem halben Kapitel, bei Matthäus in drei ganzen). Die Bergpredigt kein bloßes ethisches Regelwerk. Sie ist gewiss zusammen mit den zehn alttestamentlichen Geboten die notwendige Grundlage zur Erlangung der göttlichen Gerechtigkeit, aber bei der Vertiefung z.B. in den Sinn des uns heute vorgelegten Abschnitts wird deutlich, dass der Herr von uns nicht bloß Normerfüllung erwartet, sondern eine totale Abkehr von althergebrachten, auf menschlichem Gerechtigkeitsempfinden basierenden Stereotypen. Der Herr beginnt noch mit menschlicher Gerechtigkeit, bevor Er dann aber richtig zur Sache kommt: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen. Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wenn ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch Er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk. 6:31-36).
Für die zeitgenössischen Zuhörer Jesu gab es schon das Gebot der Nächstenliebe (s. Lev. 19:18), das aber nur auf Familien- und Stammesangehörige bezogen wurde. Der Herr verschafft diesem Gebot nun eine breitere Anwendungsbasis (Mt. 5:43; 19:19; 22:39; Mk. 12:31; Lk. 10:27; Jak. 2:8; Röm. 13:9; Gal. 5:14). Bemerkenswert ist doch, dass der Herr im Neuen Testament (in Mt. 5:43) das göttliche Gebot wörtlich zitiert und im gleichen Atemzug die vom Kern des Gebots abweichende menschliche Umdeutung hervorhebt: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: ´Du sollst deinen Nächsten lieben` (hier endet das alttestamentliche Zitat) -- und deinen Feind hassen“ (davon steht aber nichts im Gesetz). Deshalb die einleitenden Worte: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist“, – und nicht etwa: „es steht geschrieben, dass...“. Hier liegt eindeutig ein Fall von menschlicher Missdeutung des göttlichen Gebotes vor, die der Herr im Neuen Testament entschieden verwirft. Er rückt hier das Gebot von der (undifferenzierten) Nächstenliebe wieder zurecht. Das aber tut Er in höchst verständlichen und logischen Gedankengängen: „Was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, seid ihr auch nicht besser als die Sünder“. Auch für uns sollte dies heute eine Mahnung sein: wenn wir Christen uns aufgrund unserer Handlungsweise und unseres Lebenswandels nicht von Ungläubigen unterscheiden, haben wir die Gnade Gottes umsonst empfangen (s. 2 Kor. 6:1). Die Worte der Bergpredigt sind bis dahin also vollkommen einleuchtend und für jeden wohl nachvollziehbar. Aber dann kommt plötzlich das, was bislang unvorstellbar war und selbst bis heute für die meisten Menschen unfassbar ist: „Ihr sollt eure Feinde lieben!!!...“ In der Gedankenwelt des Kulturkreises, in dem der Herr lebte und predigte, ist das ein Paradoxon sondergleichen. Die Leute hatten das Gebot von der Nächstenliebe schon auf ihre „Bedürfnisse“ zurechtgestutzt, indem sie es durch den Zusatz des Feindhasses (paradoxerweise) willkürlich ausgeweitet hatten; doch jetzt spricht der Herr explizit von der Liebe zu den Feinden! … Unvorstellbar?!
Wir alle kennen aus Erfahrung den Zustand der menschlichen Natur, und wissen, dass man einen unsympathischen oder feindlich gesinnten Zeitgenossen nicht einfach so in sein Herz schließen kann wie einen lieben Freund. Wer von sich behauptet, das auf Anhieb zu können, belügt sich selbst. Auch Idealisten, welche von sich behaupten, alle Menschen in der ganzen Welt zu lieben, können bei der erstbesten Gelegenheit ihr Land verraten, die Familie verlassen oder aber heillos mit ihren Eltern und Geschwistern zerstritten sein. In jedem Fall ist so jemand der Selbsttäuschung erlegen. Und doch ist die Liebe – ausnahmslos und bedingungslos – der einzige Imperativ im Neuen Testament! Wir sollen doch unseren Nächsten lieben wie uns selbst – nicht mehr und nicht weniger. Und, das wissen wir aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter: unser Nächster kann sogar ein Todfeind sein (s. Lk. 10:25-37). Egal, wer unter den gegebenen Umständen gerade mein „Nächster“ ist, ich muss auch an sein Wohl denken. Wenn dieses Prinzip doch nur in der Politik (nach innen und nach außen), in der Wirtschaft (global und im Binnenbereich) und vor allem im zwischenmenschlichen Bereich (Familie, Gesellschaft) für alle gleichermaßen Anwendung finden würde!.. Nicht mein Vorteil ist das Ziel, sondern der beiderseitige bzw. der gemeinsame für alle Beteiligten. Nur so liebe ich meinen nächsten wie mich selbst, – auch wenn ich ihm keine Urlaubsgrüße über Whatsapp und keine Blumen zum Geburtstag schicke. Respektvolle Distanz ist kein Delikt. „Mach du dein Ding, und ich meins. Wenn du aber in Not bist – hier ist meine Handynummer!“ Sein Wohl – vor allem sein geistliches – liegt mir ebenso am Herzen, wie mein eigenes. Dem brutalsten Verbrecher müsste ich demzufolge wünschen, dass er die Liebe Gottes erkennt und fortan sein Leben nach dem Glauben ausrichtet. Würde jeder nach diesem Grundsatz handeln, gäbe es heute kein menschengemachtes Leid in der Welt. Das ist es wohl, was der Apostel Paulus meint, wenn er sagt, dass extremste Opfer, Anstrengungen und Gnadengaben völlig wertlos sind, wenn ihnen nicht die Liebe als Motivation zugrunde liegt (s. 1 Kor. 13:1-3). Nur durch die Nächstenliebe, die auch unsere Feinde einschließt, können wir Christi Nachfolger sein, indem wir unsere egoistischen Bestrebungen verleugnen und die sündigen Leidenschaften kreuzigen (s. Mk.6:34; Gal. 5:24). Nur so werden wir Gott nacheifern, Der ja Selbst gütig gegen die Undankbaren und Bösen ist (s. Lk. 6:35-36).
Wer Christus nicht nachfolgt, muss nach humanistischen Maßstäben kein schlechter Mensch sein. Solche Menschen sind gewiss auch nicht schlechter als wir. Was sie von einem wahren orthodoxen Christen unterscheidet, ist, dass sie ihre eigenen Sünden nicht sehen und nicht sehen wollen. Und dann ist es auch vollkommen „logisch“, dass sie lieber ihrem Wochenendvergnügen nachgehen als sonntags in der Kirche zu beichten und die Heiligen Gaben zu empfangen. Denn wenn ich mich nicht als elendigen Sünder sehe, brauche ich doch nicht in die Kirche zu kommen. Vor 1917 gingen viele Russen in die Kirche, um schöne Gesänge von Rachmaninov oder Tschaikowskij zu genießen; das Vaterunser wurde von einer Sopranistin wie eine Arie vorgetragen und der lästigen Beichtpflicht (!) kam man als gesetzestreuer Bürger exakt ein Mal jährlich nach. Die Kommunion empfing man entsprechend auch nur ein Mal pro Jahr. Wie da ein geistliches Leben hätte Gestalt annehmen sollen, bleibt mir ein Rätsel. Es ist ja kaum anzunehmen, dass solch eine Praxisnorm Reue und Zerknirschung ob der eigenen Unwürdigkeit vor Gott förderte. Die Folgen davon sind bekannt.
Wenn ich aber das „Begehren des Geistes“ (Gal. 5:17) gegen das Begehren des Fleisches ausrichte und ernsthaft den Grund meiner Seele erforsche, werde ich nicht umhin können, Christus als meinen einzigen Erretter anzusehen, mich Ihm unendlich dankbar zu erweisen und selbstverständlich werde ich nichts auf der Welt Seiner Gemeinschaft vorziehen. Wir sind ja alle nicht von Grund auf böse, und doch versündigen wir uns unablässig gegen Gott (s. Röm. 7:14-25). Wir müssen also erkennen, dass wir an der Seele krank sind, und dass es nur einen Arzt für uns gibt (s. Mt. 9:12). Nehmen wir uns das Beispiel der Sünderin im Hause des Pharisäers zum Vorbild und streben zuerst die Erkenntnis und dann die Vergebung unserer Sünden an, damit wir in der Liebe zu unserem Herrn wachsen, denn wem „wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe“ (Lk. 7:47). Und wenn ich diese Liebe nicht habe, kann ich die Menschheit vor der Klimakatastrophe retten, weltweit alle sozialen, politischen und ökonomischen Krisen bewältigen, und doch „wäre ich nichts“ (1 Kor. 13:2). Sähe ich mich hingegen selbst als einen erbärmlichen und zugrunde gehenden Sünder, müsste ich mich doch über jeden meiner Mitmenschen freuen, der den Weg zum Glauben sucht und findet. Und allen anderen würde ich nichts mehr wünschen, als dass sie ebenfalls den Ruf des Herrn hören und Ihm dankbar nachfolgen. Glauben Sie mir: Ich kenne keinen, der diesen Weg ernsthaft beschritten hat und es danach, trotz aller Mühsal, bereut hätte, in den engsten Familienkreis des Herrn aufgenommen worden zu sein. Einer, der es am besten wissen müsste, sagt: „Das sind die Verheißungen, die wir haben, liebe Brüder. Reinigen wir uns also von aller Unreinheit des Leibes und des Geistes, und streben wir in Gottesfurcht nach vollkommener Heiligung“ (2 Kor. 7:1). Amen.