Predigt zum 27. Herrentag nach Pfingsten (Eph. 6:10-17; Lk. 17:12-19) (22.12.2019)
Liebe Brüder und Schwestern,
unser Herr Jesus Christus kommt in eine Ortschaft, an deren Rand Ihn zehn Aussätzige um Erbarmen anflehen. Sie sind wegen ihrer ansteckenden Krankheit aus der Gesellschaft ausgestoßen, dürfen sich nicht in den Wohngebieten der Menschen aufhalten. Entsprechend ihrem Status als rechtlose Nicht-Mitglieder der Gesellschaft können sie bestenfalls aus der Ferne an Gottes Mitleid appellieren: „Hab Erbarmen mit uns!“ (Lk. 17:13). Sich jemandes erbarmen bedeutet, ihm nicht das ihm Zustehende geben, sondern ihm das gewähren, was er eigentlich nicht verdient und worauf er keinen Anspruch hat („Gnade vor Recht walten lassen“). So verfährt auch Gott mit uns. Es gab eine strikte Abmachung in Form des ersten Gebotes an die Menschheit mit eindeutiger Belehrung über die Konsequenzen bei Zuwiderhandlung (s. Gen. 2:16-17). Der Mensch ignorierte diese Warnung jedoch und ging seinen Weg – ohne Gott...
Nur Gott besitzt die Macht und die Güte, den Menschen aus dieser misslichen Lage zu befreien. Nach Recht und Ordnung hätte Gott ja auch sagen können: „Ich hatte euch gewarnt. Was geht Mich das jetzt an? Das ist eure Sache“ (vgl. Mt. 27:4). Aber stattdessen holte Er „Plan B“ hervor. Wie Christus seinerzeit am Beispiel der Ehebrecherin gnädig handelte (s. Joh. 8:7), so verfuhr Gott auch hier: Er machte deutlich, dass für Ihn nicht die Erfüllung vermeintlicher göttlicher Gerechtigkeit oberste Priorität besitzt, sondern unsere Errettung! Und so wurde Gott Selbst Mensch, um Seiner eigenen Gerechtigkeit Genüge zu tun und um das auf Sich zu nehmen, was der Mensch sich selbst eingebrockt hatte: den Tod (s. Röm. 6:23a). Ikonographisch wird diese aufopfernde und alles verzeihende Liebe Gottes durch die Höhle und die Windeln auf der Festtagsikone zu Christi Geburt angedeutet, die mystisch bereits auf die Grabhöhle sowie auf die Linnenbinden, in die der allerreinste Leichnam des Herrn gewickelt werden wird, hindeuten. Liebe bis in den Tod (s. Joh. 15:13)! Es ist nicht in Worte zu fassen, wie dankbar wir sein müssten...
Wie es aber um unsere Beziehung zu unserem Erlöser und Wohltäter realiter bestellt ist, wird in der Erzählung von den Aussätzigen allegorisch abgebildet: Nur einer der zehn Geheilten erachtet es für notwendig, nach seiner Rettung Gott den Ihm gebührenden Dank zu entbieten! Wie ist das zu erklären? - Wohl damit, dass die übrigen neun ihre Heilung als eine ihnen rechtmäßig zustehende Leistung ansahen, für die sie niemandem zu Dank verpflichtet waren?! Der geheilte Samariter hingegen, der sich als von Gottes Volk entfremdeter Geächteter sah, konnte nach Gebühr das würdigen, was mit ihm geschehen war, nämlich als unendlich kostbares Gnadengeschenk. Sie alle waren ja fern (s. Lk. 17:12) von Gottes Gemeinschaft – die neun Einheimischen wohl, weil sie aus freien Stücken der Sünde frönten; den Fremdling (s. 17:18), der von Geburts wegen nicht zum Volk Gottes gehörte, traf diese Gottesferne jedoch unverschuldet. Mit der Ankunft des Messias erreicht in seiner Person der Ruf Gottes symbolisch alle Fernen und Fremden: „Kommt zu Ihm, und ihr werdet erleuchtet, und euer Antlitz wird nicht zuschanden … Kostet und seht, dass der Herr gut ist!“ (Ps. 33:6,9a). Taufe und Eucharistie stehen nun allen offen...
Wir sind Gott schon für die - vergleichbar mit unserer Errettung - kleinen Annehmlichkeiten nicht dankbar, – dafür, dass wir Familie und Freunde haben, gesund sind, Frieden, Sicherheit und Wohlstand genießen dürfen etc. Und so können wir Gott dann auch nicht gebührend für die unendlich größere Wohltat unserer Errettung danken (vgl. Mt. 25:21,23). Stattdessen betrachten wir Gott insgeheim als unseren Schuldner, erwarten von Ihm, dass Er unseren Willen erfüllt (vgl. Mt. 6:10,12). Andernfalls sind wir nicht bereit, Gott anzuhängen. Aber sind wir in der Position, Gott „erpressen“ zu können?! - Er ruft uns zum Heil, das freilich auf dem von Ihm vorgegebenen Weg erlangt werden soll. Dann wird auch alles andere gut (s. Mt. 6:33; Lk. 12:31). Es steht ja zudem geschrieben: „Die Frömmigkeit bringt in der Tat reichen Gewinn, wenn man nur genügsam ist. Denn wir haben nichts in die Welt mitgebracht, und wir können auch nichts aus ihr mitnehmen. Wenn wir Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen. Wer aber reich werden will, gerät in Versuchungen und Schlingen, er verfällt sinnlosen und schädlichen Begierden, die den Menschen ins Verderben und in den Untergang stürzen. Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Nicht wenige, die ihr verfielen, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet“ (1 Tim. 6:6-10). Wie wahr!
Gott will unsere Genügsamkeit, Uneigennützigkeit und Opferbereitschaft aber nicht um Seinetwillen, sondern um unseretwillen. Ich versuche dies abschließend anhand einer Parabel von Olga Sevastianova zu illustrieren:
Das Glück ging nachts auf der Straße spazieren und fiel in eine Baugrube (es gibt Länder, in denen Baustellen nicht immer vorschriftsmäßig gesichert werden). Dort blieb es bis zum Morgengrauen benommen vom Sturz liegen. Als der erste Passant vorbeikam, fragte das Glück, was er sich wünschte. - „Viel Geld!“ war die Antwort. Plötzlich hielt er einen Koffer mit Geldscheinen in der Hand und ging hastig weiter seines Weges. Der nächste Passant wünschte sich eine schöne Frau zu seinem Glück, worauf er im nächsten Augenblick seiner Traumfrau begegnete und mit ihr Arm in Arm von dannen zog. Der dritte, der vorbeikam, wurde ebenfalls nach seinen Wünschen gefragt. Er entgegnete: „Ich habe schon alles. Du aber scheinst hingegen Hilfe nötig zu haben. Komm, ich helfe dir da heraus!“ Als er das Glück aus seiner misslichen Lage befreit hatte, ging auch er weiter seinen täglichen Geschäften nach. Das Glück jedoch heftete sich von nun an an seine Fersen und wich nicht mehr von seiner Seite... Amen.