Predigt zum 29. Herrentag nach Pfingsten, Herrentag der heiligen Vorväter (Kol. 3:4-11; Lk. 14:16-24) (27.12.2020)
Liebe Brüder und Schwestern,
mit dem Herrentag der Vorväter, dem vorletzten Sonntag vor dem Fest der Geburt Christi, beginnt die Kirche uns auch in den Schriftlesungen während der Göttlichen Liturgie auf die Ankunft des verheißenen Messias in der Welt vorzubereiten. In der Lesung aus dem Kolosserbrief wird kurz und knapp hervorgehoben, was sich durch die Menschwerdung Gottes und die sich daraus ergebende Vergöttlichung des Menschen grundlegend geändert hat: „Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit Ihm offenbar werden in Herrlichkeit. Darum tötet, was irdisch an euch ist: die Unzucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft, die bösen Begierden und die Habsucht, die ein Götzendienst ist. All das zieht den Zorn Gottes nach sich. Früher seid auch ihr darin gefangen gewesen und habt euer Leben davon beherrschen lassen. Jetzt aber sollt ihr all das ablegen: Zorn, Wut und Bosheit; auch Lästerungen und Zoten sollen nicht mehr über eure Lippen kommen. Belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bildnis seines Schöpfer erneuert wird, um Ihn zu erkennen. Wo das geschieht, gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde, Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles und in allen“ (Kol. 3:4-11).
In der Lesung aus dem Evangelium hören wir das Gleichnis vom Festmahl: die Gäste werden von Gott eingeladen, (in der Taufe) für alles Irdische zu sterben, um im Verborgenen mit Christus zu leben. Wenn nämlich Christus, unser Leben, offenbar wird (bei Seiner Wiederkunft in Herrlichkeit), dann sollen auch wir an Seiner Herrlichkeit teilhaben. Doch wenn wir, wie die zum Festmahl Geladenen, uns den irdischen Begierden hingeben anstatt sie abzutöten, werden wir uns den gerechten Zorn Gottes zuziehen. Wenn unsere Gedanken und Gefühlsregungen nur an zeitlichen Dingen hängen, wenn wir unsere gesamte Schaffenskraft und unser vollständiges Wirken auf die irdische Sphäre projizieren, wenn unsere Sorge und unser Bestreben nur materiellen Kategorien gelten, bedeutet dies, dass wir den alten Menschen mit seinen Taten nicht abgelegt haben und folglich nicht zu einem neuen Menschen geworden sind, der nach dem Bildnis seines Schöpfers (mithilfe der Gnade des Mysteriums der Myronsalbung) erneuert wird. Dann kann Gott an unserer Statt Arme, Krüppel, Blinde und Lahme berufen, die unsere Plätze an der Tafel des Herrn einnehmen werden (s. Lk. 14:21). So wird es geschehen, dass von denen, die eingeladen waren, am Festmahl des Herrn (der Eucharistie) teilzunehmen, etliche nicht zu Tische sitzen werden im Reich Gottes (s. Lk. 14:15).
Doch nun wollen wir diesen Tag zum Anlass nehmen, ganz allgemein über die Bedeutung des Alten Testamentes im Leben der Kirche nachzudenken. Der heutige Tag, der Herrentag der Vorväter, ist ja dem Gedächtnis aller Heiligen des Alten Bundes gewidmet, die im Gleichnis vom Festmahl allegorisch in der Person des Dieners, der im Namen seines Herrn die Einladungen ausspricht, dargestellt sind. Wer nämlich behauptet, das Alte Testament sei für uns heute komplett obsolet und spiele höchstens noch in der Erinnerungskultur der Kirche ein Rolle, der irrt gewaltig. Das Alte Testament war die prophetisch-allegorische Ankündigung des Neuen Testaments. Diese harmonische Einheit zwischen den beiden Teilen der Heiligen Schrift – der Einführung bzw. Vorbereitung einerseits, und der Erfüllung andererseits, kommt täglich im Gottesdienst zum Tragen. In sämtlichen Gottesdiensten werden Psalmen gelesen, die stets eine besondere prophetische Bedeutung haben (s. Lk. 24:44). An Festtagen werden prophetische Texte aus dem Alten Testament gelesen (die Paramoien), deren Weissagungen sich im Neuen Testament erfüllt haben. Insofern ist ein liturgischer Tag für den Gottesdienstbesucher nur dann komplett, wenn vor der Liturgie auch das Abend- und das Morgenamt besucht worden sind.
Am meisten vertraut sind wir in unserer liturgischen Realität mit der Vigil (Nachtwache), also der Verbindung von Abend- und Morgenamt nacheinander in einem Gottesdienst (am Vorabend von Feiertagen sowie am Samstagabend). Liturgisch beginnt jeder Tag mit dem Abendgottesdienst, weil Gott die sichtbare Welt (die „Erde“) in Finsternis (s. Gen. 1:1) erschuf, in welcher Er das Licht erscheinen ließ. „Es wurde Abend, und es wurde Morgen“ – genau in dieser Reihenfolge (s. Gen. 1:3-5). Damit setzt die neutestamentliche Kirche die alttestamentliche Gottesdienstpraxis im Bundeszelt bzw. im Tempel zu Jerusalem fort. Deswegen ist der Kirchenraum zunächst hell erleuchtet.
Die Hesperinos (Abendamt) beginnt mit dem Schöpfungspsalm, in dem davon gesungen wird, dass Gott die sichtbare Welt in wunderbarer Weise (s. Ps. 103:24) erschuf und darin den Menschen als Mittelpunkt des Kosmos (s. 103:14-15,23) einsetzte. Alle Lichter brennen bei geöffneter Königspforte als Ausdruck der paradiesischen Wonne der harmonischen Gemeinschaft mit Gott. Der Priester, bekleidet in glänzende Gewänder als sichtbares Zeichen der Herrlichkeit des Menschen im Paradies, räuchert die gesamte Kirche als Sinnbild der Wirksamkeit des Heiligen Geistes (s. Gen. 1:1). Doch dann gehen die Lichter aus und der Priester steht, nur noch mit dem Epitrachilion bekleidet und mit gesenktem Kopf vor der geschlossenen Königspforte wie einst Adam weinend vor dem verschlossenen Paradies stand. Es folgt der erste Psalm, der dem gefallenen Menschen erstmals den Weg weist, wie er wieder Gottes Gnade erlangen kann (s. Ps. 1:1-2). Und in jedem Abendgottesdienst wird Ps. 140 gelesen bzw. gesungen – der Psalm, den der Prophet David sang, als er auf der Flucht vor Saul und dessen Schächern in einer Höhle Unterschlupf fand und Gott um Schutz in seiner Drangsal bat. Nun sind wir es, die Gott in unserer Bedrängnis (durch sichtbare und unsichtbare Feinde) um himmlischen Beistand bitten!.. Das Prokimenon, bestehend aus zwei ausgesuchten Psalmversen für jeden Wochentag, kündigt den liturgischen Tageswechsel an. Die Verse drücken unser Flehen um Gottes Hilfe in der seelischen Not aus. Nur das Prokimenon am Samstagabend (der Übergang zum Auferstehungstag), bestehend aus insgesamt fünf Versen, stellt einen festlichen Lobpreis Gottes für die uns überreichlich erwiesene Güte dar.
Der Orthros (Morgenamt) beginnt wieder in völliger Dunkelheit mit dem Hexapsalm, also der Lesung von sechs ausgesuchten Psalmen (Ps. 3, 37, 62, 87, 102, 142), die einen ausgeprägten Bußcharakter haben bzw. den Betenden in den Chor der Lobpreisung Gottes einstimmen lassen. Es ist die Andeutung des jüngsten Gerichts, auf das uns die Kirche zu Lebzeiten vorbereitet. Es folgen die Kathismen (Psalmlesungen – das Buch der Psalmen ist für den Gottesdienst und für den häuslichen Gebrauch in 20 Abschnitte, die Kathismen, unterteilt, so dass im Gottesdienst der Psalter im Verlauf einer Woche komplett gelesen wird – in der Großen Fastenzeit sogar zweimal pro Woche). Danach öffnet sich die Königspforte und die Zelebranten und der Chor singen das Polyeleyon, den feierlichen Teil des Orthros in der hell erleuchteten Kirche. Es ist die Lobhymne auf das Erbarmen (gr. eleyon) Gottes gegenüber dem Menschen, das in jedem Vers durch ständige Wiederholung besungen wird (s. Ps. 135). Gegen Ende des Orthros werden die Psalmverse (Aposticha) aus Ps. 129 vorgetragen, die eindrücklich hervorheben, dass Gott nun Seine Milde gegen uns Menschen walten lassen will. Zu guter Letzt folgen die Ainoi – Lobgesänge, bestehend aus den letzten drei Psalmen, zur Verherrlichung Gottes (Ps. 148, 149, 150). All diese Teste aus dem Alten Testament bilden sozusagen das Korsett für die Feier der neutestamentlichen Gnade, die wir in unserem Herrn durch die Gründung der Kirche in der Niedersendung des Heiligen Geistes erlangt haben. Somit bestehen unsere Gottesdienste, je nach Anlass, entweder aus ständiger flehentlicher Bitte um Erbarmen für uns Sünder (z.B. in der Großen Fastenzeit) oder aus ununterbrochener festlicher Danksagung für die uns zuteilgewordene Gnade. Irdische Sorgen haben in diesem Mysterium der Anbetung keinen Platz. Die Seele empfängt die geistliche Nahrung, die sie zum Leben braucht, wie der Leib die Luft zum Atmen. Das ist Orthodoxie – der rechte Lobpreis Gottes!
Wenn wir uns solcherart am Vorabend vorbereitet haben, ist die Liturgie am darauffolgenden Morgen ein Fest für die Seele. Ebenso verhält es sich mit der jetzigen Fastenzeit als Präludium zum Fest der Geburt Christi, dem Übergang von der Finsternis zum Licht, den der letzte Heilige des Alten Bundes ankündigte, als er den Erlöser des Alls auf seinen zittrigen Armen hielt (s. Lk. 2:32). Sein kurzes Gebet ist ebenfalls fester Bestandteil der Abendandacht. Die Göttliche Liturgie aber gleicht in gewisser Weise einer Testamentseröffnung, denn von nun an können die Erben das in Besitz nehmen, was ihnen lt. Vermächtnis ihres Himmlischen Vaters zugesprochen worden war. Amen.
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2020
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