Predigt zum 18. Herrentag nach Pfingsten (2 Kor. 9:6-11; Lk. 6:31-36) (16.10.2022)
Liebe Brüder und Schwestern,
heute wird uns wieder der Abschnitt aus dem Evangelium zur Verinnerlichung angeboten, der von der Liebe und Barmherzigkeit auch gegenüber den Feinden handelt. Es ist die theoretische Klimax der Nächstenliebe der dreieinhalbjährigen Mission Christi; die praktische erleben wir am Karfreitag (s. Mt. 27:52; Lk. 23:34). Jesus Christus ist demnach die Gekreuzigte Liebe, die personifizierte Selbstlosigkeit. Er lebte vor, dass göttliche Liebe bedingungslos, allumfassend und unendlich ist. Die Aposteln bauten im Nachgang ihre Verkündigung auf diesem einzigen kategorischen Gebot auf und schufen epistolarische Zeugnisse von himmlischer Erhabenheit (s. 1 Joh. 4:7-21; 1 Kor. 13:1-13). Ausgangspunkt der christlichen Nächstenliebe ist aber die „Goldene Regel“, die wohl in jedem moralischen Wertesystem Gültigkeit besitzt: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen“ (Lk. 6:31).
In unserer modernen aufgeklärten Gesellschaft gilt Toleranz ja als oberste Tugend. Allerdings ist ihr moralischer Wert zweifelhaft. So kann Toleranz unter gewissen Umständen – je nach Sichtweise – auch als verkappte Gleichgültigkeit angesehen werden: „Hauptsache, es stört mich nicht!“ - Das betrifft Dinge, die ich persönlich nicht unbedingt gut finden muss, aber hinnehme, solange sie mich in meinem täglichen Leben nicht direkt betreffen. Toleranz endet hingegen paradoxerweise oftmals bei Dingen, die ich an sich gut (oder notwendig) finde – Flughäfen, Autobahnen, Fabriken, Kläranlagen, Windkrafträder, Biergärten, Müllverbrennungsanlagen, Schweinemastbetriebe, Asylantenheime etc., wenn sie nämlich vor der eigenen Haustür entstehen sollen. Alle brauchen sie, aber bitte j.w.d., also bloß nicht in der direkten Nachbarschaft!..
Wie verhält es sich aber mit dem moralischen Wertgehalt der besagten Regel: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen“? Auch da kann Egoismus und Berechnung mit von der Partie sein: Ich erweise mich meinem Nachbarn oder Kollegen gegenüber hilfsbereit, denn man weiß ja nie, – vielleicht benötige ich irgendwann auch mal seine Hilfe!“ (vgl. Lk. 6:33-34). Nichtsdestoweniger ist dieser Grundsatz unerlässlich, damit ich von anderen nicht etwas fordere, was ich selbst nicht willens bin zu geben. Es ist also eine Spielregel, an die sich alle halten müssen, damit das soziale Miteinander funktioniert. Und würden wir alle diese Grundmaxime beachten, wäre das Paradies auf Erden schon im Anfangsstadium da.
Aber kann man diese Regel nicht noch in weiteren Dimensionen anwenden? In Dimensionen, die das Menschliche übersteigen?… Wollen wir es wenigstens versuchen? – Gut. Probieren wir also die Inklusion des Allerhöchsten, wonach also unter den „anderen“ auch Gott gemeint sein kann. Ergo: „Was ihr von Gott erwartet, das tut ebenso auch Ihm“. Welche Konstellationen ergeben sich dann?
- Wir wollen von Gott geliebt werden, damit Er uns hilft und uns beschützt wie Seine Kinder. Gut. Aber lieben wir denn Gott? - Mehr als Mann oder Frau, Papa und Mama, Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester (s. Mt. 10:37; Lk. 4:26)? Wenn die (ehrliche) Antwort „nein“ lautet – was erwarten wir dann von Gott?Wir wollen, dass Gott immer alles in unserem Leben zum Guten wendet. Das wird Er gewiss bei jenen tun, die Ihn lieben (s. Röm. 8:28). Aber auch bei uns?!
- Wir wollen, dass Gott uns nie „vergisst“, d.h. immer Seine schützende Hand über uns und unsere Nächsten hält. Gut. Aber sind wir mit unseren Herzen und Gedanken ständig bei Gott oder sind unsere Gedanken nicht vielmehr mit irdischen, nichtigen, bis hin zu Verderbnis bringenden Dingen beschäftigt? Was erwarten wir denn von Gott, wenn wir Ihn stets vergessen und Ihm selbst nicht eine Minute unserer ungeteilten Aufmerksamkeit schenken wollen?!
- Wir wollen, dass Gott uns immer „zu unserem Recht verhilft“, d.h. alles nach unseren Vorstellungen einrichtet. Gut. Aber sind wir denn gewillt, in guten wie in schlechten Zeiten Seinen Willen zu tun (s. Mt. 6:10b)?.. Sind wir denn Gott gegenüber gerecht? - Wenn ich erfolgreich bin, war ich es, der das alles (allein!) geschafft hat. Wenn mir aber Geld, Karriere und Liebesglück versagt geblieben sind, dann war es selbstredend Gott, der mir nicht geholfen hat...
- Wir wollen, dass bei uns zu Hause in der Familie alles gut ist, dass wir vor Krankheit, Unglück usw. verschont werden? Gut. Aber was tun wir denn für das „Haus“ und die „Familie“ Gottes – die Kirche Christi? Wir gehen stillschweigend davon aus, dass sie irgendwie schon von alleine existiert („mit Gottes Hilfe“) und immer dann für uns da ist, wenn wir sie irgendwann mal doch brauchen. Ist das ein adäquater Umgang mit der Kirche, durch welche Gott „in allen Generationen“ verherrlicht wird (s. Eph. 3:21)?!..
Es ist schon überaus bedauerlich, wenn man im zwischenmenschlichen Bereich mit doppelten Standards arbeitet, denn so kann niemals Harmonie unter den Menschen entstehen. Aber ist es dann nicht geradezu aberwitzig, wenn wir in unserer Beziehung zu Gott mit zweierlei Maß messen?!..
Gott hätte sehr wohl das „Recht“, uns Seine „Standards“ aufzuerlegen, was uns bestimmt nicht zum Vorteil gereichen würde. Er tut es aber nicht. Stattdessen entäußerte Sich Christus „und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich“ (Phil. 2:7). Er veränderte Seine „Standards“ zu unseren Gunsten! Seinen einzigen „Vorrang“ sah Er nur darin, „der Erstgeborene der Toten“ (Kol. 1:18) zu sein, um „am Kreuz durch Sein Blut“ Frieden zu stiften (1:20).
Uns zuliebe hat Er die „Goldene Regel“ sogar umgekehrt: „Was wir nicht wollten, das uns (zurecht) geschieht, hat Er (ungerechterweise) über Sich ergehen lassen!.. Was ist das aber für ein Gott, Der uns so liebt?!.. Wir müssen doch wahrhaft von Sinnen sein, wenn wir so einen Gott verschmähen. Amen.