Predigt zum 11. Herrentag nach Pfingsten (1 Kor. 9:2-12; Mt. 18:23-35) (20.08.2023)
Liebe Brüder und Schwestern,
das Gleichnis aus dem Evangelium nach Matthäus vom unbarmherzigen Gläubiger, dem sein Herr und König gerade erst seine enormen Schulden erlassen hatte und der seinem Kameraden dessen geringe Schuld nicht erlassen wollte, ist uns allen bekannt wegen seines geistlich-allegorischen Gehalts. Jedes Kind versteht den Sinn dieser Parabel in Bezug auf die Herzlosigkeit des elenden Dieners (s. Mt. 18:32), welcher von unserem Herrn im Schlusssatz folgendermaßen zusammengefasst wird: „Ebenso wird Mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt“ (Mt. 18:35).
Wenden wir uns gleich diesem letzten Vers, der den Kern der Parabel ausdrückt, zu, und fokussieren uns auf das Allegorische, was ja den geistlichen Gehalt dieses Gleichnisses ausdrückt. Zu Beginn der zurückliegenden Großen Fastenzeit, in der orthodoxe Christen verstärkt ihre Sünden bekennen, warnte uns S.H. Patriarch Kyrill davor, in Formalismus zu verfallen. Genau der war es ja, der den Feinden Christi stets als Vorwand für ihre Anschuldigungen unseres Herrn diente. Und die Gefahr besteht bei uns heute auf ganz reale Weise. Wir „vergeben“ uns gegenseitig, indem wir formal dem Abbitte Leistenden gnädig signalisieren, dass sein Gewissen nun erleichtert sein kann, können aber noch lange danach nachtragend im Herzen sein und dies durch Worte und Taten auch zum Ausdruck bringen. Manchmal passiert es sogar, dass wir trotz äußerlich gewährter Vergebung (so auch alljährlich am Vergebungssonntag) auch noch nach Jahren Groll gegen unsere Mitmenschen empfinden können. Deshalb unterstreicht der Herr an der betreffenden Stelle, dass wir denjenigen, die sich uns gegenüber etwas haben zu Schulden kommen lassen, von ganzem Herzen verzeihen sollen. Wirklich von ganzem Herzen!
Diesen Gedanken können wir weiterspinnen, zumal wir uns ja erneut mitten in einer Fastenzeit befinden. Es ist nämlich nicht schwer zu erahnen, dass derjenige, welcher seinem Nächsten nur formal dessen Schuld vergibt, auch nur formal vor Gott seine Sünden bereut. Die langen Schlangen zur Beichte bei uns zeugen zwar von unserem Willen, von Gott Vergebung zu erlangen („straffrei davonzukommen“), sind aber keineswegs ein Beleg dafür, dass wir unsere Sünden tatsächlich aus der Tiefe unseres Herzens bereuen. Ein wegen eines Tötungsdeliktes Verurteilter äußerte mir gegenüber einst seine Genugtuung darüber, dass man als Orthodoxer nach jeder Schandtat einfach zur Beichte gehen und sofort Vergebung bekommen könne. Klar, dass dieses extreme Beispiel aus den späten 1990-er Jahren für uns fromme Kirchgänger grotesk anmuten muss, doch vom Wesen her wiederholt sich diese Einstellung ein ums andere mal: man zählt pflichtbewusst seine Sündlein auf, neigt sich zum Podest mit dem darauf liegendem Kreuz und Evangelium, damit der Priester einem das Epitrachilion auf den Kopf legen und das Gebet der Absolution lesen kann. Ist es das etwa, was uns das heutige Gleichnis lehrt?!.. Der Diener, welcher seinem Herrn unvergleichlich mehr schuldete als er es diesem je hätte zurückerstatten können, wagte nicht einmal im Traum daran zu denken, um Schuldenerlass zu bitten. Sein demütiges Flehen um Aufschub wertete der König aber als aufrichtiges Zeichen seines guten Willens, und erließ ihm die gesamte Schuld.
Der von S.H. Patriarch Kyrill erwähnte Formalismus drückt sich in unserer Beichtpraxis hingegen häufig dadurch aus, dass wir „ohne Reue bereuen“. Wir bekennen zwar beizeiten unsere Schuld, aber wiederholen unsere Sünden immer wieder. Formal küssen wir das Kreuz und das Evangelium, denken aber nicht daran, dass wir soeben Gott Besserung gelobt haben. Wer einem Menschen sein Ehrenwort gibt, tut das (in den meisten Fällen zumindest) bewusst. Wer einen Amtseid leistet, ist sich (so sollte man meinen) seiner Verantwortung bewusst. Aber Gott (de facto) einen Meineid schwören ist beileibe keine Lappalie, aber das wird einem gar nicht bewusst. Pflicht erfüllt, Häkchen dran, das war´s.
Wir leben in einer Zeit, in der Hass global gesät wird. Gehasst werden vor allem die, welche nicht hassen wollen! Politische Ereignisse sind dazu angetan, Ehen, Familien, Kirchengemeinden und sogar die Herde Christi zu spalten. Wenn aber Feindschaft auf politischer, nationaler oder konfessioneller Ebene geschürt wird, dürfen wir uns davon nicht vereinnahmen lassen, denn dann sind wir nicht besser als die, welche unseren Glauben verschmähen, unsere Gläubigen misshandeln und unsere Heiligtümer schänden. Was also können wir tun?
Wir können zunächst die Schuld bei uns suchen, und dann für alle Menschen beten (s. Jak. 5:16). Haben wir Gott etwa nicht durch unseren lauwarmen Formalismus gekränkt, indem wir vom Herrn zwar alles erwarten, Ihm selbst aber nichts geben wollen?! Dem Herrn gehört ohnehin alles in dieser Welt (s. Ps. 49:7-15) und es gibt nichts, womit der Mensch Gott als Gegenleistung für Dessen Güte vergelten könnte (s. Ps. 115:3). Zudem kann niemand etwas von sich aus tun, um seine Schuld vor Gott zu tilgen (vgl. Hebr. 10:4). Das kann und konnte (für uns) nur der Mensch gewordene Gott – unser Herr Jesus Christus. Sich Ihm gegenüber dankbar erweisen und anderen Menschen von Herzen vergeben (s. Mt. 6:12; Lk. 11:4), führt zu unserem Heil. Denn Dankbarkeit Gott gegenüber führt unweigerlich zu Barmherzigkeit gegenüber dem Menschen. So lehrt uns der Herr in Seinem Gleichnis. Und König David, schließlich, umschreibt das prophetisch so: „Den Kelch des Heiles will ich nehmen und den Namen des Herrn anrufen. Meine Gelübde will ich dem Herrn erfüllen vor all seinem Volk“ (Ps. 115:4-5). In modernem Deutsch heißt das: Beichte & Eucharistie – jedoch bar jeglichen Formalismus. Amen.