Predigt zum 1. Herrentag der Großen Fastenzeit / Triumph der Orthodoxie (Hebr. 11:24-26; 32-12:2; Joh. 1:43-51) (24.03.2024)
Liebe Brüder und Schwestern,
wenn wir am heutigen ersten Herrentag der Großen Fastenzeit feierlich den „Triumph der Orthodoxie“ begehen, halten wir die Kirche als unüberwindliche Hüterin der Wahrheit in Ehren (s. Mt. 16:18; 1 Tim. 3:15). Allerdings ist das so eine Sache mit der Wahrheit. In unserer pluralistischen Gesellschaft darf jeder gleichberechtigt seinen alleinigen Wahrheitsanspruch erheben. Woher nimmt also die Kirche die Befugnis, sich als Hüterin der göttlichen Wahrheit zu bezeichnen? Es ist ja unumstritten, dass es zahllose menschliche, also relative Wahrheiten gibt. Diese sind in allen nur denkbaren, mal mehr, mal weniger ausgeklügelten Systemen philosophischer, ideologischer oder religiöser Bauart formuliert worden. Die göttliche, also absolute Wahrheit ist hingegen schlicht formuliert. Unser Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, die Seligpreisungen, aber auch der Schöpfungsbericht oder der Prolog des Johannes-Evangeliums sind in sehr einfachen Worten verfasst. Diese Schlichtheit in der äußeren Darstellung hebt diese Wahrheiten aber gerade durch ihre unergründliche geistliche Tiefe von den nur auf menschlichem Intellekt oder auf subjektiven Erfahrungen basierenden Denk- und Glaubensmodellen hervor. Grundlage für die vollkommene geistliche Wahrheit kann demnach allein nur die göttliche Offenbarung sein. Unser Herr Jesus Christus ist „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14:6), also die personifizierte Offenbarung Gottes. Er hat uns keine philosophischen Weisheiten übermittelt, sondern Er ist gekommen, um das Gesetz und die Propheten zu erfüllen (s. Mt. 5:17). Wir können das zur Veranschaulichung an einem konkreten Beispiel festmachen. Die Frage nach dem wichtigsten Gebot beantwortete Er mit der Benennung gleich zweier Gebote: der Liebe zu Gott (s. Mt. 22:37; Mk. 12:30; vgl. Dtn. 6:5) und zum Menschen (s. Mt. 22:39; Mk. 12:31; vgl. Lev. 19:18). Daran aber entzündet sich schon die Grundsatzdiskussion darüber, ob dies überhaupt möglich ist. „Gott ist Geist, und alle, die Ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Joh. 4:24). Eine Konsequenz daraus ist: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, Den er nicht sieht“ (1 Joh. 4:20). Punkt.
Der logischen (menschlichen) Sichtweise der Schriftgelehrten zu Zeiten des Alten Testamentes zufolge hatte die Liebe zu Gott eindeutig die oberste Priorität; doch nun erklärt der Herr Jesus Christus das Gebot von der Nächstenliebe für ebenbürtig. Korrekt übersetzt heißt es: Das zweite Gebot ist dem ersten ähnlich. Das entbehrt einer gewissen Logik nicht, denn der Mensch ist nach dem Abbild Gottes geschaffen und sein Idealziel ist es, Gott ähnlich zu sein (s. Gen. 1:26-27), was aber allein aus menschlicher Kraft nicht möglich ist. Es bedarf hierzu der göttlichen Gnade. Und bei alledem bleibt dieses Ziel, Gott ähnlich zu werden, auf ewig unerreichbar. Und das ist der Schlüssel zum Verständnis der Liebe zu Gott und zu den Menschen. Das zweite Gebot kann dem ersten zwar ähnlich sein, kann diesem aber nicht absolut gleichgesetzt werden. Und das liegt buchstäblich in der Natur der Sache. Wir alle wissen, was es bedeutet, z.B. seine Eltern, Geschwister, seinen Ehepartner oder seine Kinder zu lieben. Dazu muss man nicht außergewöhnlich spirituell sein oder über einen überdurchschnittlichen Intellekt verfügen. Das ist die natürliche Liebe. Wenn sie in unseren Werken, Gedanken und Gefühlen abhanden gekommen ist, sprechen wir zurecht von unnatürlichem Verhalten. Wie aber kann der Mensch dann Gott lieben, Der ja kein fleischliches Wesen ist, sondern vollkommen geistlicher Natur ist?! Ganz klar, durch ein Leben nach dem Geist (s. Joh. 4:23-24; Röm. 8:1-17; Gal. 5:13-26)! Wer die christliche Botschaft richtig versteht, der weiß, was diese Worte bedeuten: „Wenn wir unsere Hoffnung nur in diesem Leben auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen“ (1 Kor. 15:19). Und da wir leider allzu oft eben das tun – von Gott zuallererst irdischen Beistand und vergängliche Güter erwarten (vgl. Mt. 6:19-21,33; Lk. 12:21,31) – bleibt Gott nichts anderes übrig, als uns durch vielerlei Drangsal in Sein Königtum zu führen (s. Apg. 14:22). Jeder von uns hat seinen fleischlichen Willen, durch den sich unsere gefallene Natur äußert (der „alte“ Mensch – s. Röm. 6:6; 7:7-25; Eph. 4:22). Diesen Kampf müssen wir – mit Gottes Hilfe – bestehen, denn „Fleisch und Blut können das Königtum Gottes nicht erben; das Vergängliche erbt nicht das Unvergängliche“ (Eph. 15:50). Welch ein unaussprechliches Glück, dass wir die Kirche haben! Sie weist uns den Weg zum Himmlischen Erbe. Gerade in der Großen Fastenzeit können wir lernen, was es bedeutet, ein Leben nach dem Geist zu führen, denn „wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit Ihm leiden, um mit Ihm auch verherrlicht zu werden“ (Röm. 8:17).
Gott lässt vielerlei Trübsal in dieser Welt zu. Er könnte uns in einem Augenblick auch Frieden, Wohlstand, Gesundheit, Sicherheit und alles erdenklich Gute an irdischen Dingen schenken, doch wie würden wir es Ihm vergelten? - Wahrscheinlich durch ein Leben, das nur auf den Genuss zeitlicher Güter ausgerichtet ist. In Russland sind die Kirchen für jedermann geöffnet, aber wie viele machen Gebrauch davon? Gott hat nur unser Seelenheil im Blick, nur darauf kommt es Ihm an – und wir sollten uns deshalb nach Gottes Vorsehung richten (s. Röm. 8:18). Er lässt das zu, was mittel- oder langfristig der Errettung unserer Seelen dient, denn „wir wissen, dass Gott bei denen, die Ihn lieben, alles zum Guten führt“ (Röm. 8:28). Die Kirche stellt uns alles Notwendige bereit, damit wir ein Leben im Einklang mit Gottes Willen führen und so dereinst die ewige Seligkeit im Königtum Gottes erlangen. „Vertrau auf Gott, Er wird dir helfen, hoffe auf Ihn, Er wird deine Wege ebnen“ (Sir. 2:6). Amen.