Predigt zum 22. Herrentag nach Pfingsten (Gal. 6:11-18; Lk. 10:25-37) (24.11.2024) Beliebt
Liebe Brüder und Schwestern,
der Dialog unseres Herrn mit einem Gesetzeslehrer ist ein weiteres Beispiel für die zwielichtige Erscheinung der Feinde Christi. Sie alle haben eines gemeinsam: sie kennen das Gesetz Gottes aus dem Effeff und meinen, damit allen anderen in der virtuell theokratischen Gesellschaft Israels, tatsächlich jedoch viel mehr in der mondänen Kultur der griechisch-römischen Welt überlegen zu sein. Ihre Gelehrtheit war unter der in religiösen Belangen toleranten römischen Welt die Garantie für eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft. Und nun kommt dieser Jesus aus Nazareth und beginnt damit, all ihre Prärogative in Frage zu stellen. Die Massen folgen Ihm überall hin, was für die Schriftgelehrten den Verlust ihrer Autorität und ihres Ansehens im Volke nach sich zieht. Dem wollen sie um jeden Preis entgegenwirken, und versuchen bei jeder sich bietenden Gelegenheit, diesen unliebsamen Prediger entweder vor dem Volk zu diskreditieren oder bei den Machthabern in Verruf zu bringen. Dieses Spannungsverhältnis bildet nun den Rahmen für den Dialog zwischen dem Gesetzeslehrer und Christus. Der Mann will vom Herrn wissen, was er tun müsse, um das ewige Leben, von dem er aus dem Munde Jesu wohl schon so viel gehört hat, zu gewinnen. Der Herr antwortet mit einer doppelten Gegenfrage: „Was steht im Gesetz? Was liest du dort?“ (Lk. 10:26). Warum diese pleonastische Fragestellung? - Was steht im Gesetz? - bezieht sich auf die objektive Tatsache; was liest du dort? - auf die subjektive Lesart des Gesetzeslehrers, der hier stellvertretend für alle Schriftgelehrten steht. Natürlich kommt die buchstabengetreue Antwort auf den Fuß: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst“ (Lk. 10:27; vgl. Dtn. 6:5; Lev. 19:18). Es fällt auf, dass der Gesetzeslehrer hier von sich aus beide Gebote in einem Atemzug nennt. Es ist nach der Darstellung des Evangelisten Lukas jedenfalls nicht zu erkennen, dass er diese Zusammenlegung beider Gebote zu einem Gebot zuvor aus dem Munde unseres Herrn direkt oder indirekt gehört hat, was jedoch keineswegs ausgeschlossen, für mich sogar naheliegend ist. Wie dem auch sei, beantwortet der Mann somit den ersten Teil der Frage unseres Herrn bezüglich dessen, was im Gesetz in Hinsicht auf die Heilrelevanz geschrieben steht. Möglich, dass der Mann durch die Zufügung des Gebots von der Nächstenliebe Eindruck bei seinem Gegenüber und den Zuhörern schinden will. Deshalb vielleicht beharrt er auf einer Vertiefung dieses Gedankens, nachdem ihm der Herr die Richtigkeit seiner Antwort bestätigt hat, danach aber offensichtlich kein Verlangen mehr hat, das Gespräch fortzuführen. Der Mann lässt also nicht locker: „Und wer ist mein Nächster?“ (Lk. 10:29). Damit offenbart dieser gelehrte Mann, dass er zwar den Buchstaben des Gesetzes in- und auswendig kennt, der Geist desselben ihm bis dahin aber verborgen blieb (vgl. 2 Kor. 3:6). Und das spricht Bände für den geistlichen Zustand aller Schriftgelehrten! Eine nur ideelle Liebe zu Gott, die sich allein im peniblen Befolgen von Gesetzesvorschriften äußert, ist ein Gräuel in den Augen des Herrn (s. Mt. 9:13; 12:7; vgl. Hos. 6:6). Und von welcher Liebe gegenüber dem Menschen kann in Anbetracht dieser Geisteshaltung überhaupt die Rede sein? Ein Mensch, welcher dermaßen von sich und seiner Frömmigkeit eingenommen ist, liebt in erster Linie sich selbst, und nicht seinen Nächsten. Und aus diesem Grunde erhält der Fragesteller nun eine Lehrstunde in Sachen tätiger Menschenliebe. Der Samariter, von dem der Herr erzählt, wäre ja aus der gesellschaftlichen Perspektive seiner Zeit gar nicht verpflichtet gewesen, seinem Feind, also dem Angehörigen einer Volksgruppe, die mit der eigenen keinen Umgang pflegte, in der Not beizustehen. Und wäre er lediglich ein Mann von hehren Prinzipien gewesen, hätte er ihn meinetwegen in der Herberge abliefern können und dann weiter seines Weges ziehen können („Sollen sich nun andere um ihn kümmern, ich habe meine Schuldigkeit getan“). Er aber handelt nicht aus Prinzipientreue, sondern aus Barmherzigkeit (s. Lk. 10:3-35), sorgt auch im Nachgang für den Schwerverletzten. Im übertragenen Sinne ist dieser Samariter unser Herr Jesus Christus Selbst, Der gekommen ist, um den von den Räubern (Dämonen) lebensgefährlich verwundeten Menschen zu retten. Dieses Gleichnis drückt bildhaft die vollkommenen Realität aus: den todkranken Zustand unserer Seele, die vom himmlischen Jerusalem abfiel und schnurstracks auf den Weg ins Bodenlose war, wofür sinnbildlich Jericho, in Ufernähe des Toten Meeres, steht. In unseren überbelegten psychiatrischen Anstalten sieht man heute ganz offen, wie die Menschen infolge ihrer „Freiheiten“ durch Alkohol-, Drogen- und Mediensucht zur Beute böser Mächte geworden sind; aber bei genauerem Hinsehen befindet sich die ganze Menschheit in einem dämonischen Wahn, von dem sie nur der barmherzige Samariter (unser Herr Jesus Christus) befreien kann, Der ihre Wunden mit Öl (Myronsalbung) und Wein (Eucharistie) heilt und ihnen hilft, den Weg in die rettende Herberge (die Kirche) zu finden.
Auch wir müssen auf der Hut vor satanischen Anschlägen sein. Wenn es dem Widersacher nicht gelingt, uns „auf die linke Tour“ vom Weg der Tugend und des Heils abzubringen, wird er es mit der viel subtileren Variante „des rechten Weges“ versuchen und uns zum sturen Befolgen von Gesetzesregeln animieren, wodurch wir in den noch schlimmeren Zustand der Bigotterie abgleiten.
Unser Herr, Der ja gleich zu Beginn Seiner Mission mit den Samaritern sympathisierte (s. Joh. 4:27-42), wurde von den Ihm feindlich gesinnten Juden despektierlich als von einem Dämon besessener Samariter bezeichnet (s. Joh. 8:48) – ein Umstand, der uns hilft, die tätige Liebe unseres Herrn zu verdeutlichen. „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern Er entäußerte Sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; Er erniedrigte Sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil. 2:6-8). Seine versöhnende Liebe uns gegenüber äußerte sich durch den Tod von Gottes Sohn als wir „noch (Gottes) Feinde waren“ (Röm. 5:10). Das alles bedeutet, dass Christus nicht nur ethische, politische, gesellschaftliche oder religiöse Barrieren überwand, sondern zu unserer Errettung auch den unüberwindlichen Abgrund zwischen Himmel und Hölle unwirksam machte (wir befanden uns zuvor ja in der Macht des Teufels). Es ekelte Ihn nicht nur nicht vor unserer gefallenen Natur und vor unseren eitrigen Wunden und übelriechenden Striemen, nein, Er wurde Selbst einer von uns, zog unsere zerrissenen, dreckigen und stinkenden Gewänder an, und überließ uns Sein Lichtgewand (s. 103:2; vgl. Lk. 15:22; Gal. 3:27) – mit anderen Worten: wenn Gott uns zuliebe Seine göttliche Natur „überwand“, dann können wir doch wenigstens unsere menschliche Natur überwinden und menschlich berechtigten Zorn, vertretbaren Groll, nachvollziehbare Verärgerung etc. überwinden, sprich, „das Böse durch das Gute“ besiegen (Röm. 12:21). Wir alle kennen doch jemanden aus unserer unmittelbaren familiären, nachbarschaftlichen, schulischen, beruflichen oder gemeindlichen Umgebung, der uns „das Leben schwer macht“. Statt zu wünschen, dass dieser Mensch besser nicht da wäre (er ist ja von Gott an diese Stelle gesetzt worden), wollen wir uns redlich bemühen, ihn so zu akzeptieren wie er ist, ihm seine Schwächen nachzusehen und über seine Sünden hinwegzusehen. Wenn Gott durch die Gleichsetzung der Menschenliebe mit der Gottesliebe (s. Mt. 22:36-40; Mk. 12:28-33) in unfassbarer Weise „mit gutem Beispiel vorangeht“, dann wollen wir doch im Rahmen unserer menschlichen Natur das Menschenmögliche tun, um jegliche Feindschaft zwischen den Menschen zu besiegen und Frieden auf Erden zu stiften. Das ist unser Beitrag zur Wiederherstellung unserer gefallenen und von den dämonischen Kräften entstellten Natur. Mit Jesus Christus, Der uns alle durch das Kreuz in einem Leib versöhnte, können auch wir jegliche Feindschaft töten (s. Eph. 2:16).
Für eine „bessere Welt“ eintreten können wir nicht, indem wir an Demonstrationen teilnehmen und politischen oder sozialen Bewegungen beitreten, sondern nur dadurch, dass wir ein Leben in Christus führen.
Abschließen will ich heute mit den Worten des Apostels Paulus aus der heutigen Lesung aus dem Galaterbrief, die gewissermaßen das oben Gesagte ergänzen: „Ich aber will mich allein des Kreuzes Jesu Christi, unseres Herrn, rühmen, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt. Denn es kommt nicht darauf an, ob einer beschnitten oder unbeschnitten ist, sondern darauf, dass er neue Schöpfung ist. Friede und Erbarmen komme über alle, die sich von diesem Grundsatz leiten lassen, und über das Israel Gottes“ (Gal. 6:14-16). Sich des Kreuzes Christi rühmen bedeutet, dass wir nur in diesem Kreuz unsere Hoffnung auf Heil haben, so der hl. Theophan der Klausner. Amen.