Predigt zum 6. Sonntag nach Pfingsten (15.07.2012) (Röm 12, 6-14. Mt 9, 1-8)
Liebe Brüder und Schwestern,
heute berichtet uns die Heilige Schrift (Mt. 9: 1-8) davon, wie unser Herr Jesus Christus den See überquert und in „Seine Stadt“ (9: 1) kommt. Gemeint ist damit Kafarnaum – die Stadt, in der der Herr wohnte, bevor Er der Welt erschienen war und von der Er mit Seinen Jüngern zu Seinen Predigten aufbrach. Hier wird ein Gelähmter auf einer Tragbahre zu Ihm gebracht. Es ist interessant, dass sich die Synoptiker (die drei ersten Evangelisten – Matthäus, Markus und Lukas) sehr oft in z.T. nicht unerheblichen Details nicht ganz einig sind – waren es zwei Blinde in Jericho, oder nur einer?; waren es zwei Besessene im Lande der Gedarener, oder nur einer?; haben beide Räuber am Kreuz den Herrn beschimpft, oder nur einer?; hat der Hahn in der Nacht der Gefangennahme des Herrn zweimal gekräht, oder nur einmal?; - doch hier bemerken alle drei Evangelisten, dass es der Glaube der vier Träger ist, der das Mitleid des Herrn erregt. Noch ist ja nicht von (körperlicher) Heilung die Rede – Er spricht: „Hab Vertrauen, Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ (9: 3) – auch hier sind die drei Synoptiker konsequent und übereinstimmend. Sie betonen etwas, was sich bei rein äußerlicher Betrachtung nicht sofort erschließen lässt.
Also geben uns die Evangelisten, inspiriert vom Heiligen Geist zu verstehen, dass der Glaube eine notwendige Voraussetzung ist, um von Gott Hilfe erwarten zu können. Wir kennen das wohl alle, dass Gott einem jeden die „Gnade der Berufung“ schenkt: ein Kind, das gerade erst lernt, selbständig zu beten, wird beim ersten Mal erhört, wenn es z.B. für seine kranke Mama bittet; ein Jugendlicher, der in seiner Ausweglosigkeit zum ersten Mal überhaupt mit Gott spricht, besteht die schwere Abschlussprüfung in der Schule; ein bekennender Atheist, der in der Kurve die Kontrolle über seinen Wagen verliert und gerade noch Zeit für ein Stoßgebet hat – es gibt unzählige Beispiele dafür, wie Gott dem hilft, der Ihn erstmals um Beistand bittet. Auch ein neues Mitglied der Kirche, ein frisch verheiratetes Paar, ein soeben geweihter Priester, ein Mönch, der gerade sein Gelübde abgelegt hat – sie alle wissen, dass Gott für uns alle ein „Begrüßungsgeschenk“ bereit hält.
Aber was machen die Menschen? Wenn Sie die Anlage der E-Mail, die ich Ihnen gestern verschickt hatte, geöffnet haben, konnten Sie lesen, wie ein kleiner Junge mit seiner Mutter spontan in eine Kirche geht, doch die Mutter wird von zwei uns wohl allzu gut bekannten Repräsentantinnen eines bestimmten „orthodoxen“ Frauentyps aus der Kirche gescheucht, weil sie nicht passend gekleidet ist.
Auch ich erinnere mich, als wir mit meiner Frau als frisch verheiratetes Paar mal nach Paris fuhren und in der Nähe der Place d´Etoile spontan in die russische Alexander-Newsky-Kathedrale in der Rue Daru gingen. Meine Frau war mit weißen Jeans und mit einem hübschen, frisch gebügelten kurzärmeligem Hemd bekleidet, denn es war brütend heiß an diesem Sommertag. Wir blieben bis zum Ende der Liturgie. Als wir die Kirche verließen, stürmte uns ein ehemaliger Sowjetbürger (also keiner aus der „alten“ Emigration) hinterher und beschimpfte meine Frau dafür, dass sie es gewagt hatte, in Hosen und ohne Kopftuch ein Gotteshaus zu betreten. Dieser Zeitgenosse war selbst in ausgebleichten 08/15-Jeans und mit einem verschwitzten, zerknitterten Woolworth-T-Shirt bekleidet. Ich erklärte ihm, dass es nicht seine Sache sei, hier die Kleiderordnung zu bestimmen - schließlich seien wir in Paris, und nicht in Moskau, und außerdem habe weder der Priester, noch die Nonne am Kerzentisch etwas gesagt, - doch er blieb bei seinem Standpunkt und drohte uns weiter Höllenstrafen an.
Wie verhält sich unser Herr, dem wir doch alle nacheifern wollen? Er weist den zu Ihm gekommenen, auf der Tragbahre liegenden Sünder nicht ab. Er hätte ihn auch sofort heilen können, doch, gegen alle Erwartung vergibt Er ihm zunächst „nur“ die Sünden. Er gibt damit zu verstehen, dass es das ist, worauf es ankommt. Denn auch in unserem kirchlichen Alltag kommen die Menschen häufig zu Gott, wenn sie Leid, Not, Schmerz, Gefahr oder Angst empfinden. Wir alle, nicht nur die Priester, können so einem Menschen erst einmal die Tür öffnen, ihm zeigen, dass er willkommen ist. Und sicher können, ja müssen wir irgendwann auch mal zur Sache kommen und über Ursache und Wirkung, über den Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit bzw. zwischen seelischem und körperlichem Gebrechen sprechen. So tut es der Herr, ohne freilich den Menschen anzuklagen. Er gibt ihm vielmehr Hoffnung: „Hab Vertrauen...“
Wie reagieren aber die Schriftgelehrten? - „Er lästert Gott“ (9: 3). In allem Gutem, was der Herr tut, sehen sie nur Böses. Das Pharisäertum ist der verlängerte Arm des Widersachers, die „fünfte Kolonne“ in Gottes Volk - damals wie heute. Denn auch heute werden Menschen aus unsere Mitte vertrieben, die vielleicht gerade erst über die Schwelle der Kirche getreten sind.
Ich komme nicht umhin festzustellen, dass dadurch die heute vernommenen Worte des hl. Apostels Paulus pervertiert werden: „In allem erweisen wir uns als Gottes Diener: durch große Standhaftigkeit, in Bedrängnis, in Not, in Angst, unter Schlägen, in Gefängnissen, in Zeiten der Unruhe, unter der Last der Arbeit, in durchwachten Nächten, durch Fasten, durch lautere Gesinnung, durch Erkenntnis, durch Langmut, durch Güte, durch den Heiligen Geist, durch ungeheuchelte Liebe, durch das Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit in der Rechten und in der Linken, bei Ehrung und Schmähung, bei übler Nachrede und bei Lob. Wir gelten als Betrüger, und sind doch wahrhaftig; wir werden verkannt und doch anerkannt; wir sind Sterbende, und seht: wir leben; wir werden gezüchtigt und doch nicht getötet; uns wird Leid zugefügt, und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm, und machen doch viele reich; wir haben nichts und haben doch alles“ (2 Kor. 6: 4-10).
Ja, nur sind es heute oftmals die Gläubigen, die den Suchenden Leid zufügen. Fast ist man geneigt zu sagen: wie schön muss es in der Sowjetunion gewesen sein, als man zwar außerhalb der Kirche Schmähungen und Benachteiligungen erdulden musste, doch drinnen Trost, Friede und Verständnis fand!
Und lassen Sie mich noch einen draufsetzen: wie gut, dass damals „die anderen“ an der Macht waren. Was wäre wohl gewesen, wenn wir, wie im Westen unseres Kontinents geschehen, die Macht gehabt hätten, über das Schicksal von echten oder vermeintlichen Feinden der Kirche zu entscheiden?...
In zahlreichen Abschnitten des Evangeliums wird in wenigen Zeilen, manchmal sogar in nur einem Satz, die ganze Lehre vom Heil Gottes auf wundersame Weise komprimiert ausgedrückt. So auch hier. „Was ist leichter, zu sagen: deine Sünden sind dir vergeben!, oder: zu sagen: Steh auf und geh umher?“ (9: 5).
Gemeint ist: wer durch Seine Macht einen Gelähmten aufrichten kann, dem wird es doch nicht schwerfallen, ihm auch die Sünden zu erlassen. Wer durch das bloße Wort den Körper heilt, kann auch die Seele von ihrem Leid befreien.
Gibt es größeres Glück als das? Ich brauche eigentlich nichts weiter zu tun, als zu glauben, dass ich zwar Sünder bin, aber jederzeit Heilung finde bei Dem, Der diese Sünden auf Sich genommen hat. Also werde ich, wenn ich wirklich glaube, die Sorge um das Seelenheil höher stellen, als die Sorge um das leibliche Wohl – und mein ganzes Leben danach ausrichten. Für uns alle ist es wichtig, dass wir uns Gott gegenüber dankbar erweisen, und diese Wertigkeit in unserem eigenen Interesse befolgen. Alles andere wäre gleichbedeutend mit Undank gegenüber dem Allerhöchsten, und das würde dann wirklich heißen: wir lästern Gott. Darin besteht doch die Frohe Botschaft, dass wir durch die vom Apostel Paulus angesprochenen Prüfungen das Heil für unsere Seelen erlangen und dabei trotzdem in dieser Welt frohlocken dürfen.
Die einzige Reaktion auf neu Hinzugekommene und Haltsuchende kann dann folglich nur Langmut, Nachsicht und Liebe sein. Dazu müssen wir selbst aber zunächst vom „Geist der Sanftmut“ (Gal. 6: 1) erfüllt sein, uns selbst als heilungsbedürftige Kranke sehen, die nicht allein, sondern durch die Gemeinschaft mit anderen und auch durch deren Unterstützung Hilfe vom Herrn erlangen können. Um also nicht den Weg der Schriftgelehrten von Kafarnaum zu beschreiten, sollten wir uns immer in den Tugenden der Selbsterniedrigung und der Demut vor Gott üben. Sie vermögen nämlich Türen zu öffnen, von Häusern, Kirchen und Herzen.
Amen.