Predigt zum 28. Sonntag nach Pfingsten (Kol. 1: 12-18; Lk. 18: 18-27) (16.12.2012)
Liebe Brüder und Schwestern,
am heutigen Sonntag bietet uns der Kirchenkalender folgende Begebenheit aus der Evangeliumslesung zur geistlichen Erbauung an. Einer „der führenden Männer“ (in den Parallelstellen bei Matthäus und Markus ist von einem jungen Mann die Rede) kommt zu unserem Herrn und spricht: „Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ (Lk. 18: 18) - Schon anhand dieser Anrede sind die biblischen Kommentatoren uneins: einige glauben, dass es sich hierbei um einen weiteren Versuch der Feinde Christi handelt, Ihm eine Falle zu stellen - mit dem Ziel, was immer Er sagen wird, als kompromettierendes „Beweismaterial“ gegen Ihn vorbringen zu können. Andere wiederum sehen in dem Jüngling einen Wahrheitssuchenden, der sich einem moralischen Lebenswandel verschrieben hat und aufrichtig das ewige Leben erlangen will, von dem er wohl direkt oder indirekt durch die Predigten des Herrn gehört hatte. Die Tatsache, dass bei Markus davon die Rede ist, dass der Herr Seiner menschlichen Natur gemäß Sympathie für ihn empfindet, und dass Er den Jüngling auffordert, Ihm nachzufolgen, lässt letztere Version in meinen Augen für glaubhafter erscheinen.
Beachtenswert und wohl nicht ganz abwägig erscheint mir auch die Annahme einiger Exegeten, derzufolge der reiche Jüngling mangels klarer spiritueller Vorstellung bei seiner Suche nach dem ewigen Leben von rein materiellen Vorstellungen ausgeht: als reicher und junger Mensch hat er ein vitales Interesse daran, diesen Zustand irdischen Wohlergehens nach Möglichkeit für alle Zeiten zu bewahren. Und so sucht er nach möglichst einfachen (oder soll ich paradoxerweise sagen: todsicheren?) Mitteln und Wegen, diese Unsterblichkeit zu erlangen. Da ist kein Platz für innere, geistlich-moralische Vervollkommnung, von der Suche Gottes als dem Ziel an sich.
Wir würden es manchmal auch gerne einfacher haben, fragen oft den Priester: „Was muss ich tun“, um z.B. würdig die Hl. Gaben empfangen zu dürfen , d.h. wieviel Tage fasten, wieviel Gebete lesen usw. Es ist schon sonderbar, dass diese Geisteshaltung, obgleich sie, wie wir gleich sehen werden, von unserem Herrn als nicht heilsbringend offengelegt wird, auch in kirchlichen Kreisen genügend Anhänger findet. Man fürchtet sich vor der Freiheit und der mit ihr verbundenen Verantwortung für das eigene Handeln, weshalb man allzu gerne zu einfachen und klaren Rezepten greifen würde. Das Resultat kennen wir, aber davon wird zu gegebener Zeit (vor allem am Sonntag des Zöllners und des Pharisäers) noch in aller Ausführlichkeit die Rede sein.
Und noch etwas außergewöhnliches, was in der heutigen evangelischen Begebenheit auf den ersten Blick nicht verständlich erscheint, ist die prompte Zurechtweisung des Herrn: „Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut, außer Gott, dem Einen“ (18: 19). - Ist das etwa eine Verleugnung der eigenen Gottheit Jesu, also Wasser auf die Mühlen der Arianer, Nestorianer u.v.a.? - Johannes Chrysostomos gibt uns die Antwort: offensichtlich sieht der Jüngling im Herrn bloß einen Lehrer von vielen, also nicht den Mensch gewordenen Sohn Gottes. Allerdings muss der junge Mann auch gehört haben, dass Jesus Sich selbst als Christus und Sohn Gottes bezeichnet hat, deshalb also diese zaghaft formulierte diplomatische Anrede (ähnlich wie wir heute z.B. den Dalai Lama aus Höflichkeit bzw. poltischer Korrektheit mit „Eure Heiligkeit“ anreden würden). Folglich weist der Herr darauf hin, dass Er, wäre Er bloß ein einfacher Rabbi, nicht im absoluten, ontologischen Sinne „gut“ sein kann. Das „Gute“, das es fraglos auch in Menschen gibt, kommt von „Gott, dem Einen“, dem Schöpfer und Ursprung alles Guten. Mit anderen Worten soll damit ausgedrückt werden: „Wenn du Mich nicht für den göttlichen Lehrer hälst, dann lass doch einfach diese Höflichkeitsfloskeln sein!“
Wie dem auch sei, der im Geiste der Schriftgelehrten seiner Zeit erzogene junge Mann will wissen, wie er das ewige Leben erlangen kann. Der immer noch in Seiner Ihm zugewiesenen Rolle eines (gewöhnlichen) Lehrers verharrende Herr verweist diesen auf das Gesetz, genauer, auf die Gebote, die die Liebe und die Achtung zum Mitmenschen einfordern: „Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen; ehre deinen Vater und deine Mutter“ (18: 20). Der junge Mann hat, rein äußerlich, all diese Gebote von Kindheit an bewahrt. „Ist das etwa alles?!“ - instinktiv spürt er, dass es das noch nicht gewesen sein kann. Und der Herr erkennt dieses Bestreben in dem jungen Mann, ermutigt ihn, den nächsten, wesentlichen und entscheidenden Schritt zu machen: „Eines fehlt dir noch: Verkauf alles, was du hast, verteil das Geld an die Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge Mir nach“ (18: 22). Die Reaktion des reichen Jünglings kennen wir. Mich erstaunt die Tatsache, dass damalige und auch heutige „Schriftgelehrte“, die vorgeben, die Heilige Schrift genauestens zu kennen und nur diese als Maßstab für das menschliche Tun zu akzeptieren, blind zu sein scheinen, wenn es um die Befolgung eindeutigst formulierter moralischer und spiritueller Normen geht. Auch unser heutiger Schriftgelehrter kannte ohne jeden Zweifel die Worte des Herrn vom allen Sündern angedrohten Strafgericht aus dem Buch des Propheten Zefania, dessen Gedächtnis die Heilige Kirche gerade heute begeht: „Weder ihr Silber noch ihr Gold kann sie retten am Tag des Zorns des Herrn“ (Zef. 1: 18).
Gewiss, laut Johannes Chrysostomos ist Reichtum nicht gleichbedeutend mit Verdammung. Abraham und Hiob waren reich. Reichtum galt in „biblischen Zeiten“ sogar als Zeichen des göttlichen Wohlwollens. Also ist nicht der Reichtum selbst, sondern die Anhänglichkeit des Herzens zu demselben eine Sünde. Die beiden genannten Vorväter bewiesen nämlich zu Zeiten der Prüfung, dass weder Reichtum, noch körperliche Unversehrtheit, ja nicht einmal das Leben der eigenen Nachkommen für sie wichtiger war als die Liebe und Treue zum Herrn. Aber Menschen wie Abraham und Hiob sind zu allen Zeiten Ausnahmen gewesen - im „gesetzestreuen“ Israel, wie in unserer säkularisierten Gesellschaft. Deshalb spricht der Herr: „Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen. Denn eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ (18: 25).
Wir sehen, dass Christus nun die Akzente verschiebt: Es soll uns also nicht bloß um das ewige Leben gehen. Es geht um das Leben im Reich Gottes, denn ein Leben ohne Christus ist Finsternis, gleichbedeutend mit dem Tod.
Der Apostel Paulus ruft uns gemeinsam mit der Gemeinde in Kolossae in der heutigen Apostellesung zu: „Dankt dem Vater mit Freude! Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Los der Heiligen, die im Licht sind. Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich Seines geliebten Sohnes. Durch Ihn haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden“ (Kol. 1: 12-14).
Paulus schreibt dies an die Kolosser, weil diese durch falsche Lehrer verführt worden waren und so dem Irrglauben verfielen, dass nicht Christus, sondern die Engel als Werkzeuge und Gehilfen Gottes ursächlich für das Heil der Menschen und somit für die Möglichkeit zur Erlangeung des ewigen Lebens gewesen waren.
Und so fährt der Apostel fort:
„Er (Christus) ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.
Denn in Ihm wurde alles erschaffen
im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare.
Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten;
alles ist durch Ihn und auf Ihn hin geschaffen.
Er ist vor aller Schöpfung,
in Ihm hat alles Bestand.
Er ist das Haupt des Leibes,
der Leib aber ist die Kirche.
Er ist der Ursprung,
der Erstgeborene der Toten,
so hat Er in allem den Vorrang.
Denn Gott wollte mit Seiner ganzen Fülle
in Ihm wohnen,
um durch Ihn alles zu versöhnen.
Alles im Himmel und auf Erden
wollte Er zu Christus führen,
Der Friede gestiftet hat am Kreuz durch Sein Blut“ (1: 15-20)
Das ist eine sinngemäße Wiedergabe des Prologs zum Evangelium des Johannes, das wir immer in der Osternacht hören. In dieser „Nacht der Nächte“, die uns Christen doch mehr bedeutet als alles andere in dieser vergänglichen Welt, wird einem jedem von uns klar, was für uns der wahre „Reichtum“ ist. Hätte der reiche Jüngling bloß erkannt, dass der wahre Sinn des Lebens in der Versöhnung mit Gott durch Christus besteht!... Doch für ihn verhallen die Worte des Apostels ungehört: „Auch ihr standet Ihm einst fremd und feindlich gegenüber; denn euer Sinn trieb euch zu bösen Taten. Jetzt aber hat Er euch durch den Tod Seines sterblichen Leibes versöhnt, um euch heilig, untadelig und schuldlos vor Sich treten zu lassen. Doch müsst ihr unerschütterlich und unbeugsam am Glauben festhalten und dürft euch nicht von der Hoffnung abbringen lassen, die euch das Evangelium schenkt. In der ganzen Schöpfung unter dem Himmel wurde das Evangelium verkündet; ihr habt es gehört, und ich, Paulus, diene ihm“ (1: 21-23).
Wer aber dem Mammon dienen will und glaubt, von diesem Leben alles mitnehmen und trotzdem in das Reich Gottes kommen zu können, dem wird, ähnlich Abraham, Hiob und dem reichen Jüngling irgendwann auf die eine oder andere Weise klar gemacht werden: entweder... oder!
Womöglich werden wir, die wir noch Wohlstand und Sicherheit genießen, wie so zahlreiche Nachfolger Christi vor uns, dereinst vor die Wahl gestellt: „Links das Stück Brot, rechts das Kreuz Christi. - Entscheidet euch!“
Wer in solch einer Situation zögert, der zeigt, dass er das Evangelium Zeit seines Lebens nur pro forma, wie der reiche Jüngling, allein dem Buchstaben nach befolgt hat. Wenn er aber Christus, Der Selbst keine Familie und keinen Besitz hatte, nachfolgen will, dann muss er bereit sein, gegebenenfalls auf alles Irdische – Besitz, Familie, sogar auf sein eigenes Leben – zu verzichten.
Das Evangelium ist, wie wir wissen, kein Katalog von seligmachenden Vorschriften, wie es der reiche Jüngling vielleicht gerne gehabt hätte. Es lässt dem gottesfürchtigen Christen die Freiheit, auf vielerlei Wegen in das Reich Gottes zu gelangen. Nur in zwei Punkten ist das Evangelium absolut und kategorisch: im Glauben und in der Liebe.
Der Glaube äußert sich in der Zugehörigkeit zum Leib Christi, der Kirche – ungleich der Vorstellung des reichen Jünglings aber nicht bloß formell, nicht bloß durch das Befolgen äußerer Handlungen, sondern durch den Glauben an die gnadenhafte Heilswirkung der Mysterien, durch die Gott uns fähig macht, „Anteil am Los der Heiligen zu haben, die im Licht sind“ (Kol. 1: 12).
Die Liebe äußert sich darin, dass sie selbst vor Feinden keinen Halt macht. Doch über allem steht Christus und Sein Evangelium vom Reich Gottes: „Jeder, der um des Reiches Gottes willen Haus oder Frau, Brüder, Eltern oder Kinder verlassen hat, wird dafür schon in dieser Zeit das Vielfache erhalten und in der kommenden Welt das ewige Leben“ (Lk. 18: 30).
Wir wissen aber, dass wir in diesen höchsten aller Tugenden, gelinde gesagt, nicht vollkommen sind. Und so drängt sich auch uns die Frage auf: „Wer kann dann noch gerettet werden?“ (Lk. 18: 26).
Wir kennen die Antwort. Unser in menschlicher Schwachheit offenbarter Glauben und die gemäß menschlichen Kräften in uns wohnende Liebe zu Gott sind die Voraussetzungen dafür, dass das, was den Menschen unmöglich ist, Gott durch Seine allmächtige Gnade wider allen Gesetzen, Normen, Regeln und Vorstellungen dieser Welt möglich macht (s. Lk. 18: 27).
Amen.