Predigt zum Herrntag des Gedenkens an die Vertreibung aus dem Paradies / Vergebungssonntag (Mt. 6: 14-21) (17.03.2013)
(Röm. 13: 11 – 14: 4)
„So spricht der Herr der Heere: Das Fasten des vierten, das Fasten des fünften, das Fasten des siebten und das Fasten des zehnten Monats werden für das Haus Juda Tage des Jubels und der Freude und froher Feste sein. Darum liebt die Treue und den Frieden!“ (Sach. 8: 18-19)
Liebe Brüder und Schwestern,
der heutige Sonntag, der letzte Tag vor der Großen Fastenzeit, ist liturgisch dem Gedenken an die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies gewidmet. Gleichsam mit unseren Ureltern stehen wir weinend vor den verschlossenen Toren des Paradieses und sehnen uns zurück nach der Wonne der ungetrübten Gemeinschaft mit dem Himmlischen Vater. Wir weinen ob unserer Verfehlungen, wir bekennen unsere Schuld – doch wir verzweifeln nicht. Wir sind, im Gegenteil, fest dazu entschlossen, den beschwerlichen Weg der Wiederherstellung dieser paradiesischen Harmonie mit unserem Schöpfer zu gehen. Fürwahr, ist dieses Ziel es nicht wert, dass wir es in Angriff nehmen, zumal uns der Himmlische Vater doch Selbst dazu ermutigt?! In den zurückliegenden Wochen spornte Er uns an, zeigte uns die Gangbarkeit dieses Weges z.B. anhand des rührenden Gleichnisses vom Verlorenen Sohn. Er Selbst ist unser Motivator – wie ein Pädagoge, der seine Studenten zu Höchstleistungen vor dem Examen antreibt, wie ein Trainer, der seine Spieler vor dem entscheidenden Match „heißmacht“, wie ein Feldherr, der seine Soldaten auf das alles entscheidende Gefecht einstimmt. Die Botschaft lautet: Das Ziel ist nahe, ihr könnt es Schaffen!
Also, weg mit der Mutlosigkeit und Trägheit! Es soll uns zunächst darum gehen, den Sinn der Enthaltsamkeit zu erkennen. Vielleicht denkt der eine oder andere: das Fasten ist eine Selbstläuterung, eine Geißelung als Strafe für unsere Sünden. Aber in welcher Zeit leben wir denn? Und ist es das, was der liebende Vater will? - Ganz im Gegenteil! Enthaltsamkeit soll uns Freude bereiten, nach anfänglicher Anstrengung soll es uns leicht fallen, dem immer näher rückenden Ziel entgegenzuschreiten. Ich habe noch nie einen Olympiasieger im Marathonlauf gesehen, der auf dem Zahnfleisch über die Ziellinie kriecht – gewinnen tut der, der bei Kilometer 35 die zweite Luft kriegt und dann seinen Turbo einschaltet... Und so ergeht es dem, der die wahre Schönheit der Enthaltsamkeit erkennt.
Der spätere Patriarch Sergij (Stragorodskij) von Moskau und der ganzen Rus´ (1943-45) schrieb in seiner bemerkenswerten Abhandlung „Die orthodoxe Heilslehre“ («Православное учение о спасении»), dass viele seiner Zeitgenossen im vorrevolutionären Russland eine falsche Vorstellung von der geistlichen Askese hätten. Damals, vor hundert Jahren, überwog bei vielen die Vorstellung, dass selbstauferlegtes Leiden, Entbehrungen, Kasteiungen etc. durch ihre negativen Effekte Gott gefällig seien, nach dem Motto: Ich leide und verzichte im Diesseits, kriege dafür aber eine entsprechend hohe Belohnung im Jenseits. Aber das ist absurd! Natürlich lehrt uns der Glaube, dass wir unverschuldet über uns gekommenes Leid mit Geduld und Demut ertragen sollen: „Freut euch, dass ihr Anteil an den Leiden Christi habt; denn so könnt ihr auch bei der Offenbarung Seiner Herrlichkeit voll Freude jubeln“ (1 Petr. 4: 13); ferner ermahnt uns die Schrift, uns füreinander einzusetzen: „Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Gal. 6: 2), also stets ein Beispiel an Selbstlosigkeit abzugeben: „Wir müssen als die Starken die Schwäche derer tragen, die schwach sind, und dürfen nicht für uns selbst leben“ (Röm. 15: 1) – und koste es was es wolle! Diese Aufopferung ist Gott gefällig, weil es um Christi willen, im Namen der Nächstenliebe geschieht. Aber ganz anders sieht es mit sich selbst willkürlich zugefügten Leiden und Schmerzen aus: Was muss das für ein Gott sein, dem solch ein Opfer angenehm ist?!
Deshalb führt uns der spätere Patriarch Sergij zur Erbauung einen der bemerkenswertesten Abschnitte der Bibel zu Gemüte: Psalm 118 (Septuaginta), der anschaulich belegt, dass dem Herrgott nicht Entbehrungen und Opfer an sich gefällig sind, sondern dass Ihm vielmehr daran gelegen ist, uns mittels der Einhaltung Seiner Gebote schon in dieser unvollkommenen Welt an der Seligkeit der künftigen vollkommenen Welt teilhaben zu lassen. Diesen Vorgeschmack bekommt jeder, der sich mit reinem Herzen zu Gott bekennt. Deshalb nennen wir Heilige wie Seraphim von Sarov oder Hiob von Potchaev auch „Engel im Fleische“, „himmlische Menschen“ bzw. „irdische Engel“. Sie sind mit unzähligen Anderen leuchtende Beispiele dafür, dass man durch geistliche Askese, noch im Leib befindlich, das Reich Gottes erlangen kann (s. Lk. 17: 21). Sie waren mit dem Leib noch auf der Erde, während sie im Geiste schon im Himmel lebten (s. 2 Kor. 12: 2-4). Der Psalm 118 ist, übrigens, das längste Einzelkapitel in der Bibel; dieser eine Psalm unfasst auch eine ganze Kathisme des Psalters (das Buch der Psalmen wird in 20 Kathismen unterteilt, die wiederum in drei Abschnitte gegliedert sind, die sich ihrerseits üblicherweise aus mehreren Psalmen zusammensetzen). Der Psalm 118 bzw. die 17. Kathisme des Psalters besteht aus 176 Versen, und obwohl es der längste abgeschlossene Abschnitt der Heiligen Schrift ist, ist dort in der Sprache der Lyrik nur von einem die Rede: davon, dass die Befolgung der Gebote Gottes ein nie versiegender Quell der Freude, der Sicherheit und Geborgenheit ist!
„Wohl denen, deren Weg ohne Tadel ist,
die leben nach der Weisung des Herrn (1)
(...)
Ich suche Dich von ganzem Herzen,
lass mich nicht abirren von Deinem Gebot (10)
(...)
In Sehnsucht nach Deinem Urteil
verzehrt sich allezeit meine Seele (20)
(...)
Ich wählte den Weg der Wahrheit,
nach Deinen Urteilen hab´ ich Verlangen (30)
(...)
Nach Deinen Befehlen hab´ ich Verlangen.
Gib mir neue Kraft durch Deine Gerechtigkeit (40)
(...)
Das ist mein Trost im Elend:
Deine Verheißung spendet mir Leben (50)
(...)
Ich eile und säume nicht,
Deine Gebote zu halten (60)
(...)
Stolze verbreiten über mich Lügen,
ich aber halte mich von ganzem Herzen an Deine Befehle. (69)
Abgestumpft und satt ist ihr Herz,
ich aber ergötze mich an Deiner Weisung (70)
(...)
Mein Herz richtet mich ganz nach Deinen Gesetzen;
dann werde ich nicht zuschanden (80)
(...)
Deine Treue währt von Geschlecht zu Geschlecht;
Du hast die Erde gegründet, sie bleibt bestehen (90)
(...)
Mehr Einsicht habe ich als die Alten,
denn ich beachte Deine Befehle (100)
(...)
Frevler legen mir Schlingen,
aber ich irre nicht ab von Deinen Befehlen (110)
(...)
Aus Ehrfurcht vor Dir erschauert mein Leib,
vor Deinen Urteilen empfinde ich heilige Scheu (120)
(...)
Die Erklärung Deiner Worte bringt Erleuchtung,
den Unerfahrenen schenkt sie Einsicht (130)
(...)
Deine Worte sind rein und lauter;
Dein Knecht hat sie lieb (140)
(...)
Mir nähern sich tückische Verfolger;
sie haben sich weit von Deiner Weisung entfernt (150)
(...)
Das Wesen Deiner Worte ist Wahrheit,
Deine gerechten Urteile haben auf ewig Bestand (160)
(...)
Mein Flehen kommt vor Dein Angesicht.
Reiß mich heraus getreu Deiner Verheißung (170)
(...)
Ich bin verirrt wie ein verlorenes Schaf.
Suche Deinen Knecht!
Denn Deine Gebote habe ich nicht vergessen. (176)
Wir sehen, dass dieses poetische Loblied den Weg aufweist, wie man unbeirrt, allen Widrigkeiten zum Trotz, in Liebe und Treue zu Gott gefestigt aus allen Prüfungen des irdischen Lebens hervorgeht. Dieses Ziel verfolgen wir auch in der bevorstehenden Fastenzeit.
Die prophetische Einsicht König Davids veranlasste den Apostel Johannes im Neuen Testament zu folgenden Worten: „Die Liebe zu Gott besteht darin, dass wir Seine Gebote halten. Seine Gebote sind nicht schwer. Denn alles, was von Gott stammt, besiegt die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube“ (1 Joh. 5: 3-4). Liebe äußerst sich durch Treue; Treue ist der beste Beweis der Liebe. Der Gipfel der Seligpreisungen für die, welche konsequent nach den Geboten Gottes leben, ist bekanntlich die Freude: „Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein“ (Mt. 5: 12).
Gerade diese Freude, die daher rührt, dass der Mensch sich mit ganzem Herzen, und ganzer Seele, mit all seiner Kraft und all seinen Gedanken (s. Mt. 22: 35; Mk. 12: 30; Lk. 10: 27) Gott zuwendet, ist das Ziel des Fastens. Hier ist jedoch kein Platz für Halbherzigkeit, denn „keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes“ (Lk. 9: 62).
Lasst uns deshalb voll Freude diese Fastenzeit angehen: „Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler“ (Mt. 6: 16). Wer gleich zu Beginn maßvoll, aber zielstrebig auf Unnötiges verzichtet, wird sehr bald voller Freude erkennen, wie wenig Komfort man eigentlich für ein vollwertiges Leben braucht, wieviel neue ungeahnte Energiequellen im Inneren des Menschen schlummern, wie wenig Speisen und Getränke man braucht, um sich wohl zu fühlen und voller Tatendrang zu sein, und wieviel Zeit man plötzlich für wirklich wichtige und angenehme Dinge hat, wenn man nicht stundenlang vor der Mattscheibe klebt. Es kommt dabei natürlich auf die innere Einstellung jedes Einzelnen an. Verzicht um der Freude willen soll also die Richtschnur unserer gemeinsamen Anstrengung sein. Vor unserem Herrn, aber auch vor uns selbst bekennen und beweisen wir durch das Fasten, was für uns das Wesentliche im Leben darstellt, - und was für uns nur Nebensache ist. Fasten ist immer auch eine Prioritätensetzung – und somit, gewissermaßen – die Rückkehr zum paradiesischen Normalzustand des Menschen, der ja geschaffen worden ist, um sich an der Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen zu erfreuen. Wir alle können diesen Idealzustand in der Kirche erreichen, wenn wir nur wollen...
Der Student, der Athlet, der Soldat – alle nehmen große Anstrengungen und Entbehrungen in Kauf, um ans ersehnte Ziel zu kommen (s. 1 Kor. 9: 24-27). Daher will keiner von ihnen sein Diplom, seine Medaille oder seinen Orden für nichts geschenkt haben. Das wäre unehrenhaft und betrügerisch.
Warum soll dann ausgerechnet das höchste aller Ziele, - die Wiedererlangung der Unsterblichkeit mit Christus Gott - ohne Opferbereitschaft möglich oder ersterebenswert sein?!
Diese Zielsetzung soll auch den Kleinsten unter uns klargemacht werden. Kleine Kinder können nicht auf Anhieb zwei Stunden beim Gottesdienst kerzengerade stehen und streng fasten. Aber sie sind sehr früh fähig – bei entsprechender Vorbereitung durch die Eltern – zu verstehen, dass der Empfang der Heiligen Gaben das Allergrößte und Allerwichtigste ist. Da darf man nicht herumalbern, mit anderen spielen, kurz vorher noch schnell einen Keks verzehren oder sich sonst irgendwie ablenken lassen. Und sei es anfangs nur eine Phase von zwei oder fünf Minuten intensiver Konzentration vor der Heiligen Kommunion, - so wird das Kind die Teilnahme am Gottesdienst lieben, verstehen, hochachten, mit dem reinen kindlichen Herzen als Gemeinschaft mit Gott empfinden - und dadurch im Glauben wachsen.
Die heute jedoch weit verbreitet Variente der frühkindlichen Erziehung gläubiger Eltern stellt dieses Prinzip auf den Kopf: Mit zunehmendem Alter kommen ihre Kinder immer seltener in die Kirche, bis sie sich mit 16 Jahren gänzlich emanzipiert haben und die Fesseln der elterlichen Fürsorge ablegen können.
Es gibt aber noch weitere Aspekte, die mit Fasten zu tun haben. Der soziale Aspekt ist hinlänglich bekannt: Verzicht auf Überfluss, um mit dem Bedürftigen zu teilen. Also verzichten viele z.B. auf teure Vergnügungen und spenden stattdessen für wohltätige Zwecke (man kann seinen Nächsten, wohlgemerkt, auch Zeit und Aufmerksamkeit „spenden“, die man z.B. dem Computer entreißt).
Es gibt aber noch den ökologischen Aspekt, der uns allen am Herzen liegen sollte. Der in der orthodoxen Welt bekannte Theologe Prof. Alexej Ossipow von der Geistlichen Akademie Moskau gab noch vor der Jahrtausendwende zu bedenken, dass ein einziges Land der Welt, dessen Bevölkerung nur 5% des Planeten ausmacht, etwa 40% aller Rohstoffe verbraucht und etwa 70% aller Abgase und Abfälle erzeugt. Damit nicht genug, wollen doch alle übrigen Nationen unter allen Umständen möglichst schnell denselben Lebensstandard erreichen, wie dieses eine Land, das seine Errungenschaften eifrig in praktisch alle anderen Länder exportiert. Und heute, kaum zwanzig Jahre später, haben wir die Situation, dass sich immer mehr Chinesen und Inder ein Auto und Urlaubsreisen leisten können, dass immer mehr Chinesen dreimal täglich und sieben Mal pro Woche Fleisch und immer mehr Inder genausooft Milchprodukte konsumieren. Wir alle wissen, welche Folgen das für das Klima und die Umwelt hat. Und hier kommt die theologische und spirituelle Kompenente ins Spiel: der Mensch ist als „Krone der Schöpfung“ und als „Mitschöpfer Gottes“ verantwortlich für die gesamte, ihm von Gott unterstellte Schöpfung (s. Gen. 1: 28). Es mag banal klingen, wenn ich sage: „Wir sitzen alle in einem Boot“ - aber genau das lehrt uns die Bibel aus frühester Zeit. Es steht geschrieben: „Da dachte Gott an Noah und an alle Tiere und an alles Vieh, das bei ihm in der Arche war“ (Gen. 8: 1). Gott liebt Seine ganze Schöpfung: „Herr, Du hilfst Menschen und Tieren“ (Ps. 35: 7), spricht der Prophet David. Unsere Untreue gegenüber dem Schöpfer war ursächlich für das Elend der ganzen übrigen Schöpfung. Gottes Heilsplan umfasst die ganze Welt (s. Röm. 8: 18-22), und das Fasten nach dem Vorbild des vierzigtägigen Fastens unseres Herrn in der Wüste ist ja unser Anteil an der „Wiedergutmachung“ des Ungehorsams der Stammeltern, der im Genuß der verbotenen Frucht bestand. Denn das Fasten stellt neben dem vertikalen Einklang mit der spirituellen Welt auch die horizontale Harmonie zur materiellen Umwelt wieder her: „Danach trieb der Geist Jesus in die Wüste. Dort blieb Jesus vierzig Tage und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren, und die Engel dienten Ihm“ (Mk. 1: 12-13; s. auch Mt. 4: 2 und Lk. 4: 1).
Vor einiger Zeit hörte ich mal im Radio, dass irgendwelche Umwelt-Aktivisten in den USA ausgerechnet haben, dass wenn jeder Amerikaner einmal pro Woche auf den Verzehr von Fleisch verzichtete, dies die Umwelt entsprechend einer Zahl von etwa 7.000.000 aus dem Verkehr gezogenen Autos entlasten würde. Ich denke, wir sollten anhand dieses Beispiels erkennen, wie weise Gott in Seiner Vorsehung mit uns verfährt, indem Er uns zusammen mit dem Propheten David sagen lässt: „Ich bin nur ein Gast bei Dir, ein Fremdling wie all meine Väter“ (Ps. 38: 13) und: „Ich bin nur Gast auf Erden. Verbirg mir nicht Deine Gebote!“ (Ps. 118: 19). Wenn wir Menschen die Gebote und Vorschriften Gottes befolgen, alle vier (eingangs beim Propheten Sacharias angedeuteten) Fastenzeiten im Jahr einhalten, dazu jeden Mittwoch und Freitag Enthaltsamkeit üben, dafür meinetwegen getrost den Sonntagsbraten genießen, - dann werden Übervölkerung der Erde, industrielle Massentierhaltung, Überfischung der Meere, Abholzung der Regenwälder sowie dadurch bedingte Szenarien wie Klimawandel, Umweltverschmutzung, Abschmelzen der Eisflächen im Meer und im Gebirge, Ausbreitung der Wüsten, letztendlich sogar etliche Lebensmittelskandale, überbordende Umweltkriminalität und so manches soziales und politisches Problem auf dieser Erde von selbst gelöst werden.
Die Große Fastenzeit beginnt mit der gegenseitigen Vergebung. „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer Himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt. 6: 14), heißt es in der heutigen Evangeliumslesung.
Aber manch einer wird sich fragen: Ich kenne nicht alle persönlich in der Kirche, mit den wenigsten habe ich je gesprochen, geschweige denn, sind sie und ich jemals aneinander geraten. Wozu dann diese allgemeine Vergebungsorgie?!
Erstens, glaube ich, dass man sich sehr leicht gegen jemanden versündigen kann, den man nicht näher kennt und zu dem man keinen intensiven Kontakt pflegt: durch einen unfreundlichen Blick, einen bösen Gedanken, ein hinterhältiges Wort, das man hinter dessen Rücken seinem Nebenmann zuflüstert, durch Mißachtung, Gleichgültigkeit etc. oder eben auch völlig ungewollt und unbewusst durch diese oder jene unbedachte Handlung oder Geste. Außerdem leiden wir alle an Gedächtnisschwund, wenn die Sprache auf die von uns gegenüber unseren Mitmenschen verübten Ungerechtigkeiten kommt, wohingegen wir ein geradezu phänomenales Erinnerungsvermögen in Bezug auf uns zugefügtes Unrecht haben.
Zweitens, und das hat schon eine ekklesiologische Dimension, sind wir nach der neutestamentlichen Lehre alle zusammen der Leib Christi. Das ist aber nicht der Ist-Zustand, sondern ein Ideal, das wir alle zusammen erst erreichen müssen. „Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm“ (1 Kor. 12: 26). Oder haben wir diesen Zustand etwa schon erlangt?!
Ja, wir empfangen alle zusammen aus einem Kelch den Leib und das Blut Christi unseres Gottes. Aber leben wir entsprechend Seiner Verheißungen?...
Deshalb ist jede von Bruder A. oder Schwester B. begangene Sünde eine Wunde am gesamten Leib Christi, die auch Bruder C. und Schwester D. schmerzen müsste. In einer (richtigen) Familie sind auch alle betroffen, wenn sich ein Mitglied zu einer Verfehlung hinreißen lässt. Alle freuen sich zusammen über Erfolge und bedauern alle zusammen das Mißgeschick jedes einzelnen Mitglieds. Und wenn wir Freud und Leid nicht in dem Maße teilen, wie es die ersten Christen taten, die sogar ihren Besitz miteinander teilten (s. Apg. 4: 32-37), sollten wir uns zumindest selbst eingestehen, dass wir – natürlich jeder zunächst für sich selbst, dann aber auch für die übrigen Mitglieder des Leibes Christi, - Verantwortung tragen.
An diesem Anspruch werden wir gemessen werden. Mittels der Fastenzeit will die Kirche uns alle diesem ursprünglichen Zustand wieder etwas näherbringen. Dafür erbitten wir heute den himmlischen Segen.
Amen.