Predigt zum Herrntag des Apostels Thomas, Antipaskha (Apg. 5: 12-20; Joh. 20: 19-31) (12.05.2013)
Liebe Brüder und Schwestern,
die hinter uns liegende Osterwoche ist die freudigste im ganzen Jahr, denn 51 Sonntage im Jahr gedenken wir der Auferstehung Christi, von Ostersonntag bis Ostersamstag erleben wir hingegen diese Auferstehung. In der Osternacht sangen wir ja: „Gestern wurde ich mit Dir begraben, o Christe, heute erstehe ich mit Dir, da Du auferstanden bist; gestern wurde ich mit Dir gekreuzigt, Du selbst nun verherrliche mich mit Dir, o Erretter, in Deinem Reiche“ (Osterkanon, 3. Ode). Also erlebten wir die Auferstehung Christi in dem Maße, wie wir spirituell am Karfreitag mit Ihm gekreuzigt und am Karsamstag mit Ihm begraben worden sind.
Der Sonntag nach der Osterwoche nennt sich Antipaskha (griech. anti = anstatt, anstelle von), weil wir erstmals wieder „ganz normal“ der Auferstehung, d.h. anstelle des Osterfestes selbst gedenken. Die ganze Woche waren die Altartüren als Zeichen des wieder offenstehenden Paradieses und der offenen Gräber geöffnet, jetzt sind sie wieder für ein Jahr geschlossen...
Somit genossen wir in der Osterwoche die spirituellen Früchte der Großen Fastenzeit und der Karwoche; jetzt aber beginnt wieder die Zeit, in der wir uns zwar immer noch der vierzigtägigen Gegenwart des Auferstandenen bis zu Seiner Auffahrt in den Himmel erfreuen, sonst aber durch den Glauben an die Auferstehung bzw. durch die uns in der Osterwoche zuteil gewordene Freude unser alltägliches Leben bestreiten. Unser Ziel und unsere Hoffnung ist dabei, dass wir aus dem überschwenglichen mitternächtlichen Jubel des sichtbaren und unsichtbaren Flammenmeers wenigstens eine kleine Osterkerze in unseren Herzen über das ganze übrige Jahr hinweg unerloschen bewahren mögen. Diese „Kerze“ legt Zeugnis von der Auferstehung ab, die wir, allsonntäglich besingen: „Wir haben Christi Auferstehung geschaut“. Mit den Augen des Herzens soll der Glaube an die Auferstehung zur Gewissheit werden, die man irgendwie in den nun wieder beginnenden Alltag hinüberretten möchte. Wie erlange ich aber diesen Glauben?
Sinnbild für diesen aktiven und lebendigen Glauben ist der (anfangs) ungläubige Apostel Thomas, den die Kirche in den entsprechenden liturgischen Texten keineswegs tadelt, sondern für seinen „gläubigen Unglauben“ lobt. Alle Jünger taten sich schwer, an die mehrmals explizit angekündigte Auferstehung Christi zu glauben. Selbst die bis zuletzt treuen Myronträgerinnen wurden sanft dafür getadelt, dass sie „den Lebenden bei den Toten“ (Lk. 24: 5) suchten. Nun aber sahen sie alle den Auferstandenen – bis auf Thomas, denn dieser „war nicht bei ihnen, als Jesus kam“ (Joh. 20: 24).
Thomas oblag es nun, sich selbst von der für den menschlichen Verstand unfassbaren Wahrheit zu überzeugen. Er wollte, aber er konnte es nicht, so sehr er sich auch mühte. Sein Unglaube ist keine destruktive, störrische Ablehnung des Offensichtlichen, sondern die Unfähigkeit, seinen Verstand von dem zu überzeugen, was das Herz wahrscheinlich schon begriffen hat. Als er aber den Gekreuzigten und Auferstandenen sieht, hört und betastet, weicht der Zweifel der Überzeugung.
Als ich vor zwei Jahrzehnten am Geistlichen Seminar in Weißrussland unterrichtete, gab es unter der ersten post-kommunistischen Generation von Priesteranwärtern zwei Kategorien: solche aus Priesterfamilien (aus denen sich die geistlichen Lehranstalten fast ausnahmslos über Jahrzehnte rekrutiert hatten), und solche aus kirchenfremden Familien. Beide hatten ihre Besonderheiten: was die Priestersöhne quasi mit der Muttermilch bekommen hatten, mussten sich die Neophyten erst erarbeiten. Doch eines fiel mir auf: die jungen Männer mit kirchenfremdem Hintergrund waren lebhafter, aufgeweckter, ehrfürchtiger – was sich sogar im äußerlichen Erscheinungsbild offenbarte (Gesichtsausdruck, Ausdrucksweise, Gestik, Körpersprache etc.). Erstere hatten den Glauben ja in den Schoß gelegt bekommen (und mussten diesen Glauben gleichwohl in einer kirchenfeindlichen Umgebung behaupten); Letztere hingegen fanden aus eigenem Impuls zum Glauben und befanden sich noch immer in einem Zustand, vergleichbar mit den Flitterwochen. Und das, denke ich, spiegelt auch den Sinn des paradoxen hymnographischen Lobes für den „gläubigen Unglauben“ des Apostels Thomas wider. Der Zweifel dient dazu, um überwunden zu werden - so wie beim siebenjährigen Arsenios, der in den frühen 1930-er Jahren oft und gerne allein im Wald spazieren ging, um dort ungestört zu Gott zu beten. Eines Tages traf er dort einen atheistischen Studenten, der, als er den Grund für den Aufenthalt des Jungen im Wald erfuhr, ihm prompt eine kostenlose wissenschaftliche Lektion über den „törichten Aberglauben“ der alten Weiber aus dem Dorf offerierte. Doch obwohl das Seelenleben des kleinen Arsenios durch diesen Schock vorübergehend ins Wanken geraten war, überwand der Junge mit Gottes Hilfe alle Zweifel. Arsenios wurde dadurch noch standhafter im Glauben, so dass er später Mönch auf dem Athos wurde und uns allen heute als Geronta Paisios bekannt ist, der tausenden von Seelen den Weg zu Gott wies. Tatsächlich kann nur der vielfach sturmerprobte Matrose später mal Kapitän werden.
Metropolit Anthony (Bloom) empfiehlt uns sogar, manchmal bewusst auf den Spuren des zweifelnden Apostels zu wandeln. Denn wenn wir alle Glaubenswahrheiten ungeprüft aufnehmen, blind an alles glauben, was uns seitens der Kirche gelehrt wird, werden wir eher lauwarm und wenig standfest im Glauben sein. Deshalb bietet uns die Kirche heute das durch den Apostel Thomas personifizierte Modell des „Zugehens auf Christus“ an. Wenn wir wirklich Gott im Herzen haben, rational aber dieses oder jenes (noch) nicht verstehen, können wir uns doch vertrauensvoll und aufrichtig an Gott wenden und Ihn demütig bitten, Er möge unseren Verstand erleuchten. Nur muss es uns dabei um die objektive, von göttlicher Ordnung und Weisheit bestimmte Wahrheit gehen, nicht um die Bestätigung der bereits im tiefsten Hinterkopf festgelegten augeklügelten eigenen „Wahrheit“. Wenn wir so vorgehen, haben wir, vorausgesetzt, dass wir nicht den kirchlichen Boden unter den Füßen verlieren, den Schlüssel für die lebendige Gemeinschaft mit dem Leib Christi und dem Ihm innewohnenden Geist in unserer Hand.
Der forschende „Unglaube“ Thomae soll uns demnach Vorbild sein. Am Ende seiner Suche angelangt, sprach dieser: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh. 20: 28). Seinem Beispiel folgend werden auch wir, erleuchtet durch die Gnade des Heiligen Geistes z.B. nach gründlichem und objektiven Studium jeglicher Natur- und Geisteswissenschaft mit dem Apostel Paulus sagen können: „Was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi Willen als Verlust erkannt. Ja noch mehr: ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in Ihm zu sein“ (Phil. 3: 7-9).
Ich glaube, dieser ungezwungene Weg der Gottessuche verdient es, den Vorzug vor der sturen religiösen Indoktrinierung zu erhalten, denn er beinhaltet den auf eigener Erfahrung beruhenden Glauben.
Aber wie sieht es bei uns in der real existierenden Glaubenspraxis aus?! Auch wenn wir täglich beten: „Dein Wille geschehe!“, wollen wir, sobald wir Gottes Hilfe dringend benötigen, dass in Wirklichkeit unser Wille geschieht. Wir vertrauen Gott zumindest nicht so weit, dass Er in schwierigen Situationen das Beste für uns und andere bewirken kann. Anders als der Herr es Selbst im Garten Gethsemane vorgemacht hat (s. Mt. 26: 39, 42; Mk. 14: 36; Lk. 22: 42), wollen wir Gott nicht wirklich als letzte Entscheidungsinstanz akzeptieren. Warum? - Weil uns offensichtlich der Glauben an Gottes unermessliche Güte und grenzenlose Allmacht fehlt. Und wenn dem so ist, müssen wir uns selbst eingestehen, dass unser „ungläubiger Glaube“, anders als der „gläubige Unglaube“ des Apostels, unser manchmal leichtfertig dahergesagtes „Христосъ Воскресе!“ konterkariert.
So ehrlich müssen wir uns selbst gegenüber anfangs schon sein, denn nur so kann ein Umdenken im Herzen und im Verstand vonstatten gehen. Und das, liebe Brüder und Schwestern, ist die wahre Umkehr (griech. metanoia), denn Sünde definiert sich zuvörderst als Schwachheit im Glauben, und nicht als Verstoß gegen moralische Normen oder staatliche Gesetze. Insofern müssten Verfehlungen und Unzulänglichkeiten dieser Art im Fokus unserer Beichte sein, nicht die gewollte oder ungewollte Missachtung externer kanonischer Vorschriften (z.B. Fasten- und Gebetsregeln nicht eingehalten) oder weit hergeholter willkürlicher pseudo-kirchlicher Frömmigkeitsstandards (Kopftuch nicht getragen; Ikonen im Zustand der „Unreinheit“ geküsst).
Sich dem Willen Gottes unterordnen kann nur der, der Liebe und Vertrauen zu seinem Schöpfer hat. So ist es auch bei zwischenmenschlichen Beziehungen: wenn ich jemanden mit ganzem Herzen Liebe, hat sein Wohl (und nicht mein eigenes) für mich oberste Priorität. Das zeigt sich vor allem in der Ehe, wo anfängliche Schwärmerei entweder mit Gottes Hilfe in gegenseitige Hochachtung, Aufopferungsbereitschaft und Einmütigkeit der Herzen (was wirkliche Liebe ist!) übergeht, oder aber nach dem Abflauen des romantischen bzw. leidenschaftlichen Verliebtseins in erstarrten Fronten des beiderseitigen Egoismus endet. Da, wo dieser Eigenwille überwunden wird, ist das Paradies aber nicht weit.
Zwei Starzen lebten als Einsiedler gemeinsam über viele, viele Jahre in der Wüste, und es gab nicht einen Tag, nicht eine Minute, in der es zwischen ihnen auch nur die kleinste Unstimmigkeit gegeben hätte. Von gelegentlich bei ihnen aufkreuzenden Pilgern und Reisenden hörten sie aber, dass es draußen in der Welt Leute gibt, die oft miteinander in Streit leben. Da „Sturm und Drang“ der beiden Eremiten schon etliche Jahre zurücklagen, beschlossen sie, um besagtes unerklärliches Phänomen irgendwie begreifen zu können, einen Streit zu simulieren. Sie nahmen irgendeinen Gegenstand, vielleicht einen Wasserkrug, und „stritten“ sich um ihn. „Das ist mein Krug!“ sprach der eine. „Nein, das ist meiner!“ entgegenete ihm der andere. „Ich sage dir aber, dass das mein Krug ist“, sagte erneut der erste. „Meinetwegen, dann ist es eben deiner“ entgegnete schließlich der andere...
Diese kurze Begebenheit lehrt uns, dass der Verzicht auf seinen eigenen Willen, - anders als die Weisheit dieser Welt lehrt, - eine nie versiegende Quelle der Inspiration für die Gemeinschaft mit Gott und für das Verhältnis zu unseren Mitmenschen ist. Das ist der lange, beschwerliche und doch wunderbar freudvolle Weg des Glaubens! Der Evangelist Johannes schließt die heutige Erzählung ja mit den folgenden Worten ab: „Noch viele andere Zeichen, die nicht in diesem Buch aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen Seiner Jünger getan. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in Seinem Namen“ (Joh. 20: 30-31).
Und wie hoffnungsvoll sind dann erst die Worte, die der Messias an die richtet, die aufgrund des Bekenntnisses des Apostels Thomas und der anderen Augenzeugen Seiner Aufestehung zum Glauben gekommen sind: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh. 20: 29)!..
Amen.