Predigt zum Sonntag Aller Heiligen (10.06.2012) (Hebr 11, 33 - 12, 2. Mt 10, 32-33, 37-38; 19, 27-30)
Liebe Brüder und Schwestern,
vor einer Woche feierten wir Pfingsten – die Herabsendung des Heiligen Geistes auf die erste Gemeinde zu Jerusalem, das „Gründungsfest der Kirche“. Obgleich der „Geist weht, wo Er will“ (Jh. 3: 8) – auch außerhalb der uns bekannten Grenzen der Kirche, so wissen wir doch, dass die Fülle der Gnadengaben in der Kirche Christi vorhanden ist. Sie ist die Kirche des Heiligen Geistes, denn wenn schon wir bzw. unser Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist (s. I Kor. 3: 16), dann doch umso mehr der Leib Christi.
Wir alle sind also „der Leib Christi, und jeder einzelne ein Glied an Ihm“ (I Kor. 12: 27). Diese Zugehörigkeit ist für uns Gabe und Berufung zugleich, ähnlich wie es sich mit dem „Abbild und der Ähnlichkeit“ Gottes verhält. Durch die Taufe sind wir zu Gliedern des Leibes Christi geworden, müssen es aber auch noch bestätigen durch ein Leben in Christo: „In eurem Herzen herrsche der Friede Christi, dazu seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes“ (Kol. 3: 15).
Leider erweisen wir uns durch sündhafte Leidenschaften allzuoft als unwürdige, kranke Glieder dieses Leibes. Überhaupt ist niemand von uns stark, makellos, vollkommen – außer dem Herrn selbst. Die Heiligen, die wir heute als unsere Vorbilder und Fürsprecher ehren, sahen sich zu keiner Zeit als gesunde oder nutzbringende Glieder an. Der Unterschied zwischen den Heiligen und uns Normalsündern besteht doch darin, dass die Heiligen ihre eigene Sündhaftigkeit – im Gegensatz zu uns - erkennen.
Um aber den Heiligen nachzuahmen (s. I Kor. 4: 16 und Phil. 3: 17), wollen wir vor allem erkennen, dass dieses Ziel nicht ohne (den wahren) Glauben und die (tatsächliche) Mitgliedschaft in der Kirche zu erreichen ist.
Wie gesagt, wir sind schwach. Auch die Heiligen waren schwache Menschen. „Supermänner“ waren nämlich immer ganz andere. Aber die Heiligen hatten Christus! Er, in Den wir ja getauft sind, gibt auch uns die Kraft, Wunder zu vollbringen, wenn wir den Heiligen nachahmen.
Wie aber konkret? Nehmen wir z.B. die Vita des hl. Sergij von Radonesch oder des hl. Serafim von Sarow.
Der hl. Sergij lebte in einer Zeit (14. Jhd.), als sein christliches Heimatland, die Kiewer Rus´ infolge innerem Aufruhrs zu einer leichten Beute der äußeren Feinde geworden war. Die einst blühenden Klöster waren geplündert, die Kirchen zerstört, das Volk versklavt. Konstantinopel war bereits von den Osmanen umringt – es schien, das Ende der orthodoxen Christenheit sei gekommen. Was tun? Verzweifeln, resignieren – oder an die ewige unerschütterliche Wahrheit des Evangeliums glauben? - Der heilige Sergij ging in die unendliche Einöde des Nordens und lebte in den tiefsten Wäldern mit wilden Tieren (s. Mk. 1: 13 – soviel über das Nachahmen Christi) – ganz nach den Geboten Christi. Er betete. Heute steht an dem Ort, wo er sich niederließ, das größte und bekannteste Kloster Russlands. Also war sein Leben in der Wildnis nicht umsonst, denn der Schweiß und die Tränen, die er vergoß, waren gleichsam Samen auf dem Acker Gottes. Im entscheidenden, schicksalsvollen Moment hatte sein Gebet, sein Segen die Kraft und die Gnade, die dem Fürsten Dimitrij Donskoy und seinem Heer den Sieg über das zahlenmäßig weit überlegene Tatarenheer bescherte. Es war der Beginn der Befreiung Russlands.
Der hl. Serafim lebte ebenfalls in der Einöde der russischen Wälder, ebenso zusammen mit wilden Tieren. Doch da war er nicht frei von Versuchungen. Als ihn drei Kriminelle überfielen (die tatsächlich dachten, dass aus der armseligen Hütte des Heiligen etwas zu holen sei), weigerte er sich nach deren Festnahme kategorisch, gegen diese vor den Strafverfolgungsbehörden auszusagen. Er wurde von ihnen halbtot und zum Krüppel geschlagen, aber in seinen Augen war er der Sünder, der nicht unschuldig gelitten, sondern nur seine verdiente Strafe bekommen hatte. Andernfalls hätte er sich doch selbst Lügen gestraft, als er uns allen sagte: „Um des Himmelreiches willen müssten wir alle bereit sein, tausend Jahre in einem Loch voller Würmer zu verbringen“. Nein, der hl. Serafim kannte kein Auseinandergehen von Worten und Taten.
Schön und gut. Aber können wir, schwache Menschen, den Heiligen tatsächlich nachahmen?
Ja, gewiss. Wir sind weit davon entfernt, so zu sein wie der Hl. Nikolai oder die hl. Ekaterina. Doch wenn Teenager ihren Idolen begeistert nacheifern, wieseo können nicht auch wir uns an unseren Vorbioldern orientieren?! Klar ist, wir müssen es nicht buchstabengetreu machen und dabei nicht ins Detail gehen, indem wir z.B. das ganze Jahr über jeden Ankömmling mit den Worten begrüßen: Радость моя, Христос Воскресе! (O, du meine Freude, Christus ist auferstanden!). Dadurch werden wir dem hl. Serafim nicht ähnlich, sondern machen uns nur selbst zu einer Karikatur.
In Wahrheit ist es der Herr Selbst, der uns unser ganzes Leben lang die Gelegenheit gibt, Ihm und den Heiligen nachzuahmen. Jedem von uns.
Vor wenigen Wochen war ich zu Besuch im Gefängnis. Ein junger Mann aus Moldawien, der getauft und nach eigenen Angaben gläubig ist, sagte mir, er werde denjenigen, dem er die Schuld für seine jetzige Misere gibt, umbringen, sobald er selbst wieder „draußen“ sei. Ich gab ihm zu verstehen, dass er gerade jetzt diesen Kampf seines Lebens führen muss – davon wird abhängen, ob der Vektor seines Lebens in Zukunft in Richtung Himmel oder Hölle zeigen wird – so wie der unterste Balken des Kreuzes Christi als Sinnbild für die beiden Räuber zur Rechten und zur Linken des Herrn. Hier rettet nicht die formale Zugehörigkeit zur Kirche bzw. das nominelle und subjektive Empfinden des Christseins („Gott im Herzen“), sondern die tatsächliche konsequente Befolgung der Gebote – ohne wenn und aber, ohne jede Einschränkung.
Ich selbst bin Lichtjahre davon entfernt, ein Heiliger zu sein. Aber Prüfungen haben auch mich ereilt. Inzwischen sind drei Jahrzehnte vergangen, seit ich in der 11. Klasse in Mathe auf 5- in Physik auf 4- und in Chemie auf 5+ stand. Meine ganze weitere schulische Zukunft hing von einer letzten Kurzarbeit in Chemie ab. Wird es es eine 4, geht meine Schullaufbahn weiter; wird es eine 5, dann - adé Abitur! … Ich betete. Natürlich büffelte ich auch. Aber dann wurde mir im Herzen klar, welche Prüfung ich eigentlich zu bestehen hatte. Ich verstand, dass Gott mir helfen wird, wenn ich es schaffe, unseren Chemielehrer, Herrn B. (Codename: „Hart aber ungerecht!“) zu lieben... hmm, na ja, zumindest nicht zu hassen. - Ich bemühte mich nach Kräften. Nach einer Woche hatte ich meine 4- in der Hand und die Tür zum Abi war aufgestoßen. Ich vergesse nie die Worte von Herrn B. bei der Herausgabe der Kurzarbeit: „Das dürfte reichen“.
Es war eine 4- im Zeugnis, die mir zum Erreichen des Klassenzieles verhalf... Es hat gereicht... Zu mehr bin ich Zeit meines Lebens nie in der Lage gewesen - und das auch nur durch Gottes Gnade. Wenn schon der hl. Serafim gesagt hat, er hoffe inständig, wenigstens den allerletzen Platz für sich im Paradies ergattern zu können, worauf kann ich dann hoffen? - Darauf nur, dass Gott mir immer die Kraft und die Weisheit geben wird, wenigstens diese 4- bei der Reifeprüfung zum ewigen Leben zu erreichen. Durch Seine Gnade. Durch meinen Glauben. Durch unser aller füreinander Gebet.
Amen.