Predigt zum Sonntag des Blinden (20.05.2012) (Apg 16, 16-34. Joh 9, 1-38)
Christus ist auferstanden!
Liebe Brüder und Schwestern,
mit der heutigen Evangeliumslesung (Jh. 9: 1-38) endet der Themen-Zyklus des Evangelisten Johannes mit dem Wasser als Symbol für die lebenschaffende Gnade des Heiligen Geistes. Beim Gelähmten am Teich zu Betesda, zu dem fünf Säulenhallen gehörten, war der Zusammenhang zwischen seelischer und körperlicher Krankheit offenkundig: „Jetzt bist du gesund; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt“ (Jh. 5: 14). Die Samariterin – auch eine Sünderin, - genoß hingegen offenbar das Leben mit ihren fünf Männern in vollen Zügen. Zumindest ist uns nicht bekannt, dass sie für ihren Lebenswandel auf sichtbare Weise bestraft worden wäre (wenn wir mal davon absehen, dass die größte Strafe für jede Sünde die Sünde selbst ist). Beide Male steht die Zahl fünf für die sinnliche Verdorbenheit des Menschen.
Und nun treffen wir einen Blindgeborenen. Einen, der schuldlos leidet: „Weder er, noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden“ (9: 3).
Der eine oder andere mag sich nun fragen: ist das gerecht? - Einer leidet für seine Sünden, eine andere leidet nicht für ihre Sünden, und ein dritter leidet, obwohl er nicht gesündigt hat.
Ja, so ist es. Wir alle leben in einer Welt, von der wir, überspitzt formuliert, meinen, dass es in ihr den Bösen gut geht, während die Guten leiden müssen. Zumindest werden nicht alle unter gleichen Vorzeichen in diese Welt hineingeboren. Gewiss, nach menschlichen Maßstäben könnten solche Beispiele Grund zur Annahme geben, dass es bei Gott eine Ungleichbehandlung gibt. Aber wenn wir das Ganze mit den Augen des Glaubens an Gottes Allmacht, Güte, Weisheit und an Seine Vorsehung betrachten, ahnen und wissen wir, dass Gott niemanden „benachteiligt“, sondern jeden auf dem für ihn besten Weg zum Heil führt. Zumindest erhält jeder die Chance dazu, denn jedem begegnet Gott, „das Gute“ in seinem Leben. Aber nicht alle lassen sich aus der Knechtschaft des Bösen befreien.
So wurde der Gelähmte mit einer „Auflage“ geheilt: „sündige hinfort nicht!“ Als Dank für seine Befreiung von 38 Jahren Trost- und Hoffnungslosigkeit denunziert er seinen Wohltäter bei den Juden (s. 5: 15, 16). Die zuvor mit geistlicher Blindheit beschlagene Samariterin hingegen dankt ihrem Erlöser, indem sie zu einer Mitstreiterin bei der Verkündigung unter den Samaritern wird.
Und wie reagiert der Blinde? Er, der vor seiner Heilung überhaupt noch keine Ahnung von Christus und dem Himmelreich hatte (s. 9: 36), bekennt Christus als seinen Herrn. Völlig unverdient? - Nein. Er, der Zeit seines Lebens unverschuldet gelitten hatte, bewies schon vorher seine Treue zu Christus (von Dem er vorher ja gar nicht wusste, wer Er war). Er wusste von der Drohung, aus der Synagoge ausgestoßen zu werden (9: 22), denn seine Eltern werden es ihm gesagt haben (9: 23). Trotzdem stellt er die Pharisäer mit seinen Antworten und Gegenfragen bloß: „Wollt auch ihr Seine Jünger werden?“ (9: 27) oder: „Darin liegt ja das Erstaunliche, dass ihr nicht wisst, woher Er kommt; dabei hat Er doch meine Augen geöffnet“ (9: 30). Und, scheinbar von seinen eigenen couragierten Schlussfolgerungen überzeugt, wird dieser ungelehrte Mann selbst zu einer wahren Quelle der Weisheit, so wie von Christus vorhergesagt (s. 7: 38). Er konterkariert die Argumentation der Feinde Christi und belehrt nun seinerseits die Pharisäer: „Wir wissen, dass Gott einen Sünder nicht erhört; wer aber Gott fürchtet und Seinen Willen tut, den erhört Er. Noch nie hat man gehört, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat. Wenn dieser Mensch nicht von Gott wäre, dann hätte Er gewiss nichts ausrichten können“ (9: 31-33).
Das eigentliche Wunder im Hinblick auf den eingangs angesprochenen Zusammenhang zwischen seelischer und körperlicher Krankheit ist doch, dass dieser Mann zuerst physisches Leid erfährt, und dann als Folge der Befreiung von seinem körperlichen Leiden durch die Begegnung mit Christus auch geistlich sehend wird.
Es bleibt also festzuhalten: diese „Ströme lebendigen Wassers“ verdient sich der ehemals Blinde durch seinen Glauben und seinen Bekennermut.
Ich erlebe oft, dass Menschen, die in der ehemaligen Sowjetunion groß geworden sind, ihre Kirchenferne dadurch rechtfertigen, dass man „damals nicht in die Kirche gehen konnte“. Ich las aber von einer Begebenheit aus der angesprochenen Zeit, die diese Aussage relativiert:
In einer Schulklasse während der Chruschtschow-Ära entdeckt die Klassenlehrerin am Hals eines Schülers ein Kreuzchen. Daraufhin nötigt sie ihn, dieses „Zeichen der religiösen Verirrung“ unverzüglich abzunehmen. Der Junge weigert sich aber auch nach minutenlanger eindringlicher Bearbeitung, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Schließlich schickt die Lehrerin den Schüler zum Direktor. Im Büro des Schulleiters geht das Ganze nochmal von vorne los, diesmal unter Zuhilfenahme der höchsten irdischen Autoritäten: Marx („Opium für das Volk“), Lenin (Kirche = Feind des Fortschritts etc.), Chruschtschow („1980 stellen wir für euch den letzten Popen im Schaufenster aus“). Trotzdem bleibt der Junge stur unter Verweis auf die Freiheit des Gewissens, die übrigens auch von der Verfassung der UdSSR (Artikel soundso, Paragraph soundso) garantiert werde. Vor allem aber sei es der Glaube an Gott, an die allerhöchste Macht, die ihn zu dieser Haltung bewege. Daraufhin sagt der Direktor zu seinem Schutzbefohlenen: „Mensch, was bist du für ein mutiger Junge! Ich wünschte, ich hätte seinerzeit auch so einen Mut gehabt. Geh zurück in dein Klassenzimmer!“
Es gibt keinen Fall, in dem die Treue zu Gott nicht belohnt wird. Jeder, der sich unter Verfolgung zu Christus bekennt, wird schon in dieser Welt das Hundertfache erhalten, und in der kommenden – das ewige Leben (s. Mk. 10: 29, 30). Und so war es mit denen unter der kommunistischen Herrschaft, die freimütig ihren Glauben bekannten.
Unter dem „hundertfachen“ Lohn sind aber keinesfalls nur irdische Güter gemeint. Auch „in dieser Welt“ erschließt sich dem Christen die Erkenntnis, dass Glück in der lebendigen Gemeinschaft mit Gott durch Jesus Christus in Seiner Kirche besteht. Ob man dieses Glück erlangt oder nicht, hängt nicht vom Ausgang eines himmlischen Auswahlverfahrens ab, auf das man keinerlei Einfluss ausüben könnte. Klar, der Mensch kann sich sein irdisches Schicksal nicht selbst aussuchen, aber es ist jedem frei gestellt, ob er sich zu Christus (und damit zum Kreuz) bekennt, oder nicht. Alles Andere ergibt sich aus dieser Entscheidung, die jedoch nur eine Hundertprozentige sein kann.
Ihnen allen wünsche ich einen gesegneten Tag des Herrn und ein gnadenreiches Fest der Himmelfahrt!