Predigt zum 29. Herrentag nach Pfingsten / Gedenktag der Vorväter(Kol. 3: 4-11; Lk. 14: 16-24) (28.12.2014)
Liebe Brüder und Schwestern,
am Schluss der heutigen Evangeliumslesung vom Festmahl lesen wir, dass keiner von denen, die eingeladen waren, am Mahl des Herrn teilnahm (s. Lk. 16: 24). Wir alle sind es, die von Gott berufen sind, dabei aber selbst der Einladung Folge leisten müssen. Seit der Erschaffung des Menschen kommt ein Teil der Errettung von Gott (das „Abbild“, s. Gen: 1: 26-27), den anderen muss der Mensch erfüllen (die „Ähnlichkeit“, 1: 26). So verhält es sich auch mit dem Erlösungswerk Christi. Alles fängt mit der Berufung an. Für mich steht außer Zweifel, dass jeder vernunftbegabte Mensch mindestens ein Mal in seinem Leben den Ruf des Herrn vernimmt, schon allein aus Gründen der „Chancengleichheit“. Diese Berufung mag sich auf vielerlei Weise ausdrücken – dem einen kann der Glaube in die Wiege gelegt worden sein, der andere muss erst selbst den Weg zum Glauben finden, ein dritter kann von seiner Herkunft sogar ein Feind des Glaubens gewesen sein (vgl. 1. Kor. 15: 9) – doch an jeden ergeht irgendwann der Ruf des Herrn: „Folge Mir nach!“ (Mt. 9: 9; Mk. 2: 14; Lk. 5: 27). Gott kennt die Herzen aller Menschen, und so können mitunter „Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist“, und dadurch zeigen, „dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist“ (Röm. 2: 14, 15).
Berufung ist niemals mit Zwang oder Druck verbunden. Es ist vielmehr die sanfte aber eindringliche Aufforderung, sich in die Obhut Dessen zu begeben, Der danach für alles Weitere sorgen wird: „Der Herr weidet mich, und nichts wird mir mangeln“ (Ps. 22: 1).
So wie ein Rettungshubschrauber bei hohem Wellengang nur diejenigen Schiffbrüchigen retten kann, die sich auch wirklich aus dem Schlauchboot retten lassen wollen (und die heruntergelassenen Strickleiter ergreifen), so ist die Teilnahme am Leben der uns rettenden Kirche mit gewissen Verhaltensregeln unsererseits verbunden. Wenn man also von Gott gerufen wird, soll man wie der Prophet antworten:„Hier bin ich, sende mich!“ (Jes. 6: 8b). Auch bei einer lukrativen Jobofferte muss man zugreifen solange das Angebot steht; lässt man die Frist verstreichen – wer weiß, ob die Gelegenheit jemals wieder kommt?!
Wir ehren am heutigen Tag alle „Vorväter“, also die Heiligen des Alten Testamentes, die von Christus noch vor Seiner Ankunft berufen waren, Zeugnis von Ihm abzulegen. Aus gegebenem Anlass wollen wir dabei auch über unser Verhältnis zu unseren gläubigen Ahnen reflektieren.
Vor mehreren Jahren wurde ich zu einer „Projektwoche Weltreligionen“ in eine Realschule in die tiefste Brandenburgische Provinz eingeladen. Mit mir waren Hindus, Buddhisten, Moslems, evangelische und katholische Christen aus Berlin in diese Hochburg des Atheismus gekommen. Als ich vor Schülern der neunten und zehnten Klasse meine „Glaubensgemeinschaft“ vorstellen sollte, war die erste (und völlig ernst gemeinte) Frage an mich: „Glauben sie wirklich an Gott?“ Nachdem dies geklärt war, unterhielten wir uns in freundschaftlicher Atmosphäre. Ich erfüllte so gut ich konnte meinen rein informativen Auftrag, gewann jedoch zunehmend den Eindruck, dass die Schüler zum Gegenschlag ausholten, ohne dass ein missionarischer „Erstschlag“ meinerseits erfolgt wäre. Mir wurde klipp und klar gesagt, dass der Glaube an Gott etwas für Doofe sei. Da holte ich meine rhetorische Streitaxt hervor, und war mir ziemlich sicher, mit folgender Argumentation alle Opponenten verbal zu Kleinholz zu hacken. Ich sagte: „Eure gläubigen Großväter und Großmütter waren doch bestimmt nicht dümmer als ihr“. Doch zu meiner Überraschung hörte ich nach nur kurzem Innehalten: „Doch, natürlich sind wir klüger als unsere Großeltern“. Meine Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortete eine Schülerin so: „Familie gründen, ein Haus bauen“. Auf dem Heimweg musste ich mir eingestehen, dass ich bei dieser asymetrischen Kriegsführung nach Punkten unterlegen war.
Warum erzähle ich das überhaupt? - Weil es doch bemerkenswert ist, wie die Kirche durch das Gedächtnis der Vorväter wenige Tage vor dem Fest der Geburt Christi nicht einfach nur die romantische Erinnerung an frühere Generationen aufrecht hält, sondern die Verbundenheit der Ureltern mit ihren Urenkeln im Glauben hervorhebt. Es ist ein sichtbares liturgisches Zeichen der Paradosis (slaw. Предание = Tradition), die ihre geistlichen und historischen Wurzeln in biblischen Zeiten hat. Das ist nicht Folklore nach Art eines Musikantenstadls, sondern jahrhundertealte lebendige Überlieferung dessen, was das menschliche Dasein in seinem Kern (d.h. in seiner spirituellen Dimension) ausmacht. Nicht ritualisierte Vorschriften oder Brauchtum, sondern einzig das Leben in Christus ist gemeint: „Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit Ihm offenbar werden in Herrlichkeit“ (Kol. 3: 4). Das bewahrheitete sich schon an unseren im Glauben entschlafenen Vorväter, die im Alten Testament Verkünder der nahenden Geburt Christi waren, sowie auch an unseren christlichen Vorfahren, die im Neuen Testament Zeugen Seiner Auferstehung waren. Und wir dürfen heute ihr Werk fortsetzen, wie jede Generation vor und nach uns. Nichts anderes tun wir – mit Gottes Beistand – in unserer Gemeinde.
Wie wichtig das Verhältnis zum Vermächtnis der Väter und Vorväter ist, erkennen wir gerade im Lande meiner Vorfahren, wo Millionen nach der Wiederelangung der Religionsfreiheit zwar getauft, aber nicht erleuchtet wurden. Man dachte, die Leute würden von selbst irgendwie zu vorbildlichen orthodoxen Christen, was aber in der Masse nicht geschah. Stattdessen war man auf eine Neausrichtung des Verhältnisses zur Staatsmacht bedacht und trieb eine Intensivpflege der Beziehungen zum neuen Geldadel voran, was nur im architektonischen Sinne Erfolg zeitigte. Aber das einfache Volk blieb bei dieser selektiven „Inkulturisation“ außen vor. Da man zu Sowjetzeiten aus Gründen des Selbstschutzes gerne „vergaß“, wer die eigenen Vorfahren waren, blieb nach dem Fall des Kommunismus für den Normalbürger als Richtschnur nur die Generation „homo sovieticus“. So feiert man heute in einem Land, in dem angeblich 80% „orthodox“ sind immer noch lieber Neujahr als Weihnachten, sind die Leute auf der Straße oder in Behörden immer noch so unfreundlich und herzlos wie früher, nur dass viele von ihnen jetzt ein Kreuzchen um den Hals tragen.
Deshalb tut eine Rückbesinnung auf die Werte vergangener (vom christlichen Glauben geprägter) Zeiten Not. Es geht auch hier nicht um Kosakentänze, Vodka und Piroschki, und schon gar nicht um imperiale Großmannssucht, obgleich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen auf Augenhöhe unabdingbar ist. Aber das Hauptaugenmerk muss dabei immer auf der Festigung eines christlichen Weltbildes der Bevölkerung gerichtet sein.
Wir sehen doch, dass gerade in dem Land, in dem wir leben, die kontinuierliche Abschaffung christlicher Normen zu einem rasch voranschreitenden Identitätsverlust der Bevölkerung führt. Selbst wenn ich meine Ur-Großeltern nicht kannte, verbietet sich aus Ehrfurcht vor ihrem Gedächtnis schon allein der Gedanke daran, ich sei klüger als sie es gewesen sind. Den Kindern und Enkeln der 68-er hingegen wird doch bereits im Vorschulalter eingebläut, sie hätten gegenüber ihren Eltern nur Rechte, und keine Pflichten. Wahrscheinlich glauben sie auch, sie würden mit zwanzig den Höhepunkt ihrer intellektuellen Entwicklung erreichen – danach beginnt schon die stufenweise Verblödung: mit dreißig werden sie folgerichtig debil, mit vierzig imbezil, mit fünfzig zu Vollidioten - und mit sechzig ereilt sie dann der Hirntod?!..
Weiterleben hätte dann wahrlich keinen Zweck mehr.
Es ist doch so: wir, die jetzt lebende Generation, haben die Möglichkeit, über frühere Generationen nach den Richtlinien unserer modernen Zeit zu urteilen - unsere Vorväter haben (hatten) die umgekehrte Möglichkeit hingegen nicht. Was aber einzig zählt, ist der Richterspruch der letzten und höchsten Instanz. „Nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird“ (Mt. 10: 26; vgl. Lk. 8: 17). Ich für meinen Teil will, dass die Zweige, die sich von meinem Namensschildchen auf unserem Familien-Stammbaum weiter verästeln dafür dankbar sein werden, dass ich ihnen den Glauben und die Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus übergeben habe – so wie ich heute dankbar gegenüber meinen nahen und fernen Vorfahren bin. Und sollte mir dereinst tatsächlich diese Dankbarkeit seitens meiner genealogischen oder kongregationellen Nachkommenschaft beschieden sein, werde ich (oder wird man) von mir sagen können, dass ich - entsprechend meiner Berufung - nicht ganz umsonst gelebt habe. Das ist doch ein Ziel, für das sich wirklich jede Anstrengung lohnt. Das Schwachsinnsrisiko kalkuliere ich da gerne mit ein.
Amen.