Predigt zum Karfreitag (10.04.2015)
Liebe Brüder und Schwestern,
die ganze Liebe Gottes zum Menschengeschlecht offenbart sich durch den erlösenden Kreuztod des Herrn. Wollen wir uns also heute den furchtbaren Augenblicken, die dem Opfertod von Gottes Sohn vorangingen zuwenden, um nach Möglichkeit unserer Begrenztheit das zu erfassen, was sich heute auf Golgatha ereignet hat. Der Erlöser sprach am Kreuze hängend sieben Sätze bzw. Worte, die allesamt eine unergründliche Tiefe besitzen und die unermessliche Liebe Gottes zum gefallenen Menschengeschlecht ausdrücken:
1. Sie kamen zur Schädelhöhe; dort kreuzigten sie Ihn und die Verbrecher, den einen rechts von Ihm, den anderen links. Jesus aber betete: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk. 23: 33-34).
Er betet für die Anstifter und die Ausführenden, welche „die verborgene Weisheit Gottes“ (s. 1. Kor. 2: 7) nicht erfassen konnten, denn „keiner der Machthaber hat sie erkannt; denn hätten sie die Weisheit Gottes erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt“ (2: 9, vgl. Apg. 3: 14-17). Nun, wäre ich Chefankläger vor Gericht, ich hätte zusammen mit Metropolit Antonij (Khrapovitskij, + 1938) zu Protokoll gegeben, dass diese Leute (die Juden, nicht die Römer – s. Joh. 19: 11) sehr wohl wussten, Wen sie da per manipulierten Volksentscheid ans Kreuz schlagen ließen: sehr wohl erkannten sie in Ihm zuvor ihren König und Messias, solange Er ihnen das gab, was sie wollten (s. Joh. 6: 15; 10: 24), doch widersetzten sie sich dem göttlichen Heilsplan, als sie erkannten, welches Königreich Er ihnen brachte (s. Joh. 18: 36). Sie verschmähten per Akklamation den Gesalbten Gottes und entließen stattdessen einen Mörder in die Freiheit. Es war also der schändlichste Verrat aller Zeiten!.. Aber was ist schon unser irdisches Gerechtigkeitsempfinden im Vergleich zu Gottes Liebe?! - Er Selbst macht Sich zum Anwalt und Fürsprecher Seiner Feinde, plädiert auf Unzurechnungsfähigkeit Seiner Mörder!.. Und uns bleibt da nur noch das ehrfurchtsvolle Schweigen...
2. Als Jesus Seine Mutter sah und bei Ihr den Jünger, den Er liebte, sagte Er zu Seiner Mutter: „Frau, siehe, Dein Sohn!“ Dann sagte Er zu dem Jünger: „Siehe, deine Mutter!“ Und von jener Stunde an nahm Sie der Jünger zu sich (Joh. 19: 26-27).
Der Herr sorgt Sich, selbstverständlich, um das weitere irdische Dasein Seiner Mutter, weshalb Er Sie Seinem Lieblingsjünger anvertraut.*) Der Herr redet Seine Mutter hier und anderswo (s. Joh. 2: 4) nicht aus Respektlosigkeit bloß als „Frau“ an (etwas Abwegigeres kann man sich gar nicht vorstellen), sondern weil Er Sie nun zur Mutter aller Gläubigen bestimmt hat. Die irdische Sichtweise ist nun hinfällig: aus himmlischer Perspektive ist die leibliche Mutter des Herrn nun unser aller Mutter, während wir in Person des Lieblingsschülers Johannes alle Ihrer mütterlichen Obhut anvertraut werden. Über Sie steht doch geschrieben, dass Sie die irdische Antwort auf die vom Himmel gewährte Gnade ist: „Ja der Herr wird Güte geben, und unsere Erde wird ihre Frucht geben“ (Ps. 84: 13; vgl. Lk. 1: 42).
3. Einer der Verbrecher, die neben Ihm hingen, verhöhnte Ihn: „Bist Du denn nicht der Messias? Dann hilf Dir Selbst und auch uns“. Der andere aber wies ihn zurecht und sagte: „Nicht einmal du fürchtest Gott? Dich hat doch das gleiche Urteil getroffen. Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten; Dieser aber hat nichts Unrechtes getan“. Dann sagte er: „Herr, denk an mich, wenn Du in Dein Reich kommst“. Jesus antwortete ihm: „Amen, Ich sage dir: heute noch wirst du mit Mir im Paradies sein“ (Lk. 23: 39-43).
Was gibt es dazu noch zu sagen?! - Der erste Mensch, der ins Paradies eingeht, ist ein Schwerstverbrecher – unendlich groß ist die Gnade Gottes! Und die wird dem Räuber völlig zurecht zuteil, denn Er bekannte sich zum Herrn und zu Seinem Reich nicht infolge eines Wunders oder während des triumphalen Einzugs in Jerusalem, sondern dann, als Dieser von allen verlassen und verspottet am Kreuze hing. Dabei hatten selbst die Jünger des Herrn noch nach drei Jahren täglichen Beisammenseins nicht begriffen, welches Königreich ihr Lehrer und Meister verkündete (s. Mt. 20: 20-28; Mk. 10: 35-45). Gewiss hatte dieser Räuber selbst noch kurz zuvor in den Chor der Schmährufe eingestimmt (s. Mt. 27: 44 und Mk. 15: 32), erkannte dann aber in der Erniedrigung des Herrn Seine göttliche Größe. So schnell „verjähren“ unsere Sünden in den Augen des Herrn!.. Es ist wahrlich eine wunderbare und herzergreifende Begebenheit, die wir jedes Jahr im Karfreitagsgottesdienst hören. Man kann diese kurze Episode getrost auch als Herzstück des Evangeliums bezeichnen.
4. Um die neunte Stunde rief Jesus laut: „Eli, Eli, lema sabachtani?“, das heißt: „Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du Mich verlassen?“ (Mt. 27: 47; vgl. Mk. 15: 34).
Für sich allein genommen, drücken diese Worte auf den ersten Blick Verzweiflung und Bestürzung aus, doch sind sie im Zusammenhang mit der Prophezeiung (s. Ps. 21: 2) betrachtet die Erwiderung des Hilferufs des im Zustand der Entfremdung von Gott befindlichen Menschen. In Psalm 21, der beim Karfreitagsgottesdienst komplett gelesen wird, heißt es u.a.: „Ich bin aber ein Wurm und kein Mensch, die Beschimpfung der Menschen und die Verachtung des Volks. Alle, die mich sahen, verspotteten mich, sie sprachen mit den Lippen, sie schüttelten das Haupt: ´Er hoffte auf den Herrn, Der soll ihn befreien, Er soll ihn retten, denn Er will ihn ja`“ (21: 7-9). Der Sohn Gottes nahm die menschliche Natur auf Sich, der es nach dem Sündenfall beschieden war, im Moment des Todes von Gott getrennt zu sein - und diese Konsequenz nahm Er in seiner Ganzheit und bis zur Neige an! Da Er aber auch der unsterbliche Gott ist, ist durch die Einwerdung mit Ihm die Gottesentfremdung des Menschen überwunden. Mit diesem Ausruf von Gottes Sohn, Der Selbst niemals vom Vater verlassen worden war, wird die gesamte Menschheit angenommen und errettet. Durch das ungehorsame Verkosten der süßen Frucht (s. Gen. 3: 6) erlitt der Mensch einst einen partiellen Verlust seiner göttlichen Ebenbildlichkeit, doch der Mensch geworden Gott erneuerte dieses Abbild durch die gehorsame Einnahme der bitteren Speise (s. Mt. 27: 34). Der Mensch hatte sich von Gott entfernt, aber Gott stellte durch Seine Vereinigung mit der menschlichen Natur diese Harmonie wieder her. Auch hier erfüllte sich eine Prophezeiung, die da besagt, dass in Person des Gottmenschen Himmel und Erde, Gott und Mensch vereint wurden: „Wahrheit sprosste aus der Erde, und Gerechtigkeit blickte vom Himmel herab“ (Ps. 84: 12; vgl. Mt. 3: 15).
Was sich hier abspielt, übersteigt jegliches menschliches Vorstellungsvermögen: die dreiste Vergöttlichung des Menschen ohne Gott (s. Gen. 3: 5) wird durch die demütige Menschwerdung Gottes (s. Phil. 2: 6-8) getilgt! Der Ungehorsam der trügerischen Vergöttlichung des Menschen führte zur Vertreibung aus dem Paradies, während der Gehorsam der wahrhaften Menschwerdung Gottes für die Befreiung aus der Hölle ursächlich war.
5. Es war etwa um die sechste Stunde, als eine Finsternis über das ganze Land hereinbrach. Sie dauerte bis zur neunten Stunde. Die Sonne verdunkelte sich. Der Vorhang im Tempel riss mitten entzwei, und Jesus rief laut: „Vater, in Deine Hände lege ich Meinen Geist“. Nach diesen Worten hauchte Er den Geist aus (Lk. 23: 44-46; vgl. Mt. 27: 50 und Mk. 15: 37).
Auch hier erfüllen sich die Worte der Prophezeiung (s. Ps. 30: 6), die in sich eine Weiterführung des vorangegangenen Gedankens bilden. Die Trennung zwischen Gott und Mensch ist überwunden, und zur Bestätigung dessen wird uns gezeigt, dass Der Sohn Gottes wirklich eine Einheit mit dem Vater darstellt. An dieser können nun auch wir teilhaben. Mit Christus hat der Tod seinen Schrecken für uns verloren. So überantworten wir dem Herrn am Ende eines jeden Tages vor dem Schlafengehen durch dieselben Worte unseren Geist. Wir wissen, dass unser Schlaflager irgendwann unser Totenbett sein wird, aber „der Erste der Entschlafenen“ (1. Kor. 15: 20) hat das Unausweichliche durch Seinen lebensspendenden Tod für uns zum Tor ins Paradies gemacht.
6. Danach, als Jesus wusste, dass alles vollbracht war, sagte Er, damit sich die Schrift erfüllte: „Mich dürstet“. Ein Gefäß mit Essig stand da. Sie steckten einen Schwamm mit Essig auf einen Ysopzweig und hielten ihn an Seinen Mund (Joh. 19: 28-29).
Auch hier erfüllt sich eine Prophezeiung (s. Ps. 68: 22). Aber geht es hier etwa um den gewöhnlichen Durst – wenige Augenblicke vor dem Ende?! - Wohl auch darum, jedoch eher symbolisch, denn durch die Annahme der menschlichen Schwachheit hat der Sohn Gottes uns vom ewigen Durst befreien wollen (s. Joh. 4: 13-14; 7: 37-38). Warum findet dieser scheinbar unerhebliche Ausruf dann aber überhaupt Erwähnung in einem Moment, in dem sich das Schicksal der ganzen Welt entscheidet? - Da Essig kaum dazu geeignet war, den physischen Durst zu stillen, können wir in diesem kurzen Ausruf das tiefgründige Verlangen des Herrn erkennen, um unseres Heiles willen unerträgliche Pein und sogar den Tod auf Sich zu nehmen. Ja, es „dürstet“ den Herrn nach unserer Rettung, koste es, was es wolle!
7. Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach Er: „Es ist vollbracht!“ Und Er neigte das Haupt und gab Seinen Geist auf (Joh. 19: 30).
Es geht hier nicht darum, dass nun alle Prophezeiungen zur Gänze erfüllt worden wären, denn auch nach dem Kreuztod des Herrn werden sich prophetische Worte der Schrift bewahrheiten (s. Joh. 19: 36-37). Durch Seinen letzten Aufschrei gibt uns der Herr vielmehr zu verstehen, dass die Schuld nun vollkommen getilgt ist. Unglaublich, aber durch das Verdienst Jesu Christi sind wir elende Sünder „quitt“ mit Gott! Und der hl. Johannes Chrysostomos sieht angesicht der Tatsache, dass der Herr zuerst Sein Haupt neigte und erst dann verschied, einen Hinweis auf die göttliche Allmacht des Herrn und die Freiwilligkeit Seines Todes der menschlichen Natur nach.
Gottes Ratschluss ist unfassbar: als der Erlöser geboren wurde, starben für Ihn die, welche gerade erst geboren waren (s. Mt. 2: 16), doch als Er starb, wurden die, welche schon vor langer Zeit gestorben waren, durch Ihn zum Leben erweckt (s. Mt. 27: 52). Daraus wird ersichtlich, dass wir in diese Welt geboren werden, um zu sterben, und in dieser Welt sterben, um zu einem neuem Leben erweckt zu werden. Also ist der Tod Christi am Karfreitag das Tor für unser aller Auferstehung.
Amen.
*) Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass die Mutter des Herrn nach der Geburt Jesu jungfräulich geblieben ist, also keine weiteren leiblichen Kinder mehr hatte, die sich um Sie hätten kümmern können. Die übrigen „Brüder“, womit die Söhne Josefs aus erster Ehe gemeint sind, standen dem Herrn und Seiner Mutter dem Geiste nach nicht so nahe, wie Johannes (s. Joh. 7: 5).