Ansprache zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa auf dem Sowjetischen Friedhof in Weimar (08.05.2015)
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir haben uns an diesem Tage versammelt, um der Opfer des Zweiten Weltkrieges zu gedenken. Wie jedes Mal zu solchen Anlässen, wird in Deutschland zumeist an das Schicksal der Opfer des Holocaust erinnert. Die jüngsten rechten Übergriffe auf unseren OB Stefan Wolf und den SPD-Politiker Carsten Schneider zeigen, dass die Aufrufe gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nichts an Aktualität eingebüßt haben. Dennoch würde ich mir wünschen, dass allen Opfern des Zweiten Weltkriegs wenigstens im Gedenken der Nachwelt gleichermaßen Gerechtigkeit widerfährt. Denn Politiker und diplomatische Vertreter der Russischen Föderation verurteilen zu solchen Anlässen nur die Verbrechen des Nazi-Regimes, lassen jedoch völlig unerwähnt, dass die Außenpolitik der Sowjetunion in den Jahren 1939/40 ein exaktes Spiegelbild der vorangegangenen Expansionspolitik Nazi-Deutschlands von 1938 darstellte. Die Einverleibung des Baltikums und der Angriff auf Finnland durch die Sowjetunion stehen dem Anschluss Österreichs und der Annexion der Tschechoslowakei durch Deutschland in nichts nach. Und schließlich wurde Polen als Folge des Hitler-Stalin-Paktes nicht nur am 1. September 1939 von Westen überfallen, sondern keine drei Wochen später auch von Osten. Folglich war die Rolle der Sowjetunion nicht, wie jedes russische Kind heute in der Schule lernt, die eines unschuldigen Opfers, sondern die eines globalen Co-Aggressors.
Vor zwanzig Jahren war ich zum 50. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers in Dachau. Mein Vater, der selbst den Todesmarsch von Buchenwald nach Dachau überlebt hatte, traf dort seinen ehemaligen Mithäftling Michail aus Kiew. Schon das äußere Erscheinungsbild beider älterer Herren sprach Bände: während für meinen Vater mit der Befreiung Dachaus durch die US-Armee ein neues Leben im Westen begonnen hatte, bekam Michail nach seiner Rückkehr in die Heimat noch einmal 20 Jahre Straflager als Zugabe, weil er als Zwangsarbeiter mit dem Feind „kollaboriert“ hatte. Amerikanische, britische, französische und italienische Kriegsgefangene wurden bei ihrer Rückkehr wie Helden gefeiert, und auch die letzten deutschen Kriegsgefangenen wurden zehn Jahre nach Kriegsende vom damaligen Bundeskanzler Adenauer unter hohem persönlichen Einsatz in die Heimat geholt, während sowjetische Kriegsgefangene als Geächtete im eigenen Lande galten. Wem es vom Schicksal bestimmt war, dem Tod oder der Gefangenschaft zu entgehen, der konnte als Veteran des Großen Vaterländischen Krieges hochdekoriert an den alljährlichen Siegesparaden teilnehmen, eine gute Rente beziehen und zahlreiche Privilegien im sonst grauen sozialistischen Alltag genießen, während die, welche im Kriegsverlauf nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen waren, für Jahrzehnte im GULAG verschwanden und danach noch im hohen Alter Hinterhöfe kehren mussten, um irgendwie über die Runden zu kommen. Und das alles, nachdem die Sowjetunion sie schon zu Kriegsbeginn verraten hatte, da sie die Genfer Konvention nicht unterschreiben wollte, so dass diese Menschen in Gefangenschaft im Vergleich zu westlichen Häftlingen unter unvergleichlich härteren Lagerbedingungen zu leiden hatten. Als „Lohn“ für diese Qualen mussten sie und ihre Kinder auch noch mit dem Makel des „Vaterlandsverräters“ leben. Sie sind die vergessenen Opfer des Krieges und der Nachkriegszeit!
Damit nicht genug. Im österreichischen Lienz wurden nach Kriegsende an nur einem Tag 35.000 russische Schutzbefohlene, darunter Greise, Frauen und Kinder, von den britischen Behörden unter falschem Vorwand in Lastwagen verfrachtet und an den NKWD ausgeliefert. Insgesamt wurden in den Jahren 1945-48 etwa 2,5 Millionen sowjetische Flüchtlinge von den Westmächten an die Schergen Stalins verraten. Im bayrischen Plattling flehten die russischen Flüchtlinge bei ihrer Auslieferung die amerikanischen Soldaten an: „Wisst ihr denn nicht, dass bei uns zu Hause Stalin herrscht?!“ - „Well“, antworteten die durch ihre politische Bildung seit jeher bestechenden Amerikaner, „dann wählt euch doch zu Hause einen anderen Präsidenten“. Diese Menschen hatten nicht für Hitler, sondern gegen Stalin gekämpft, empfanden aber den Überfall Deutschlands zunächst tatsächlich als Befreiung. Ihnen ging es um die Rettung ihrer Heimat vor einem unmenschlichen Regime, wobei sie sich ihre Verbündeten nicht aussuchen konnten. Sie waren keine Verräter, sondern Gegner einer Verbrecherbande, die zuvor selbst durch den schändlichsten Verrat der Historie 1917 an die Macht gekommen war, wobei der vom Deutschen Reich finanzierte Lenin einen Friedensvertrag mit dem schon in der Agonie befindlichen Feind abschloss. Zudem konnten die in deutschen Uniformen kämpfenden Anti-Kommunisten damals auch noch nichts von Auschwitz und Buchenwald wissen. Ihre Hoffnung beruhte darauf, dass Nazi-Deutschland den Zwei-Fronten-Krieg sowieso verlieren würde, doch zuvor sollte mit seiner Hilfe Stalin gestürzt werden. Auf diese mutigen Freiheitskämpfer wartete dank tatkräftiger Unterstützung westlicher demokratischer Regierungen Folter und Tod in der Heimat. Aber interessiert das hier überhaupt jemanden?
Wenn wir also zurecht davon sprechen, dass die Opfer des Nazi-Terrors niemals vergessen werden dürfen, so muss uns doch gleichzeitig bewusst werden, dass es ebenso viele Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gab, die schon längst vergessen sind, weil ihrer niemand jemals gedenken wollte. Die Deutschen nicht, weil sie schon genug mit ihrer eigenen historischen Verantwortung zu tun haben, Briten und Amerikaner nicht, weil es für sie bequemer ist, die Wahrheit unter den Teppich zu kehren, und Russen schon gar nicht, weil in Russland bis heute grundsätzlich aus Rücksicht vor den Tätern das Leid der Opfer verleugnet wird. Aber sollte das Schicksal dieser Menschen uns auch vor dem Hintergrund der aktuellen humanitären Katastrophe an der Südgrenze unseres Kontinents nicht alle zum Nachdenken über den tatsächlichen moralischen Zustand unseres Wertesystems anregen? Vielleicht sollte bei dieser Gelegenheit auch nicht unerwähnt bleiben, dass während des Dritten Reichs Schiffe mit jüdischen Flüchtlingen an Bord vor New York und dem Protektorat Großbritanniens Palästina wieder umkehren mussten, weil sie dort keiner haben wollte?! Oder passt das nicht hierher?..
Es stellt sich die Frage: Warum saßen denn keine Briten, Sowjets und Amerikaner 1946 in Nürnberg auf der Anklagebank?! Und fragt denn heute noch jemand danach, ob die Bombardierungen deutscher Städte mit dem Völkerrecht vereinbar waren? In meinem Gerechtigkeitsempfinden ist es so: wenn mein Nachbar mein Haus mitsamt meiner Familie niederbrennt, ist dies ein Verbrechen. Wenn ich aber aus Rache das Gleiche mit seinem Haus und seiner Familie tue, ist es ebenso verbrecherisch. Coventry rechtfertigt also niemals Dresden, denn es sind jedes Mal Unschuldige, die leiden müssen! Aber Sieger richtet man eben nicht. Weder juristisch, noch moralisch.
Der Krieg endete auf den Tag genau heute vor siebzig Jahren - in Europa. Aber in Asien dauerte er noch ganze drei Monate länger, und wir alle wissen, wie dieser Krieg zu Ende gegangen ist. In der Tagesschau wird jedes Jahr in einer 10-sekündigen Einblendung kurz vor dem Wetterbericht gezeigt, wie die Menschen in Hiroshima und Nagasaki zur exakten Uhrzeit der Atombombenabwürfe andächtig eine Schweigeminute abhalten – und alle Welt lässt es bei diesem SCHWEIGEN bewenden! Das abscheulichste Verbrechen der Menschheitsgeschichte, an dessen Folgen Neugeborene noch Generationen danach leiden, begangen von einer Supermacht, die seit Jahrzehnten der ganzen übrigen Welt Nachhilfestunden in humanistischer Lebensweise erteilt, wird einfach nicht thematisiert... Warum dreht Hollywood keine Filme über diese doppelte Untat, wo gibt es Dokumentationen, wissenschaftliche Abhandlungen darüber? Sind nur die Verbrechen der Nazis es wert, dass noch heute fast hundertjährige Täter in den entlegensten Winkeln der Erde ausfindig gemacht werden?.. In unzähligen Talkshows wird über weltbewegende Themen wie den Streik der GDL, Mindestlohn oder das Recht homosexueller Paare auf Kindesadoption diskutiert, aber diese Randepisode des Weltkriegs scheint keiner weiteren Reflexion zu bedürfen. Sie wird einfach als tragischer Unglücksfall der Geschichte abgehakt, auch und sogar in Japan.
Wir im Westen rühmen uns unserer freiheitlichen Werte. Aber was ist das für ein Wertesystem, in dem zwar die uneingeschränkte Freiheit des Unterleibs herrscht, die Gedanken der Menschen jedoch noch immer - von wem auch immer - gesteuert werden?! Ein sichtbares Beispiel für Manipulation des Bewusstseins ist der Ort, an dem wir uns heute befinden. Kann sich jemand von Ihnen denn vorstellen, dass irgendwo auf einer deutschen Kriegsgräberstätte Hakenkreuze angebracht würden? - Natürlich nicht, denn deutsche Soldaten hatten in den letzten Sekunden ihres Lebens bestimmt kein „Sieg Heil!“ auf den Lippen, sondern waren mit ihren Herzen und Gedanken bei Gott und bei ihren Familien. Auf ihren Gräbern stehen heute ganz selbstverständlich christliche Kreuze als Zeichen ihrer Hoffnung auf die Auferstehung. Aber weshalb sollen sowjetische Kriegsgefallene siebzig Jahre nach Kriegsende und ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Kommunismus unter der Symbolik eines mörderischen Systems ruhen, das es sogar geschafft hat, zu Friedenszeiten mehr Opfer zu „produzieren“, als während des Krieges?! Bis in die frühen 1930-er Jahre, als die systematische physische Ausrottung der Kirche endgültig ihren Lauf nahm, wurde in Russland noch praktisch jedes Kind getauft. Wieso sollen diese russischen Soldaten dann mit einem „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ auf den Lippen gestorben sein? Sind sie es nicht wert, dass man ihnen posthum ihre Würde zurückgibt?! Solange aber die Siegerjustiz in der Kulturstadt Europas sichtbar über die Totenruhe herrscht, was ich als Schande für Weimar empfinde, wird den hier ruhenden russischen Gefallenen keine Gerechtigkeit widerfahren können. Zur Erinnerung: es sind vornehmlich sowjetische Soldaten gewesen, die Europa durch den höchsten Blutzoll aller Zeiten von der Nazi-Herrschaft befreit haben. Nicht ihre Schuld war es, dass die Hälfte unseres Kontinents noch ein halbes Jahrhundert danach in Unfreiheit verbringen musste. Wann also ist endlich Schluss mit der Relativierung des kommunistischen Terrors, der weltweit viel mehr Opfer forderte, als der Nationalsozialismus? In China stehen auf jedem Dorfplatz übergroße Statuen des Mannes, der 70 Millionen Menschen auf dem Gewissen hat. Seinen Opfern hingegen wurde bis heute kein einziges Monument gewidmet. Wie wollen wir erwarten, dass dort ein Umdenken einsetzt, wenn auch bei uns noch mit doppelten Standards in Bezug auf die Opfer totalitärer Regime gemessen wird?
Die Russische Orthodoxe Kirche hat den morgigen 9. Mai als Gedenktag zu Ehren der Toten des Zweiten Weltkriegs bestimmt. Auch wir werden für sie beten - aber nicht hier, sondern in der Kirche vor dem Bildnis der Kreuzigung unseres Erlösers Jesus Christus, bei dem es keine Toten, sondern nur Lebende gibt (s. Mt. 22: 32; Mk. 12: 27; Lk. 20: 38).
In diesem Sinne: Ewiges Gedenken allen Opfern des Zweiten Weltkriegs!
Вечная память!