Predigt zum 16. Herrentag nach Pfingsten / Herrentag vor Kreuzerhöhung (2. Kor. 6: 1-10; Gal. 6: 11-18; Mt. 25: 14-30; Joh. 3: 13-17 ) (20.09.2015)
Liebe Brüder und Schwestern,
die oftmals hineininterpretierte Quintessenz des Gleichnisses von den Talenten wird in einem dem Neuen Testament entliehenen Bilderwort ausgedrückt: „Sein Licht nicht unter den Scheffel stellen“ (vgl. Mt. 5: 15; Mk. 4: 21; Lk. 8: 16; 11: 33). Gemeint sind nicht bloß natürliche Begabungen, sondern unterschiedliche innere und äußere Faktoren als Ausgangssituation, die zur Erlangung des Seelenheils genutzt werden sollen. Im Kern handelt das Gleichnis vom anvertrauten Geld jedoch vom geistlichen Leben des Christen. Es beginnt mit der Taufe, durch die wir kraft der Gnade Gottes wieder in den Urzustand vor dem Sündenfall zurückversetzt werden – ohne Sünde, ohne Fehl und Makel. So wie eine unreife Frucht, die erst noch ihre Erntereife erlangen muss. Hervorzuheben ist hier besonders der befristete Status dieser Leihgabe, über deren Nutzung und Umgang dereinst Rechenschaft abgelegt werden muss.
Und hier rückt der menschliche Faktor ins Blickfeld, den nominelle Christen allzu gerne übersehen. Damit jene ein für allemal zugeteilte Gnade wirksam und gewinnbringend ist, muss der Mensch von sich aus etwas tun. Er hat dafür die Gebote – vor allem die beiden, an denen das gesamte Gesetz samt den Propheten hängt (s. Mt. 22: 37-40). Aber reicht hierfür die menschliche Vermögenskraft alleine aus?.. Diese Frage ist rhetorisch, denn wozu sonst wäre der Herr in die Welt gekommen (vgl. Joh. 15: 5)?!
Für die Teilhabe an der Errettung durch Jesus Christus erhält der Mensch die Gabe des Heiligen Geistes in Mysterium der Myronsalbung. Wie in unserem Gleichnis geschildert, gibt es „verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist“ (1. Kor. 4: 12). Deshalb ergeht an alle „Mitarbeiter Gottes“ in der heutigen Apostellesung der Aufruf, sich darum zu sorgen, dass sie die Gnade Gottes „nicht vergebens“ empfangen (2. Kor. 6: 1). Dieser Punkt ist absolut zentral, er macht das Wesen der neutestamentlichen Botschaft aus. Ohne ihn wäre das Evangelium Christi eine rein historische Erzählung ohne Relevanz in der Gegenwart, und das Christentum wäre ohne diesen Aspekt bloß ein moralisches Regelwerk, das zwar auf Erden unübertroffen ist, aber lediglich zur äußeren Beachtung dient.
Der Fokus jeglichen spirituellen Lebens ist aber auf die innere Vervollkommnung durch die Gnade des Heiligen Geistes gerichtet. Davon zeugt die gesamte Kirchengeschichte mit ihren ungezählten Märtyrern und Asketen, denen es zu keiner Zeit um die Verbesserung der äußeren Rahmenbedingungen ging (s. Lk. 17: 21). Bezeichnenderweise sind unter den heiliggesprochenen orthodoxen Herrschern zumeist solche, die nach sich politisch keine großen Spuren hinterließen, doch dafür ein heiliges Leben führten und dadurch ihren Untertanen den Weg in das Himmelreich wiesen. Militärische und zivilisatorische Großtaten der aus Geschichtsbüchern hervorstechenden Monarchen dienten hingegen meist nur zur Mehrung vergänglichen Ruhmes.
Wir dürfen also nicht vergessen, dass unsere Taufe „aus Wasser und Geist“ (Joh. 3: 5) zugleich „Startkapital“ und „Darlehen“ gewesen ist, die wir unserem Herrn „mit Zinsen und Zinseszins“ zurückerstatten müssen. Viele Christen machen es sich viel zu einfach, indem sie die Lehre Christi praktisch willkürlich auf zwei alttestamentliche Gebote reduzieren („nicht töten“, „nicht stehlen“). Dass die anderen Gebote von niemandem abgeschafft worden sind, scheinen sie vergessen zu haben. Erfahrungsgemäß reicht diese Minimalpositionierung schon aus, um von sich selbst mit dem Brustton der Überzeugung sagen zu können, sie seien „zutiefst gläubig“ (würde sich einer mit einem Repertoire, bestehend aus „Alle meine Entchen“ oder „Hänschen Klein“ Konzertpianist rühmen?). Aber auch eifrigen Christen kann es passieren, dass sie das eigentliche „Ziel“ leicht aus den Augen verlieren. Im Buch „Flavian“ fragt der Titelheld während der Besteigung des Berges Athos einen seiner Mitpilger, wie er sich denn das Paradies vorstelle. Dieser phantasiert von einem blühenden Garten und zwitschernden Vöglein, wo er seine Eltern und alle Verwandten und Freunde wieder trifft; zuletzt erinnert er sich noch an den Hund seiner Kindheit, der natürlich nicht fehlen darf. „Aber, hast du nicht jemanden vergessen?“ fragte Vater Flavian. - „Wen denn?“ - „Na Christus, selbstverständlich!“... - ER, Dessen Gnade wir „als Gottes Diener“ gegebenenfalls „durch große Standhaftigkeit, in Bedrängnis, in Not, in Angst, unter Schlägen, in Gefängnissen, in Zeiten der Unruhe, unter der Last der Arbeit, in durchwachten Nächten, durch Fasten, durch lautere Gesinnung, durch Erkenntnis, durch Langmut, durch Güte, durch den Heiligen Geist, durch ungeheuchelte Liebe, durch das Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit in der Rechten und in der Linken, bei Ehrung und Schmähung, bei übler Nachrede und bei Lob“ (2. Kor. 6: 4-8) vermehren sollen, darf weder im diesseitigen noch im jenseitigen Leben fehlen.
Eine Reise soll nicht nur schön und angenehm sein, sie muss auch ans Ziel führen. Damit wir dieses nicht aus den Augen verlieren, bietet uns der Kirchenkalender heute das Gleichnis von den anvertrauten Talenten an.
„Zur Zeit der Gnade erhöre Ich dich, am Tag der Rettung helfe Ich dir“ (2. Kor. 6: 2; Jes. 49. 8), spricht der Herr. Nutzen wir die Zeit der Gnade und den Tag der Rettung, um am letzten Tag nicht mit leeren Händen, zähneknirschend und heulend vor unserem Herrn zu stehen (s. Mt. 25: 28-30)
„Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung“ (2. Kor. 6: 2). Amen.