Predigt zum 19. Herrentag nach Pfingsten (2. Kor. 11: 31 – 12: 9; Lk. 5: 1-11) (11.10.2015)
Liebe Brüder und Schwestern,
der heute in der Kirche vorgetragene Abschnitt aus dem zweiten Korintherbrief ist einer der bemerkenswertesten Texte des Neuen Testaments. Der im Widerstreit mit seinen zahlreichen selbstherrlichen Opponenten liegende Apostel Paulus sieht sich in die Defensive gedrängt, so dass er zunächst seine Leiden und Mühen aufzählt und schließlich von seiner nächtlichen Flucht aus Damaskus kurz nach seiner Bekehrung erzählt. Interessant ist jedenfalls, dass sich der Apostel bei seiner Verteidigung nicht auf ihm zuteil gewordene Visionen und Offenbarungen beruft, sondern auf erlittenes Ungemach und eine alles andere als glorreiche Flucht in einem Korb durch ein Fenster in der Stadtmauer (s. 2. Kor. 11: 33, vgl. Apg. 9: 25). Es geht ihm – anders als seinen Widersachern – nicht darum, sich selbst zu rühmen, sondern seine Schwachheit herauszustellen, in der Gott allein verherrlicht wird (vgl. Ri. 7: 2).
Obwohl das Rühmen seiner selbst nach eigenem Bekunden nichts nützt, erzählt der Apostel aber dann doch von seinen „Erscheinungen und Offenbarungen“ (2. Kor. 12: 1), die ihm der Herr geschenkt hat. Allerdings spricht er hier, in aller Bescheidenheit, wie von einer anderen Person, einem „Diener Christi“ der vor vierzehn Jahren (also kurz vor Beginn seines Missionswerks) „bis in den dritten Himmel“ entrückt wurde. Der „erste Himmel“ war nach den Vorstellungen der Juden jener Zeit der Bereich der Wolken (die obere Erdatmosphäre), der „zweite Himmel“ umfasste den Bereich der Sonne und der Sterne (das Weltall) und der „dritte Himmel“ umfasste den Bereich, wo sich Gottes Thron befand – das „Paradies“. Paulus selbst weiß aber nicht, ob dies mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, doch er hörte dort unsagbare Worte, die ein Mensch nicht aussprechen kann (s. 12: 2-4). „Diesen Mann will ich rühmen; was mich selbst angeht, will ich mich nicht rühmen, höchstens meiner Schwachheit. Wenn ich mich dennoch rühmen wollte, wäre ich zwar kein Narr, sondern würde die Wahrheit sagen. Aber ich verzichte darauf; denn jeder soll mich nur nach dem beurteilen, was er an mir sieht oder aus meinem Mund hört“ (9: 5-6). Paulus bezeugt zwar die Wahrheit zur Bestätigung seines Apostelamts, bleibt jedoch selbst gleichsam im Hintergrund. Was nützt es auch, von Visionen zu reden, wenn es die Leute weder sehen noch hören können?! Sollen sie sich doch darüber ein Urteil bilden, was sie wirklich an Taten sehen und an Worten aus dem Munde des Apostels hören.
„Damit ich mich wegen der einzigartigen Offenbarungen nicht überhebe, wurde mir ein Stachel ins Fleisch gestoßen: ein Bote Satans, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Dreimal habe ich den Herrn angefleht, dass dieser Bote Satans von mir ablasse. Er aber antwortete mir: `Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit´. Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt“ (12: 7-9).
Wer ist dieser sonderbare „Bote des Satans“ oder was ist das für ein seltsamer „Stachel im Fleisch“, von dem die Korinther offenbar wussten, da der Apostel keine weiteren Ausführungen darüber für notwendig erachtet?.. Ein körperliches Gebrechen, verirrte Weggefährten, halsstarrige Stammesgenossen?
Die meisten Kommentatoren halten den „Stachel im Fleisch“ des Apostels für eine ihn ständig begleitende Krankheit, die ihn angesichts seines ohnehin nicht besonders beeindruckenden äußeren Erscheinungsbildes vor seinen überheblichen und selbstsüchtigen Gegnern unbedarft aussehen ließ. Möglich wäre zum Beispiel eine Neurasthenie, die ihm immer dann, wenn es darauf ankam, furchtlos für das Evangelium einzustehen, den Antrieb nahm und ihn in einen lethargischen Zustand versetzte. Die Meinungen gehen weit auseinander – manche tendieren zu Epilepsie, einem Augenleiden oder zu quälenden Erinnerungen an das frühere Leben, andere vermuten fleischliche Versuchungen (hl. Hieronymus), feindliche Verfolgungen (hl. Johannes Chrysostomos) oder bis an die physische und psychische Substanz gehende Leiden, denen der Apostel während seiner Missionsreisen ausgesetzt war (hl. Ambrosius).
Die einzige gesicherte Erkenntnis, über die wir verfügen, ist die, dass diese Prüfung erfolgte, damit der Apostel sich nicht überhebe (s. 12: 7). Damit ließe sich auch eine Parallele zur heutigen Evangelium-Lesung ziehen: Petrus, der gerade vom Herrn Selbst auf wundersame Weise zum Apostelamt berufen wurde, fällt Ihm zu Füßen und spricht: „Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder“ (Lk. 5: 8).
Daraus lässt sich die Erkenntnis ziehen, dass viele berufen, aber wenige auserwählt sind (s. Mt. 22: 14). Das Auserwählt sein definiert sich somit durch demütige Einsicht seiner eigenen Unwürdigkeit vor Gott, die in seiner Erwartungshaltung für sich nichts fordert (und schon gar nicht in Bezug auf Erscheinungen und Wundertaten!) und die sich selbst keinerlei Verdienst zuschreibt (s. Lk. 17: 10). Hier gilt immer das Wort: „Wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn. Denn nicht, wer sich selbst empfiehlt, ist anerkannt, sondern der, den der Herr empfiehlt“ (2. Kor. 10: 17-18, vgl. Joh. 15: 16; Apg. 15: 7). Solcherart sind die „Werkzeuge“, die für Sich zu erwählen es Gott gefallen hat, damit sie Seinen Namen „vor Völker und Könige und die Söhne Israels tragen“ (Apg. 9: 15). Je größer die Drangsal, desto größer also die Gnade Gottes. Und so ein auserwähltes Gefäß des Herrn wird immer von sich sagen können: „Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (12: 10). Gott sei Dank! Amen.