Predigt zum 5. Herrentag der Großen Fastenzeit / Hl. Maria von Ägypten (Hebr. 9: 11-14; Mk. 10: 32-45) (17.04.2016)
Liebe Brüder und Schwestern,
im Mittelpunkt unserer geistlichen Betrachtung am fünften Fastensonntag steht die hl. Maria von Ägypten (+522), eine vormalige Sünderin, die nach ihrer wundersamen Bekehrung ein knappes halbes Jahrhundert in der Wüste am Jordan lebte, wobei sie bis ein Jahr vor ihrem Ableben kein menschliches Wesen zu Gesicht bekommen hatte. Bei allem Staunen über den unvorstellbaren Entbehrungsreichtum in dieser lebensfeindlichen Umgebung, wollen wir uns jedoch – soweit für uns möglich – der inneren Seite ihres asketischen Lebens zuwenden. Welche uns inspirierenden Schlüsse können wir heute aus den uns übermittelten Fakten aus dem Leben der hl. Maria von Ägypten ziehen?
Klar, die Kraft der Buße bewirkt, dass die Gnade Gottes den Menschen zu wahrlich übernatürlichen Anstrengungen befähigt. Auch aus der Vita des hl. Simeon des Styliten (+459) ist z.B. überliefert, dass er als Säulensteher scheinbar alles Menschenmögliche unternommen hatte, um dem gekreuzigten Christus nachzueifern, doch nicht in äußeren Werken besteht der Sinn eines solchen Wirkens. Deshalb erschien ihm der Herr und sagte: „Grabe noch tiefer in deinem Inneren, Simeon!“ Daraufhin vermehrte der Heilige seine geistlichen Bemühungen zur Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit. Und so sollen auch wir verfahren, wenn wir wirklich Kinder Gottes sein wollen. Denn viel zu einfach tun wir die obligatorische Beichte während der Großen Fastenzeit als eine Art Ritual ab, ohne das das bevorstehende Osterfest in spiritueller Hinsicht für den Christen keinen seelischen Nutzen bringt. Vom formalen Standpunkt mag das, oberflächlich betrachtet, richtig sein. Aber lasst uns dabei alle miteinander weiter an unserer Oberfläche „graben“, denn es ist so leicht, selbstgenügsam festzustellen: „Ich bin kein Mörder, kein Dieb, bin meinem Ehepartner immer treu geblieben, helfe anderen, bin umgänglich und zuverlässig – kurzum, ich bin ein moralischer Mensch!“ - Vollkommen richtig! Nur, - waren das nicht auch die Schriftgelehrten und Pharisäer, welche trotz alledem die personifizierte Unschuld dem Kreuztode ausgeliefert hatten?!.. Oh ja, sie entsprachen den strengsten ethischen Normen, aber in spiritueller Hinsicht waren sie „wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber (waren) sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung“ (Mt. 23: 27). Womöglich für uns selbst unbewusst erscheinen auch wir „von außen den Menschen gerecht“, von innen können wir aber „voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz“ (23: 28) sein. Ich kann also jegliche menschliche Norm sogar übererfüllen und doch vor Gott mit leeren Händen dastehen. Es ist dann wie in der Schule: Themaverfehlung bedeutet Note „sechs“. Wie schlimm aber, wenn mir das erst am Tag des jüngsten Gerichts bewusst gemacht wird!
Trotz allem: äußere Werke sind notwendig und richtig (s. Mk. 9: 29). Aber was nutzt es mir, wenn ich mir in der Kirche die Beine in den Bauch stehe, mit den Gedanken aber ganz woanders bin?!.. Und dann komme ich nach Hause und bin überzeugt, dass ich drei Stunden lang gebetet habe... Oder wenn ich zu Hause brav meine Gebete lese, deren Sinn aber am Verstand und am Herzen vorbeigeht: welchen Nutzen habe ich dann davon?!.. Der selige Vassili fragte einst Zar Ivan Grozny: „Gebieter, wo warst du heute während der Liturgie?“ - „Wieso fragst du das? Hast du mich denn nicht an meinem üblichen Platz in der Kirche gesehen?“ - „Nein, Gebieter, du warst nicht in der Kirche, sondern auf den Hügeln an der Moskwa, wo du deinen neuen Palast errichten willst!“...
Also wollen wir unsere Anstrengungen in der letzten Fastenwoche intensivieren, aber uns dabei auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist: die Aufmerksamkeit und Aufrichtigkeit unserer Gebete vor Gott! Wir können aus einleuchtenden Gründen nicht so viel Zeit in das Gebet investieren wie die hl. Maria von Ägypten; was aber hindert uns daran, unser zeitlich limitiertes Flehen um Erbarmen umso inbrünstiger vor Gottes Thron heranzutragen (s. 1. Kor. 14: 19)?! Dann werden wir anhand des „Barometers“ aus dem Galaterbrief selbst feststellen, wie weit unser Leben im Geiste gediehen ist: „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung“ (5: 22-23). Aber sehr oft beklagen sich orthodoxe Christen über erhöhte Anfechtungen gerade während der Großen Fastenzeit in Form von Auseinandersetzungen in Familie, Kirchgemeinde, mit Kollegen und Nachbarn. Das ist nicht zufällig so, weil es gemäß Gottes Heilsplan keine Zufälle gibt. Diese unangenehmen und uns leicht aus dem seelischen Gleichgewicht bringenden Konfrontationen mit der Wirklichkeit unseres eigenen Innenlebens sind notwendige geistliche Arzneien, die uns bei „sachgemäßer Anwendung“ veranlassen, noch tiefer in unseren Herzen zu graben. Wir sollten also dankbar sein, statt an den äußeren Umständen zu verzweifeln oder sich über fremde menschliche Unzulänglichkeit aufzuregen. Denken wir an die beiden Räuber am Kreuz: einer von ihnen ging als erster Mensch überhaupt ins Paradies hinein, weil er die von ihm erlittene Qual als gerechte Strafe für seine Untaten empfand. Darin liegt die Quintessenz unserer spirituellen Hinwendung zu Gott: nichts, was Gott zulässt, ist ungerecht, sinnlos, bösartig – selbst wenn es aus irdischer Sicht so erscheinen mag. Wir müssen nur fest daran glauben, dass all diese Prüfungen winzige aber systemrelevante Bausteine in Gottes Masterplan zu unserer Errettung sind. Maria von Ägypten verzichtete auf eine billige Variante der Entsühnung und litt freiwillig Not in der Wüste. Wir wollen dafür wenigstens die uns gnädig herabgesandten Heilungsprozeduren bereitwillig annehmen und so zu immerhin entfernten geistlichen Verwandten unserer in Gott verherrlichten Vorbilder werden. Amen.