Predigt zum 6. Herrentag nach Ostern / Gedächtnis des Blindgeborenen (Apg. 16: 16-34; Joh. 9: 1-38) (05.06.2016)
Liebe Brüder und Schwestern,
am kommenden Mittwoch werden wir zum letzten Mal in diesem Jahr das „XPICTOC ANECTH“ singen, denn an diesem Tag endet das Gedenken an die Erscheinungen des Herrn im Kreise Seiner Jünger im Verlauf von vierzig Tagen (s. Apg. 1: 3) nach Seiner Auferstehung. Der letzte Sonntag der Osterzeit wird aber im Gedenken an die Heilung des Blindgeborenen zu Jerusalem begangen.
Die unterschiedliche Ausgangslage und die verschiedenartige Beschaffenheit der von der Kirche zwischen Ostern und Pfingsten liturgisch herausgehobenen Fälle der wunderbaren Heilungen aus dem Johannesevangelium deuten auf Gottes unerklärlichen Ratschluss hin. War beim Gelähmten am Schafstor der Zusammenhang zwischen seelischer Krankheit (Sünde) und körperlichem Gebrechen noch offensichtlich (s. Joh. 5: 14), und war das Aufdecken der Sünden der Samariterin zu Sichar noch ausschlaggebend für deren Bekehrung (s. Joh. 4: 17-18), so ist beim Blinden in Jerusalem explizit keine Korrelation zwischen Sünde und Behinderung auszumachen (s. Joh. 9: 2-3). Wir können nur immer wieder mit ehrfürchtigem Schweigen feststellen, dass Gottes Wirken keiner Einfassung in menschliche Kategorien unterliegt: - „Das Wirken Gottes muss an ihm offenbar werden“! Doch andererseits fügt der Herr hinzu: „Ich muss, solange es Tag ist, die Werke Dessen vollbringen, Der Mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann. Solange Ich in der Welt bin, bin Ich das Licht der Welt“ (Joh. 9: 4-5) – Der über allen Dingen Stehende erniedrigt Sich, wird einer von uns, begibt Sich uns zuliebe in die Abhängigkeit von irdischer Gesetzmäßigkeit; Er ist uns (die Sünde ausgenommen) gleich geworden, damit wir Seine Ähnlichkeit erlangen. Weiteres Indiz für diese vollkommene Einswerdung Gottes mit uns Staubgeborenen ist der Teig aus Speichel und Erde (s. Joh. 9: 6, vgl. Gen. 3: 19), mit dem der Herr die Augen des Blinden bestreicht. Nicht von ungefähr wurde dieser Abschnitt aus dem Johannesevangelium in frühchristlicher Zeit am Großen Samstag gelesen, an dem die Taufe zahlreicher Katechumenen stattfand. Der vorliegende einzige überlieferte Fall der Heilung eines von Geburt an Blinden eignet sich ja vorzüglich als Symbol der gesamten, in Finsternis befindlichen Menschheit vor der Ankunft Christi in diese Welt. Deshalb auch die Verdeutlichung: „Ich bin das Licht der Welt!“ oder, nach den Worten unseres Glaubensbekenntnisses, Christus ist das „Licht vom Licht“, weshalb die Taufe auch als „Erleuchtung“ bezeichnet wird. „Der Herr ist meine Erleuchtung und mein Retter: Wen sollte ich fürchten?“ (Ps. 26: 1). Somit bildet der Blindgeborene, ähnlich wie die Samariterin eine Woche zuvor, modellhaft die ganze Menschheit ab. Diese stellte am Brunnen des Stammvaters Israels das Volk Gottes dar, das zur Vereinigung mit Gott mit dem Band der Liebe berufen ist; jener steht für die im Schattenreich des Todes gefangene Menschheit, welche der Erscheinung des Lichtes harrt. Und Gott heilt die Menschen von ihrer geistlichen Blindheit, wozu Er aber das Mitwirken des Menschen benötigt und auch einfordert. Symbolhaft hierfür ist der Blindgeborene. Wer sich etwas in der antiken Topographie von Jerusalem auskennt, der weiß, dass das Schiloach-Becken außerhalb der Stadtmauern unter dem Tempelberg lag. Das dort aufgestaute Wasser ist durch die liturgischen Handlungen des Priesterdienstes geheiligt, was ebenfalls einen Hinweis auf die göttliche Gnade der Kirche nach Niedersendung des Heiligen Geistes darstellt. Christus, der „Gesandte“ (s. Joh. 9: 7, vgl. 3: 17), sendet Seinen Geist in die Welt (s. Joh. 16: 7). Wir Menschen müssen aber ein Sendungsbewusstsein entwickeln, das sich dieser Gnade als gebührend erweist. Der Blinde geht - und das wahrscheinlich ohne fremde Hilfe, denn es steht nichts davon, dass er von irgendjemandem geführt wird - aus der Stadt zum Teich Schiloach, wäscht sich – und kommt sehend zurück. Was lernen wir daraus? … Der Blinde bringt Christus das Vertrauen entgegen, das für den Empfang der göttlichen Gnade voraussetzend ist. Er murrt nicht, wie es z.B. der aramäische Feldherr Naaman zu Zeiten des Propheten Elischa tat (s. 4. Kön. 5: 11-14), sondern befolgt ohne nachzudenken die sinnlos erscheinende Anweisung des Herrn. Diese Grundbereitschaft zur Gefolgschaft erweist sich später als Grundlage für die bewusste Annahme des Glaubens und zum furchtlosen Bekenntnis – allen Widrigkeiten zum Trotz (s. Joh. 9: 30-33, 38).
Bleibt zu hoffen, dass die Öffnung der Augen des Blindgeborenen als Vorzeichen der Erleuchtung Vieler dient. Im Zustand geistlicher Umnachtung befinden sich heute alle, die noch nicht durch die Taufe erleuchtet worden sind, aber auch das absolute Gros der schon Getauften, welche 99,99% ihrer geistigen, physischen, zeitlichen und materiellen Ressourcen für das irdische Wohlergehen aufwenden. Entsprechend bringen sie, wenn überhaupt, nur einen kläglichen Rest ihrer Möglichkeiten als Investition für die Ewigkeit auf, zeigen sich aber dann verärgert, wenn auch Gott ihnen im Gegenzug Seine Hilfe nur in ebensolchen homöopathischen Dosen zukommen lässt. Für alle gibt es ein untrügliches Kriterium, das uns bei der geistlichen Standortbestimmung hilft: „Wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz“ (Lk. 12: 34). Wer also noch immer nicht kapiert hat, dass Gott uns für ein Leben nach dem Geist „aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht gerufen hat“ (1. Petr. 2: 9), der wird als Karteileiche in den verstaubten Niederungen des Kirchenregisters auch weiterhin tatenlos zuschauen, wie christliche Werte in unserer humanistischen Gesellschaft kontinuierlich und systematisch abgetragen werden. Er muss sich dann nicht wundern, wenn er am Tag der abschließenden Bestandsaufnahme durch Christus bestenfalls als Laufkundschaft durchgehen wird. Amen.