Der ehrwürdige Seraphim über den Sinn und Zweck eines christlichen Lebens

Vater Seraphim wurde oftmals von Mönchen und Nonnen aufgesucht, und es kamen auch Äbte zu ihm hin. Er legte ihnen dar, wie er die Pflichten eines Klostervorstehers auffasse.

"Ein Klosterabt muß die Heilige Schrift in- und auswendig kennen: er muß Tag und Nacht aus dem Göttlichen Gesetz lernen" dann wird er über Gutes und Böses urteilen können. Ein Glaubenseiferer wird nur dann wirklich erkennen, was gut und schlecht ist" wenn er vorauszuahnen vermag" was künftig Abscheu erregen oder aber die ewige Seligkeit verheißen wird. Weiß der Mensch Gutes und Schlechtes nicht auseinanderzuhalten, wird er den Versuchungen durch den Bösen ausgeliefert sein. Daher muß ein Abt als Hirte seiner Schafe Urteilsgabe besitzen, auf daß er einem jeden, der seine Belehrungen erwartet" nützliche Ratschläge erteilen könnte. Denn wie sagt doch gleich Petrus der Damaszener: nicht jeder vermag einen guten Rat zu geben, wer aber von Gott die Urteilskraft empfangen hat und eifrig für den Glauben dient" wird mit der Zeit großen Scharfblick bekommen. Ein Vorsteher muß auch weitsichtig sein, auf daß er anhand vergangener und heutiger Dinge auch die Zukunft erahnen und feindliche Ränke voraussehen könne. Ein Vorsteher muß seine Untergebenen lieben" denn wie der hl. Johannes Klimakos sagte "bezeuge ein wahrer Hirte seiner Herde Liebe. Denn aus Liebe zu den Menschen habe sich der Oberste Hirte ans Kreuz schlagen lassen".

Vater Seraphim hat nicht nur die Mönche und Nonnen geistlich belehrt" er hat auch die einfachen Gläubigen vieles gelehrt" hat ihnen irrige Vorstellungen genommen und sie zu großer Frömmigkeit angehalten. So hatte ein Geistlicher eines Tages einen Seminarprofessor zu Vater Seraphim mitgebracht. Dieser wollte nicht so sehr die Worte des Starez hören, als vielmehr um dessen Segen bitten" weil er Mönch werden sollte. Vater Seraphim erteilte ihm seinen Segen, ging auf dessen Wunsch, Mönch zu werden, aber nicht weiter ein, denn er hatte sich mit dem Geistlichen in ein Gespräch vertieft. Der Professor stand etwas abseits und hörte ihren Worten zu. Der Geistliche war während der Unterhaltung wiederholt bemüht, auf die Ursache des Besuches des Gelehrten zu sprechen zu kommen. Aber der Starez wich diesem Gegenstand absichtlich aus, setzte das Gespräch fort und ließ nur ein einziges Mal wie nebenbei die Bemerkung fallen: "Müßte der Professor nicht noch etwas hinzulernen?" Der Geistliche versicherte, der Seminarprofessor kenne den Orthodoxen Glauben, worauf ihm der Starez erwiderte: "Auch ich weiß, daß er sehr gute Predigten schreibt. Aber andere zu lehren, ist genauso so leicht, als wurfe man von einem Kirchturm Steinchen auf die Erde. Befolgt man aber selbst alles, was man lehrt, so kommt einen das ebenso schwer an, als müßte man selbst die Steinchen auf den Kirchturm hinauftragen. Sehen Sie den gewaltigen Unterschied - andere lehren oder etwas selbst ausführen?" Zum Schluß riet er dem Professor, er solle sich einmal die Geschichte des hl. Johannes von Damaskus durchlesen, dann werde er sehen" was er noch hinzulernen müsse.

 

Einmal kamen vier Altgläubige zu Vater Seraphim und versuchten weiszumachen, nur das Bekreuzigen mit zwei Fingern sei wirklich richtig. Sie hatten kaum die Schwelle der Klosterzelle überschritten und waren noch gar nicht recht zu W orte gekommen" da trat der Starez zu ihnen hin" faßte den ersten von ihnen bei der rechten Hand legte" wie es in der Orthodoxen Kirche so üblich ist; drei Finger zusammen und bekreuzigte ihn. Dabei sprach er folgende Worte: "Nur so bekreuzigt sich ein wahrer Christ! Und nun gehet, und sagt das auch den anderen! So haben es uns die heiligen Apostel geboten; das Bekreuzigen mit zwei Fingern läuft jedoch den heiligen Vorschriften zuwider. Ich flehe euch an, gehet in eine griechisch - russische Kirche: sie weiß Gottes Stärke zu rühmen! Wie ein Schiff, das viel Takelwerk, Segel und ein großes Ruder hat, wird sie von dem Heiligen Geist gesteuert. Ihre verläßlichen Steuerleute sind Kirchenlehrer, und die Erzpriester sind im Grunde genommen die Nachfolger der Apostel. Eure Kapelle aber gleicht einem kleinen Boot, hat weder ein Steuer noch Ruder, es ist am Schiff unserer Kirche vertäut, schwimmt hinter ihr her, wird von Wogen über flutet und würde unweigerlich untergehen, wäre es nicht am Schiff festgemacht."

Iwan Karatajew hat über die Belehrungen, die er persönlich von Vater Seraphim erhalten hatte, folgendes berichtet: "Im Oktober 1830 hatte man mich aus dem Kursker Gouvernement, wo unser Regiment einquartiert war, auf eine Dienstreise geschickt. Noch in Kursk selbst und unterwegs war mir zu Ohren gekommen, welche Großtaten die Mönche Nasarij und Mark des Einödklosters zu Sarow vollbracht hatten. Besonders viel wurde mir jedoch von dem Mönchspriester Seraphim, einem eifrigen Glaubensstreiter dieses Klosters, erzählt... Diese Erzählungen hatten mir derart das Herz erwärmt, so daß ich beschloß, ich werde unbedingt einen Abstecher nach Sarow machen. Als ich aber schon dicht bei dem Einödkloster angelangt war, da begann ich mich plötzlich vor dem großen Scharfblick des Starez Seraphim zu fürchten. Mir schien, er werde mich unbedingt aller meiner Sünden überführen, insbesondere, was meine irrige Auffassung von der Verehrung heiliger Ikonen anging. Denn ich vermeinte, ein von der Hand eines vielleicht sündigen Menschen gemaltes Heiligenbild könne Gott nicht gefällig sein, folglich könne es nicht den wundertätigen Göttlichen Segen ausstrahlen und nicht Gegenstand unserer ehrfürchtigen Verehrung sein. Aus Kleinmut und aus Angst, der scharfsinnige Starez werde mich entlarven, fuhr ich dann an dem Einödkloster von Sarow vorüber.

Im darauffolgenden Jahr, das war im Monat März, als unsere Truppen zur polnischen Grenze unterwegs waren, kehrte ich in mein Regiment zurück. Mein Weg führte mich wiederum am Einödkloster von Sarow vorbei. Nun aber entschloß ich mich auf meines Vaters Anraten" bei Vater Seraphim vorzusprechen...

Vater Seraphim segnete mich mit seinem kupfernen Kreuz, das er auf der Brust zu hängen hatte. Und nach dem er mich geküßt hatte, begann er mir selbst meine Sünden aufzuzählen, als hätte ich sie in seiner Gegenwart begangen. Zum Schluß dieser tröstlichen Beichte sagte er mir: "Man darf nicht der Angst unterliegen, die der Teufel den jungen Leuten einjagt, sondern muß seelisch stark sein, den Kleinmut abschütteln und eines bedenken: wenn wir auch sündig sind, so befinden wir uns doch alle unter dem Segen unseres Erlösers, ohne dessen Willen uns kein einziges Härchen auf unserem Kopf gekrümmt wird". Danach sagte er mir auch, daß ich hinsichtlich der Verehrung der heiligen Ikonen einem Irrtum verfallen sei. "Es ist schlimm und schädlich für uns, wenn wir in die Göttlichen Geheimnisse eindringen wollen, denn der schwache menschliche Verstand kann sie nicht erfassen. Er kann es nicht begreifen, wie Gottes Segen vermittels der heiligen Ikonen auf uns einwirkt, wie er sündige Menschen, wie wir es beide sind, genesen läßt,- fügte er hinzu, - und nicht nur den Leib, sondern auch die Seele. So haben also auch Sünder in dem Glauben, sie seien von der Gnade Christi erfüllt, Rettung gefunden und das ewige Leben erlangt". Dann sagte er zur Bestätigung, daß die Heiligenbilder zu verehren seien, "bereits im Alten Testament habe es an der Bundeslade goldene Cherubim gegeben, und der neutestamentliche Evangelist Lukas habe ein Gottesmutterbild gemalt, und auch der Heiland selbst habe Sein nicht von Menschenhand erschaffenes Bildnis hinterlassen". Und zuletzt meinte er noch, "man dürfe nicht auf solche lästerlichen Gedanken verfallen, denn am Tage des Jüngsten Gerichtes erwarte den Lügner die ewige Verdammnis".

Des weiteren sagte er, "die Versuchungen des Teufels seien wie ein Spinngewebe; man brauche es nur einmal anzublasen - und sofort werde es zerreißen; bei dem Erscheinen des Bösen brauche man nur ein Kreuz zu machen - und alle seine Ränke werden machtlos... alle Heiligen waren Versuchungen ausgesetzt, aber es sei wie mit dem Golde, je länger es im Feuer liege, desto reiner werde es. Auch die Heiligen seien durch Versuchungen weiser und lauterer geworden, haben den Schöpfer versöhnlich gestimmt und sich Christus genähert, um dessen Liebe willen sie geduldet haben". Und schließlich wiederholte er mehrmals, "wir haben, wie der Erlöser sagte, auf einem schmalen Pfad in Gottes Reich einzugehen". Als ich Vater Seraphim so sprechen hörte, vergaß ich gänzlich mein irdisches Dasein.

Als ich von Vater Seraphim fortging, legte ich neben ihn drei Silberrubel für Kerzen hin. Aber der böse Widersacher... gab mir den Gedanken ein: wozu braucht der heilige Vater eigentlich Geld? Dieser Gedanke machte mich ganz betroffen, und flugs wollte ich dafür bei Vater Seraphim Abbitte tun. Ich trat mit einem Gebet in seine Zelle hinein, er aber, als hätte er meine Absicht erahnt, erzählte mir folgendes Gleichnis: "Während des Krieges mit den Galliern hatte ein Feldherr seine rechte Hand zu verlieren. Aber diese Hand hatte einst einem Eremiten drei Münzen für die heilige Kirche gegeben, und Gott der Herr erhörte die Gebete und rettete die Hand. Das merke dir gut, und bereue künftig nicht deine guten Taten. Dieses Geld wird der Kirchengemeinde Diwejewo und deiner Gesundheit zugute kommen". Danach nahm mir Vater Seraphim noch einmal die Beichte ab, küßte und segnete mich. Er gab mir ein paar Oblaten zu essen und goß mir heiliges Wasser in den Mund. Dabei sagte er: "Möge der böse Geist, der den Gottesknecht Ioann in Versuchung führen wollte, durch die Gnade des Herrn entweichen".

Zu dem Starez kamen aber auch Leute, die keinen geistlichen Trost suchten, sondern lediglich ihre Neugierde befriedigen wollten. So vermeinte ein Klosterbruder von Sarow, das Ende der Welt sei nicht mehr fern, und es breche bald der große Tag der Wiederkunft des Herrn zum Jüngsten Gericht an. Daher wollte er sich bei Vater Seraphim Rat holen. Der Starez gab ihm jedoch demutsvoll zur Antwort: "Mein Lieber! Da erwartest du von dem armen Seraphim zuviel. Woher soll ich denn wissen, wann das Ende der Welt naht und der große Tag anbricht, da der Herr die Lebenden und die Toten richten und jedem geben wird, was er verdient hat? Nein, das kann ich wirklich nicht wissen... Der Herr hat mit Seinem allreinen Mund gesprochen: "Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand auch die Engel nicht im Himmel auch nicht der Sohn sondern allein der Vater. Denn wie es in den Tagen Noahs war, so wird auch sein das Kommen des Menschensohnes. Denn wie sie waren in den Tagen vor der Sintflut - sie aßen sie tranken, sie freiten und ließen sich freien bis an den Tag, da Noah in die Arche hineinging, und sie achteten es nicht, bis die Sintflut kam und nahm sie alle dahin so wird auch sein das Kommen des Menschensohnes" (Mt 24, 36-39). Dabei entrang sich seiner Brust ein tiefer Seufzer, und er sagte: "Wir, die wir auf Erden leben, sind oftmals vom rettenden Weg abgewichen; wir erzürnen den Herrn, weil wir die heiligen Fasten nicht einhalten - heute essen die Christen selbst während der Großen Fasten Fleisch. Aber der Herr zürnt uns nicht gänzlich, denn er ist gnädig. Wir haben den Orthodoxen Glauben und eine Kirche ohne Makel. Daher wird Rußland immer ruhmreich und für die Feinde furchtgebietend sein, wird es unüberwindbar sein, denn es hat zu seinem Schutz den Glauben und die Frömmigkeit und die Wahrheit."

Einem Mönch von Sarow offenbarte Vater Seraphim ein großes Geheimnis - er erzählte, wie er einmal in himmlische Regionen entführt wurde. Als ein anderer Mönch das erfuhr, wollte er sich ebenfalls den Starez anhören und ging zu ihm hin. Aber er hatte den Mund noch nicht aufgetan, da gebot ihm der Starez zu schweigen. Und sofort begann er ihm die Geschichte der Propheten, der Apostel der heiligen Väter und Märtyrer mit einfachen W orten zu erzählen. Er schilderte deren Großtaten und Leiden, ihren festen Glauben und ihre flammende Liebe zu dem Erlöser, dessen Wege sie stets gegangen waren, und ein jeder hatte sein Kreuz getragen um der Errettung willen. Er erwähnte auch, welche Wundertaten sie durch Gottes Gnade zum Ruhme des Herrn vollbracht hatten. Er sagte, alle Heiligen, welche die Christuskirche verherrlicht, haben uns nach ihrem Tode ihr Leben als nachahmenswertes Beispiel hinterlassen. Sie hatten die Christlichen Gebote ganz genau, von ganzem Herzen eingehalten. Da, durch erreichten sie Vollkommenheit und Rettung und wurden von dem Heiligen Geist mit verschiedenen Gaben begnadet. Wie unser Erlöser selbst sagte, sei es für einen Christen nicht schwer, sich an die Christlichen Gebote zu halten, nur muß man im Geiste und mit dem Munde ständig zu Jesus beten, muß man immer das Leben und die Qualen unseres Herrn Jesus Christus vor Augen haben, der aus Liebe zu den Menschen den Tod am Kreuze erlitten hat. Zugleich muß man sein Gewissen reinigen und seine Sünden beichten und das Heilige Abendmahl empfangen.

"Mein Lieber, ich bitte dich, stimme deine Seele friedlich!" - sagte Vater Seraphim zu dem Mönch und erklärte ihm auf der Stelle, wie das zu erreichen sei. Man muß sich in einen Zustand versetzen, damit sich unser Geist und unsere Seele über nichts empören. Man muß gleichsam tot oder völlig taub und blind sein, will man alle Kränkungen und Verleumdungen, die unausbleiblich alle ereilen, welche die rettenden Wege des Herrn gehen wollen, nicht hören und sehen. Denn durch viele Kränkungen werden wir in das Himmelreich eingehen. So haben sich alle rechtschaffenen Menschen gerettet und das Himmelreich erlangt; vor Ihm aber ist der ganze Ruhm dieser Welt ein Nichts; alle irdischen Genüsse sind nicht zu vergleichen mit dem, was uns der liebende Gott in den höheren Regionen bereitet hat; nur dort finden wir ewige Freude und unser Heil. Damit sich unsere Seele nach dorthin aufschwingen und des wonniglichen Gesprächs mit dem Herrn teilhaftig werden könne, muß man unaufhörlich beten und des Herrn gedenken.

"Ach, wenn du wüßtest,- sagte der Starez zu dem Mönch,- welche Freude, welche Wonne die Seele des Rechtschaffenen im Himmel erwarten, würdest du alle Kränkungen, Verfolgungen und Verleumdungen in deinem zeitweiligen Leben ohne zu murren dankbar ertragen. Wäre diese Zelle hier voller Würmer und würden diese Würmer während unseres ganzen vorübergehenden Aufenthaltes hier auf Erden unser Fleisch fressen, so muß man gern darin einwilligen, um ja nicht der himmlischen Freude verlustig zu gehen, die Gott denjenigen bereitet hat, die ihn liebhaben. Dort gibt es weder Krankheiten noch Trübsal noch ein Seufzen; dort herrschen nur unaussprechliche Freude und Wonne; dort erstrahlen die Recht schaffenen wie die Sonne.

Wie viele andere beendete Vater Seraphim auch dieses Gespräch mit den Worten, für sein Seelenheil zu sorgen, solange es noch Zeit ist.

Jahr:
1990
Herausgegeben:
Orthodoxes Leseheft 1990 2